RS Vfgh 2022/3/7 V85/2021

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Veröffentlicht am 07.03.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)

Norm

B-VG Art118 Abs6
B-VG Art139 Abs1 Z1
Bgld GemeindeO 2003 §59
Bgld BauG 1997 §13
ABGB §364, §422
Bgld FeldschutzG §6
StVO 1960 §91
GrundstückspflegeV der Marktgemeinde Bernstein vom 22.03.2019 §4 Abs1 Z2
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß der Verpflichtung des Eigentümers zur Pflege von Pflanzen auf seinem Grundstück nach einer ortspolizeilichen Verordnung einer burgenländischen Gemeinde; hinreichende Ermittlung der das örtliche Gemeinschaftsleben störenden Missstände im Hinblick auf die – lediglich bestimmte Widmungsarten treffende – Verpflichtung zur Grundstückspflege; keine grundsätzlich abschließende gesetzliche Regelung der Materie zur Beseitigung des kommunalen Missstands ersichtlich

Rechtssatz

Abweisung eines Antrags des Landesverwaltungsgerichts Burgenland (LVwG) auf Aufhebung des §4 Abs1 Z2 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Bernstein vom 22.03.2019, Z26/2019, betreffend die Verpflichtung zur Grundstückspflege.

Eine ortspolizeiliche Verordnung kann nur bei Vorliegen eines konkreten kommunalen Missstandes zum Gesetz hinzutreten. Zu erwartende oder bestehende Missstände müssen von der verordnungserlassenden Behörde gemäß der Judikatur des VfGH jeweils ermittelt und nachgewiesen.

Zunächst geht aus dem der angefochtenen Verordnung zugrunde liegenden - wenn auch knappen - Aktenmaterial hervor, dass sich in der Marktgemeinde Bernstein "Beschwerden wegen mangelnder Grundstückspflege" gehäuft hätten; §13 Bgld BauG wurde in diesem Zusammenhang als praktisch nicht ausreichend angesehen und daher die Erlassung einer entsprechenden ortspolizeilichen Verordnung in Aussicht genommen, um "gewisse Kriterien, wie ein Baugrundstück ortsüblich auszusehen hat, fest[zu]legen". In der Folge wurde dem Gemeinderat ein Entwurf einer solchen Verordnung zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt.

In ihrer Äußerung verweist die verordnungserlassende Behörde nachvollziehbar auf die durch ungepflegte Grundstücke bewirkte Schädlingsgefahr als das örtliche Gemeinschaftsleben störenden Missstand. Insgesamt ergibt sich, dass die Marktgemeinde Bernstein im Rahmen ihrer freien Selbstbestimmung nachvollziehbar von einem Missstand iSd Art118 Abs6 B-VG durch die mit der angefochtenen Verordnung bekämpften unerwünschten Bewuchsformen im Ortsgebiet - durch Vermehrung typischerweise unerwünschter Pflanzenarten ("Unkraut"), Anziehung von Kleintieren bzw Insekten sowie sonstigen Lästlingen und ästhetischen Beeinträchtigungen - sowie damit verbundenen direkten bzw indirekten wirtschaftlichen oder sonstigen Nachteilen ausgeht, die in ihrer Gesamtheit das örtliche Gemeinschaftsleben stören. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Pflicht zur Beseitigung von Wildwuchs nach der angefochtenen Verordnung nur für Grundstücke gilt, die gemäß deren §1 Abs2 im Flächenwidmungsplan als Bauland, Verkehrsfläche, Vorbehaltsfläche oder Grünfläche ohne land- und forstwirtschaftliche Nutzung ausgewiesen sind.

Wenn das LVwG unter Hinweis auf die Entscheidung VfSlg 11753/1988 vorbringt, dass "die invasive Verbreitung von gebietsfremden (Nackt-)Schneckenarten das ganze Bundesgebiet in massiver Form betrifft und damit kein spezifisches Problem der Gemeinde Bernstein darstellt", geht dieses Bedenken ins Leere, zumal eine für eine Gemeinde spezifische Missstandssituation nicht ausschließt, dass dieser Missstand auch andere Gemeinden betrifft. Die angefochtene Verordnung zielt im Übrigen in ihrer Gestaltung auch nicht auf individuelle Personen ab, sondern umschreibt den Adressatenkreis generell.

