TE Vfgh Erkenntnis 1994/8/30 WI-6/94

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Veröffentlicht am 30.08.1994
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Index

10 Verfassungsrecht
10/06 Direkte Demokratie

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art26
B-VG Art26 Abs6
B-VG Art43
B-VG Art44 Abs3
B-VG Art46
B-VG Art95
B-VG Art117 Abs2
B-VG Art141 Abs3
EMRK 1. ZP Art3
VolksabstimmungsG 1972 §1 Abs1
VolksabstimmungsG 1972 §6 Abs4
VolksabstimmungsG 1972 §7 Abs1
VolksabstimmungsG 1972 §14 Abs2
VolksabstimmungsG 1972 §14 Abs3
StV Wien 1955 Art4
StV Wien 1955 Art8
NeutralitätsG
RundfunkG §2
VfGG §70 Abs1

Leitsatz

Keine Stattgabe der Anfechtung der Volksabstimmung betreffend ein Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union; Gegenstand des Anfechtungsverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof allein Prüfung der Rechtmäßigkeit der Volksabstimmungsprozedur; keine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des dem Referendum zu unterziehenden Gesetzesbeschlusses; Geltung des Grundsatzes der Freiheit der politischen Willensbildung und Betätigung und der Reinheit von Wahlen auch für das Volksabstimmungsverfahren; jedoch keine Existenz von organisierten Wahlparteien; "Werbung" für ein positives Abstimmungsergebnis nicht überschießend und unzulässig; kein zu kurzer Zeitraum zwischen der Anordnung einer Volksabstimmung durch den Bundespräsidenten und dem Tag der Abstimmung selbst

Spruch

Der Anfechtung wird nicht Folge gegeben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Am 5. Mai 1994 faßte der Nationalrat - in der 164. Sitzung seiner 18. Gesetzgebungsperiode - einen Gesetzesbeschluß folgenden Wortlauts (StProtNR 18. GP, 19112; 1600 BlgNR 18. GP, 16):

"Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur

Europäischen Union

Auf Grund des Ergebnisses der Volksabstimmung wird kundgemacht:

Artikel I

Mit der Zustimmung des Bundesvolkes zu diesem Bundesverfassungsgesetz werden die bundesverfassungsgesetzlich zuständigen Organe ermächtigt, den Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union entsprechend dem am 12. April 1994 von der Beitrittskonferenz festgelegten Verhandlungsergebnis abzuschließen.

Artikel II

Der Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union darf nur mit Genehmigung des Nationalrates und der Zustimmung des Bundesrates hiezu abgeschlossen werden. Diese Beschlüsse bedürfen jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.

Artikel III

Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut."

1.1.2. Diesem Gesetzesbeschluß stimmte der Bundesrat am 7. Mai 1994 zu (StProtBR, 29123). Sodann ordnete der Bundespräsident gemäß Art46 Abs3 B-VG und §1 Abs1 VolksabstimmungsG 1972, BGBl. 79/1973 idF 339/1993, im 1. Abschnitt der Kundmachung BGBl. 363/1994 eine Volksabstimmung (gemäß Art44 Abs3 B-VG) darüber an, ob der Gesetzesbeschluß des Nationalrates (in der Folge: Gesetzesbeschluß) Gesetzeskraft erlangen solle. Im 2. Abschnitt dieser Kundmachung setzte die Bundesregierung als Tag der Volksabstimmung den 12. Juni 1994 fest und bestimmte als Stichtag den 11. Mai 1994.

1.1.3. Am 12. Juni 1994 wurde die Volksabstimmung abgehalten.

Mit Verlautbarung vom 23. Juni 1994, veröffentlicht im Amtsblatt zur Wiener Zeitung vom 24. Juni 1994, machte die Hauptwahlbehörde gemäß §14 Abs1 VolksabstimmungsG 1972 das Gesamtergebnis der Volksabstimmung kund. Danach entfielen von 4,724.831 gültigen Stimmen - 43.570 Stimmen wurden als ungültig gewertet - auf Ja: 3,145.981, auf Nein: 1,578.850 Stimmen.

1.2.1. Mit einer auf Art141 Abs3 B-VG und §14 Abs2 VolksabstimmungsG 1972 gestützten Anfechtung, die am 22. Juli 1994 beim Verfassungsgerichtshof überreicht wurde, begehrte Dr. E B, die Volksabstimmung vom 12. Juni 1994 für

nichtig zu erklären. Der Anfechtungsschrift waren Unterstützungserklärungen angeschlossen (su. Pkt. 2.1.3.1.).

