TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/24 Ra 2020/08/0129

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Veröffentlicht am 24.02.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §10 Abs1
AlVG 1977 §8 Abs2
AlVG 1977 §9 Abs1
AlVG 1977 §9 Abs2
AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §45 Abs3
AVG §46
AVG §52
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §25
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des Arbeitsmarktservice Oberwart, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juli 2020, W260 2207960-1/8E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: R H in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 26. Juni 2018 stellte die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberwart (AMS) fest, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 13. Juni 2018 bis 7. August 2018 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe eine ihm zugewiesene zumutbare Beschäftigung als Maurer bei der - im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung tätigen - V-GmbH nicht angenommen. Dem Bescheid vorangegangen waren eine Mitteilung der potentiellen Dienstgeberin an das AMS sowie eine niederschriftliche Einvernahme des Mitbeteiligten.

2        Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 11. September 2018 teilweise statt und verkürzte den Anspruchsverlust auf den Zeitraum von 25. Juni 2018 bis 5. August 2018.

3        Begründend führte das AMS zusammengefasst aus, dem Mitbeteiligten sei am 12. Juni 2018 ein Vermittlungsvorschlag für eine Stelle als Maurer übermittelt worden. Die potentielle Dienstgeberin habe den Mitbeteiligten bereits am 13. Juni 2018 - noch vor Zustellung des Vermittlungsvorschlags - telefonisch kontaktiert und ihm bekanntgegeben, Arbeitsbeginn sei am folgenden Tag (14. Juni 2018). Der Mitbeteiligte habe entgegnet, dass er aufgrund eines Termins bei der Schuldnerberatung erst am 18. Juni 2018 zu arbeiten beginnen könne. Nach einer ersten Absage habe die potentielle Dienstgeberin den Mitbeteiligten am 21. Juni 2018 erneut telefonisch kontaktiert und eine Arbeitsaufnahme am 25. Juni 2018 vereinbart. Im Zuge des Gesprächs habe sich der Mitbeteiligte nach dem Ort der Baustelle erkundigt und anschließend nach einem Firmenwagen oder einer Mitfahrgelegenheit. Die potentielle Dienstgeberin habe diesbezüglich den Mitbeteiligten auf die Beschäftigerfirma vor Ort verwiesen, woraufhin dieser abgelehnt habe, 40 Minuten mit dem eigenen PKW zur Baustelle zu fahren.

4        In seiner Beschwerde und seinem Vorlageantrag wandte sich der Mitbeteiligte u.a. gegen die Sachverhaltsannahmen des AMS und stellte in Abrede, gesagt zu haben, keine 40 Minuten mit dem eigenen Auto zur Baustelle fahren zu wollen. Er gab eine beim Telefonat anwesende Zeugin bekannt, die seine Angaben bestätigen könne. Er habe die Annahme der Beschäftigung nicht verweigert.

5        Mit dem angefochtenen - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und hob die Beschwerdevorentscheidung ersatzlos auf. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

6        Das Bundesverwaltungsgericht stellte u.a. fest, die zugewiesene Tätigkeit sei für den Mitbeteiligten nicht zumutbar. Darüber hinaus sei das Verhalten des Mitbeteiligten nicht ursächlich für das Nichtzustandekommen der angebotenen Beschäftigung gewesen.

7        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zur Frage der Zumutbarkeit aus, der Mitbeteiligte habe im Jahr 2016 einen Bruch des linken Oberarms erlitten, aufgrund dessen er den Arm nicht mehr richtig hätte heben können. Das AMS habe aufgrund dieser Einschränkungen eine amtsärztliche Untersuchung bei der PVA veranlasst, wobei das erstellte Gutachten - und dessen Inhalt - vom Bundesverwaltungsgericht „nicht in Erfahrung gebracht“ werden könne. Der Inhalt des Gutachtens sei allerdings aus beweiswürdigender Sicht für das Ergebnis irrelevant, weil es offenkundig sei, dass der Mitbeteiligte aufgrund des Unfalls gesundheitliche Einschränkungen erlitten habe, die auch im verfahrensgegenständlichen Zeitraum bestanden hätten.

8        Aufgrund der Unzumutbarkeit der zugewiesenen Stelle erübrige sich eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Verhalten des Mitbeteiligten ursächlich für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen sei. Der Vollständigkeit halber werde aber ausgeführt, der Mitbeteiligte erwecke einen glaubwürdigen Eindruck und daher könne nicht angenommen werden, dass er - wie vom AMS festgestellt - gegenüber der potentiellen Dienstgeberin die Aussage getroffen habe, keine 40 Minuten zur Arbeit fahren zu wollen. Er habe daher das Zustandekommen der ihm zugewiesenen Beschäftigung nicht schuldhaft vereitelt.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die (außerordentliche) Revision des AMS, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

10       Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts weiche aufgrund fehlender Feststellungen zum Sachverhalt - insbesondere zu den konkreten gesundheitlichen Einschränkungen des Mitbeteiligten und zum Ablauf des zweiten mit der potentiellen Dienstgeberin geführten Telefongesprächs - von der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.

11       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12       Nach § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer unter anderem bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Eine Beschäftigung ist gemäß § 9 Abs. 2 AlVG u.a. nur dann zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist sowie seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet.

13       Nach § 8 Abs. 2 AlVG sind Arbeitslose (u.a.) dann, wenn zu klären ist, ob bestimmte Tätigkeiten ihre Gesundheit gefährden können, verpflichtet, sich ärztlich untersuchen zu lassen. Die Untersuchung, ob bestimmte Tätigkeiten die Gesundheit einer bestimmten Person gefährden können, hat durch einen geeigneten Arzt oder eine geeignete ärztliche Einrichtung zu erfolgen.