Schließlich geht die angefochtene Verordnung auch über bestehende Bundes- oder Landesgesetze hinaus. Die angefochtene Wortfolge in §4 Abs1 Z2 der ortspolizeilichen Verordnung geht insoweit über §13 Bgld BauG hinaus, als diese Bestimmung lediglich auf "Grundstücke im Bauland" abstellt. §6 des Burgenländischen Feldschutzgesetzes - Bgld FeldschutzG gilt hingegen bloß für "landwirtschaftliche[] Grundstücke". §91 der Straßenverkehrsordnung 1960 - StVO hat letztlich allein zum Ziel, auf Grundstücken neben Straßen befindliche Bäume und Einfriedungen, "welche die Verkehrssicherheit, insbesondere die freie Sicht über den Straßenverlauf oder auf die Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs oder welche die Benützbarkeit der Straße einschließlich der auf oder über ihr befindlichen, dem Straßenverkehr dienenden Anlagen [...] beeinträchtigen, auszuästen oder zu entfernen".

Der VfGH teilt daher das Bedenken des LVwG nicht, "dass bereits ein ausreichendes gesetzliches Instrumentarium besteht, tatsächlichen 'Missständen' - hervorgerufen durch den Überhang von Bäumen oder Sträuchern - Herr zu werden" bzw "[für] aus §4 Abs1 Z2 dieser Verordnung zusätzliche (unter dieser Schwelle) ableitbare Verpflichtungen zur Auslichtung von Bäumen, Hecken und Sträuchern [...] kein Grund ersichtlich [sei], worin dadurch ein das örtliche Gemeinschaftsleben störender Missstand behoben werden soll". Eine grundsätzlich abschließende gesetzliche Regelung der Materie unter den maßgeblichen Regelungsgesichtspunkten ist - in Bezug auf den vorliegenden konkreten kommunalen Missstand - nicht ersichtlich.

Im Hinblick auf die zivilrechtlichen Regelungen im Bereich des Nachbarrechtes in §§364 und 422 ABGB weist das LVwG zu Recht darauf hin, dass solche Regelungen in einer ortspolizeilichen Verordnung grundsätzlich unzulässig sind. Gemäß §3 Abs4 der angefochtenen Verordnung sollen Rechte und Pflichten zivilrechtlicher Natur durch die Verordnung unberührt bleiben, wobei dieser Verweis im Allgemeinen bleibt. Der auf den Überhang von Bäumen oder Sträuchern abstellende Teil der angefochtenen Wortfolge in §4 Abs1 Z2 der ortspolizeilichen Verordnung ("[...] überhängende Teile zumindest bis zur Grundstücksgrenze zu kürzen [...]") enthält aber keine Regelung zivilrechtlichen Inhaltes, sondern statuiert vielmehr eine - die bestehenden zivilrechtlichen Regelungen des Nachbarrechtes in einem eng abgegrenzten Bereich ergänzende - öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Grundstückspflege.

Zudem geht das Bedenken des LVwG, dass ein von Bewohnern konsequent eingesetzter zivilrechtlicher Schutz einen bestimmten Missstand allenfalls hintanhalten könnte, schon deswegen ins Leere, weil die Gemeinde die Bewohner zur Ergreifung solcher zivilrechtlicher Mittel nicht verpflichten kann, wobei im Übrigen der von der angefochtenen Verordnung bekämpfte Missstand nicht ausschließlich in Einwirkungen besteht, die zwischen Nachbarn iSd §364 ABGB untereinander auftreten.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Verordnung ortspolizeiliche, Ermittlungsverfahren, Nachbarrechte, Gemeinderecht, Straßenverwaltung, Zivilrecht, Flächenwidmungsplan, Baurecht, VfGH / Gerichtsantrag, Verwaltungsstrafrecht, Wirkungsbereich eigener, Sicherheitspolizei örtliche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:V85.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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