1.2.2. Begründend brachte die Anfechtungsschrift ua. vor:

"Es ist zunächst zu bemerken, daß das Bundesgesetz dem Art4 des Staatsvertrages widerspricht; keine direkte oder indirekte Vereinigung mit Deutschland ist statthaft; die Integrität und Selbständigkeit Österreichs muß bewahrt werden. Durch diese Rechtsverletzung ist auch ein Widerspruch zu geltendem Völkerrecht entstanden, der anfechtbar ist.

   In einem Bericht des Verfassungsdienstes des

Bundeskanzleramtes ... (28. September 1988) ... über die

verfassungsrechtlichen Grundfragen eines österreichischen

EG-Beitrittes heißt es: 'Die gegenständlichen Verpflichtungen aus

dem Staatsvertrag sind unter allen Umständen zu respektieren. Aus

Anlaß eines allfälligen EG-Beitrittes ... wäre daher ausdrücklich

klarzustellen, daß diese Verpflichtungen Österreichs aufrecht bleiben sollen. Allenfalls müßte ein Beitrittsvertrag eine entsprechende Regelung enthalten.' Es besteht aber keine hinreichende Regelung im Beitrittsvertrag. Dieses Gutachten berücksichtigt außerdem nicht einmal noch die Gründung der Europäischen Union (EU) mit dem Inkrafttreten der Maastricht-Verträge. Durch diese erfolgt eine Abgabe von Hoheitsrechten seitens Österreichs an die EU, der auch die Bundesrepublik Deutschland angehört; somit wurde offenbar gegen das Anschlußverbot gehandelt. ...

Auch der mit dem vorgesehenen Beitrittsgesetz gegebenen Tendenz zur Aufweichung der Neutralität kommt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung zu, besonders durch die zur Verpflichtung erhobene Teilnahme an der GASP. Es genügt nicht zu meinen, wie der Verfassungsausschluß des Nationalrates berichtete, daß eine 'Aufhebung des BVG über die Neutralität ... somit durch einen EU-Beitritt Österreichs nicht erforderlich' sei; vielmehr ist gerade durch diesen Hinweis die Unzulänglichkeit der gesetzlichen Grundlage für die Vereinbarkeit des vorgesehenen Beitrittsgesetzes mit dem Neutralitätsgesetz offengelegt. Wie sodann vermerkt wurde, müsse durch 'eine klare (diesbezügliche) verfassungsrechtliche Vorkehrung', die 'zu schaffen' sei, der Rechtsmangel behoben werden, was aber nicht geschehen ist. ...

Außerdem ist das vorgesehene Beitrittsgesetz verfassungswidrig, da es eine formalgesetzliche Delegation darstellt, die dem Prinzip der inhaltlichen Bestimmtheit von Gesetzen bzw. dem Determinierungsgebot der österreichischen Bundesverfassung laut Art18 B-VG widerspricht. Es entbehrt jeden Sinns und jeder rechtlichen Grundlage, ein Gesetz wegen einer angeblichen 'besseren Verständlichkeit' (vgl. 1600 BlgNR 18. GP, 14) derart zu verkürzen, daß jene normative Aussage damit zum Verschwinden kommt, welche tatsächlich den Inhalt des Gesetzes zu bilden hat. Das Bundesvolk muß genau wissen, welche neue Gesamtverfassung entsteht bzw. entstehen soll, und dies ist nur auf Grund eines beschlossenen neuen Verfassungstextes möglich. Eine generelle Handlungsermächtigung widerspricht wie gesagt dem Art18 Abs1 B-VG. (Eine bereits genug problematische Ausnahme bildet zwar die Verfassungsbestimmung des §5 Integrations-DurchführungsG 1988 BGBl. 623/1987 idF BGBl. 688/1988, welches sich allerdings nur auf bestimmte Ermächtigungen des Finanzministers bezieht; der vorliegende Fall einer unbestimmten und generellen Organermächtigung widerspricht aber zur Gänze dem genannten Verfassungsgesetz!) ...

Die 'Verhandlungsergebnisse' Österreichs mit der EU, auf die sich das laut Kundmachung vom 10. Mai 1994 vorgesehene Beitrittsgesetz im Abs2 bezieht, die also die wichtigste bzw. einzig konkrete Grundlage der möglichen Zustimmung des Bundesvolkes sein sollten, wurden in der entsprechenden Kundmachung BGBl. 363/1994 am 10. Mai 1994 nicht (wenigstens in den verfassungsändernden Teilen, als Anhang) wiedergegeben; damit hat das Volk über ein Gesetz abgestimmt, dessen Inhalt nur unvollständig ordentlich kundgemacht wurde.