14       Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen - bzw. unter näher umschriebenen Voraussetzungen acht Wochen - den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

15       Der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG wird nur verwirklicht, wenn es sich um eine zumutbare und damit für die Zuweisung geeignete Beschäftigung handelt (vgl. VwGH 28.1.2015, 2013/08/0176, mwN).

16       Gemäß § 38 AlVG sind diese Bestimmungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

17       Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die zugewiesene Beschäftigung als Maurer dem Mitbeteiligten aus gesundheitlicher Sicht offenkundig - aufgrund seines Oberarmbruchs im Jahr 2016 - unzumutbar gewesen sei. Das als Ergebnis der vom AMS veranlassten Untersuchung erstellte ärztliche Gutachten der PVA aus dem Jahr 2016, in dem Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit des Mitbeteiligten nach seinem Unfall getroffen wurden, hat das Bundesverwaltungsgericht dabei unberücksichtigt gelassen und auch kein neues gerichtliches Sachverständigengutachten eingeholt. Ebenso wenig hat eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen der zugewiesenen Stelle stattgefunden.

18       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hätte das Bundesverwaltungsgericht bei Zweifeln über die Zumutbarkeit der zugewiesenen Beschäftigung - weil diese die Gesundheit des Mitbeteiligten gefährden könnte - in Entsprechung des § 8 Abs. 2 AlVG grundsätzlich ein ärztliches Sachverständigengutachten über den Gesundheitszustand des Mitbeteiligten einholen müssen und auf Grund des ermittelten Leistungskalküls die Frage zu klären gehabt, ob dieser den Anforderungen der ihm zugewiesenen Beschäftigung gewachsen gewesen wäre (vgl. VwGH 14.1.2019, Ra 2018/08/0240).

Allenfalls hätte auch das Gutachten der PVA aus dem Jahr 2016 der Beurteilung zugrunde gelegt werden können.

19       Da das Bundesverwaltungsgericht demnach seine rechtliche Schlussfolgerung, dass die zugewiesene Beschäftigung dem Mitbeteiligten gemäß § 9 Abs. 2 AlVG aus gesundheitlicher Sicht unzumutbar war, auf einen unzureichend ermittelten Sachverhalt gegründet hat, hat es maßgebliche Verfahrensvorschriften verletzt.

20       Wie die Revision zutreffend aufzeigt, leidet das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts auch hinsichtlich der Alternativbegründung an einem relevanten Begründungsmangel.

21       Das Bundesverwaltungsgericht hat - entgegen der vom AMS vertretenen Ansicht - festgestellt, dass der Mitbeteiligte während des Telefongesprächs mit dem Vertreter der potentiellen Dienstgeberin am 21. Juni 2018 kein Verhalten im Sinne des § 10 Abs. 1 AlVG gesetzt und er somit das Zustandekommen der zugewiesenen Beschäftigung nicht vereitelt habe. In beweiswürdigender Hinsicht führte es aus, aufgrund der glaubwürdigen Angaben des Mitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung könne die vom AMS festgestellte Vereitelungshandlung - insbesondere die angeblich getätigte Aussage des Mitbeteiligten, wonach er keine 40 Minuten mit dem privaten PKW zur Arbeit fahren wolle - ausgeschlossen werden. Der Gesprächspartner des Mitbeteiligten wurde vom Bundesverwaltungsgericht nicht einvernommen.

22       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gilt im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 17 VwGVG iVm. § 37 und § 39 Abs. 2 AVG das Amtswegigkeitsprinzip (vgl. VwGH 11.9.2019, Ro 2018/08/0008, mwN). Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen - wie hier vorliegend - zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. VwGH 2.11.2021, Ra 2020/08/0124, mwN). Steht der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegen, darf sich das Verwaltungsgericht nicht mit einem mittelbaren Beweis zufriedengeben. Die Unmittelbarkeit in Hinblick auf die Aussage eines Zeugen (bzw. einer Partei) verlangt damit dessen Einvernahme vor dem erkennenden Verwaltungsgericht. Bei widersprüchlichen Zeugenaussagen ist es zur Wahrheitsfindung erforderlich, in konkreter Fragestellung die jeweiligen Aussagen des einen Zeugen den eine gegenteilige Position einnehmenden anderen Zeugen vorzuhalten. Dies gilt im gleichen Maße für die jeweiligen Aussagen der Partei selbst (vgl. ausführlich VwGH 27.11.2020, Ra 2020/03/0086; 30.1.2019, Ra 2018/03/0131, jeweils mwN).

23       Diesen Vorgaben - insbesondere dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Aufnahme der erforderlichen Beweise - hat das Bundesverwaltungsgericht nicht entsprochen, indem es seine Feststellungen ausschließlich auf die Aussage des Mitbeteiligten gestützt hat, ohne dessen Gesprächspartner - den Vertreter der potentiellen Dienstgeberin - einzuvernehmen.

24       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Bundesverwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, hat es seine Entscheidung mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet.

25       Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargelegten Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Wien, am 24. Februar 2022

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigengutachten Beweismittel Zeugen Beweismittel Zeugenbeweis Gegenüberstellung Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Parteienvernehmung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverständigenbeweis Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Unmittelbarkeitsprinzip Gegenüberstellungsanspruch Fragerecht der Parteien VwRallg10/1/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020080129.L00

Im RIS seit

28.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

28.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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