Im Zusammenhang mit der unten weiter ausgeführten Zeitknappheit zwischen dem Vorliegen der Verhandlungsergebnisse (12. April; Kundmachung des Bundespräsidenten - ohne Wiedergabe dieser Verhandlungsergebnisse - am 10. Mai 1994) einerseits und der Volksabstimmung andererseits liegt hier insofern sogar ein Akt der Wählertäuschung vor, als der eigentliche Inhalt, über welchen abgestimmt werden sollte, dem größten Teil der Bevölkerung nicht bekannt sein konnte.

Es wäre somit, um eine so wichtige Volksabstimmung richtig vorzubereiten, darüber hinaus angemessen gewesen, auf behördlichem Wege eine unkommentierte, neutral beschriebene Versendung des Gesetzestextes und jener Verhandlungsergebnisse (bzw. Vertragsteile), welche (indirekt) verfassungsändernd wirken, an alle Haushalte vorzunehmen. ...

Das Gesetz besitzt drei Absätze, von denen einer, nämlich Abs2, hinfällig ist, da er bloß bereits bestehendes Gesetzesgut wiedergibt, nämlich Art50 Abs1 und 3 B-VG mit Hinweis auf Art44 Abs1 und 2 B-VG (sinngemäß). Somit wurde mit dem Abs2 des Gesetzes ein bereits bestehender verfassungsgesetzlicher Bestand der Volksabstimmung unterzogen, während die eigentliche Gesamtänderung der Verfassung, die eine Volksabstimmung erforderlich macht, nicht zur Abstimmung vorgelegt wurde. Eine Abstimmung über die Anwendung bestehenden Verfassungsrechtes ist aber verfassungsmäßig nach Art44 B-VG nicht vorgesehen. ...

In den Erläuterungen zur RV des laut Kundmachung vom 10. Mai 1994 vorgesehenen Beitrittsgesetzes (1546 BlgNR 18. GP, 8) wird lapidar geschrieben:

'Anders als in Art50 Abs3 letzter Halbsatz B-VG vorgesehen, wird jedoch - im Hinblick auf den besonderen Charakter des EU-Rechts - von einer Qualifikation des Beitrittsvertrags oder einzelner darin enthaltener Bestimmungen ausdrücklich als 'verfassungsändernd' abgesehen.'

Eine Begründung dafür liegt aber in dieser Erläuterung nicht vor; vielmehr ist die Übernahme des EU-Rechts nicht etwa weniger, sondern stärker verfassungsändernd als dies bei sonstigen Staatsverträgen bisher der Fall war. Eine Auslassung dieses Hinweises ist also nicht gerechtfertigt. Damit liegt eine Verletzung des Art50 Abs3 B-VG vor. ...

Außerdem liegt - worauf Prof. Weinberger in einem Schreiben hinwies - beim Beitrittsgesetz außer dem besagten Mangel noch folgender Verfahrensmangel vor:

'Es gibt ... kein abgeschlossenes parlamentarisches Verfahren gemäß Art42 B-VG.'

Damit drückt der Rechtslogiker Univ.-Prof. Weinberger die Überzeugung aus, daß - unbeschadet der nach bestehendem Gesetz ... notwendigen, im Art2 des vorgesehenen Beitrittsgesetzes außerdem als Gesetzesnorm festgesetzten zusätzlichen Ratifikation durch den National- und Bundesrat - ein Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens (außer der Beglaubigung durch den Bundespräsidenten) stattfinden hätte müssen, bevor dasselbe Gesetz einer Volksabstimmung und damit der endgültigen Legitimation durch das Volk unterzogen werden kann. Somit liegt ein Widerspruch zu Art42 B-VG vor. ...

Unbestritten ist, daß mit dem Beitritt Österreichs zur EU zum mindesten eine 'Modifikation', also weitreichende Veränderung, wenn nicht eine Verminderung der Geltung der Grundprinzipien der österreichischen Verfassung verbunden ist. Diese betroffenen Grundprinzipien sind, wie o. Univ.-Prof. Dr. Ludwig Adamovich schreibt, das demokratische, das gewaltentrennende, das rechtsstaatliche, das liberale und das bundesstaatliche Prinzip. Darüber wurde eine ausführliche Diskussion geführt, die auch der Grund dafür ist, daß die Regierung eine Volksabstimmung zum EU-Beitritt anberaumt hatte. Hier wird aber der Nachweis unternommen, daß der Weg, den die Regierung mit dem zur Frage stehenden BVG ('Beitrittsgesetz') gewählt hat, angesichts einer so weitreichenden Veränderung der Verfassung völlig ungeeignet und verfassungswidrig war. ...

Insofern als dieser Beitritt zur EU mit einer Gesamtänderung der Verfassung einhergeht, ist zu beanstanden, daß das zur Volksabstimmung vorgelegte Gesetz - welches keinerlei Hinweis darauf enthält, daß es sich um eine 'Gesamtänderung' der Verfassung handelt - im Text nicht die Art der beabsichtigten Gesamtänderung der Verfassung bekanntgibt. Es fehlt im Bundesgesetz auch die Bezeichnung des zur Frage stehenden Staatsvertrages als 'verfassungsändernd', wie Art50 B-VG vorsieht. ... Dem Volk wird schließlich - dies ist erheblich - weder ein Gesetzestext noch ein Staatsvertrag mit direkt verfassungsändernder Wirkung und auch keine durch den Beitritt zur EU notwendige Verfassungsänderung zur Abstimmung vorgelegt.

Wie ein Gutachten von Landtagspräsident Univ.-Prof. Helmut Schreiner vom 14. bzw. 20. November 1990 feststellt, ist schon durch den Beitritt Österreichs zum EWR ein beachtlicher Eingriff in den Föderalismus (und somit in das bundesstaatliche Prinzip der Verfassung) gegeben. Es wäre daher mE auch verfassungsmäßig notwendig gewesen, schon den EWR-Beitritt einer Volksabstimmung zu unterziehen. Die durch den EWR nachträglich direkt oder indirekt notwendig gewordenen verfassungsgesetzlichen Veränderungen, die wohl nach dem Wunsch der Regierung nunmehr durch die Volksabstimmung am 12. Juni in einem Verfahren der Gesamtänderung der Verfassung nachträglich für bestätigt bzw. hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit der Verfassung für saniert angesehen werden sollen, finden sich aber nicht im Gesetzestext. Dieser Aspekt fließt in die unten weiter ausgeführte Kritik mit ein.

Art44 Abs3 B-VG sieht nämlich für ein Verfassungsgesetz, in welchem eine Gesamtänderung der Bundesverfassung vorgenommen wird, vor, daß es einer Volksabstimmung zu unterziehen ist. Am 12. Juni wurde ein Bundesgesetz zur Abstimmung vorgelegt; der Inhalt dieses Bundesgesetzes ändert aber die Verfassung nicht in irgendeiner Weise, wie dies für eine Gesamtänderung einer Verfassung notwendig wäre. Vielmehr enthält dieses Bundesverfassungsgesetz nur eine Organermächtigung, die selbst, wie erwähnt, keinerlei gesetzesändernden Charakter hat. Dies beeinflußt zwar möglicherweise nicht die verfassungsrechtliche Seite des laut Kundmachung vom 10. Mai 1994 vorgesehenen Beitrittsgesetzes hinsichtlich seines staatsvertraglichen Bezugs, sehr wohl aber hinsichtlich seiner verfassungsändernden Wirkung.

Die Kundmachung vom 10. Mai 1994 betreffend den Gesetzesbeschluß vom 5. Mai, BGBl. 363/1994, der am 12. Juni 1994 einer Volksabstimmung unterzogen worden ist, bewirkt somit nicht, daß die durch den Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur EU faktisch (qua Realverfassung) herbeigeführte bzw. zu schaffende Gesamtänderung der Verfassung (Bundesstaatsreform, qua Legalverfassung) die vom Art44 Abs3 B-VG erforderliche Zustimmung des gesamten Bundesvolks erhalten hat ...

Die Gesamtänderung erfolgt nicht durch die Ermächtigung, sondern erst durch die rechtliche Übernahme der EU-Mechanismen in Form des Staatsvertrags und der daraus resultierenden Notwendigkeiten, bundesverfassungsrechtliche Veränderungen festzulegen. Der Staatsvertrag mit der EU wurde, obwohl dieser eine gesamtändernde Wirkung auf die Verfassung hat, am 12. Juni keiner Volksabstimmung unterzogen! Die erst zu leistende Bundesstaatsreform als Voraussetzung für die verfassungsmäßige Übernahme von EU-Recht wurde bisher noch weniger einer Volksabstimmung unterzogen!

Ungeachtet der Tatsache, daß die Volksabstimmung über das vorgesehene sogenannte Beitrittsgesetz, die am 12. Juni 1994 durchgeführt wurde, wegen Verfahrensmängeln aufgehoben werden sollte, ergäbe sich somit rechtlich noch das Erfordernis einer neuerlichen Volksabstimmung, um den beabsichtigten und verfassungsgesetzlich vorgeschriebenen Zweck, die Gesamtänderung der Bundesverfassung, vom Volk bestätigen zu lassen, zu erfüllen, wenn nicht die Aufhebung des Gesetzes seitens des Verfassungsgerichtes vorgenommen werden sollte. ...

Herr em. o. Univ.-Prof. Dr. Ota Weinberger schickt uns dazu folgende Stellungnahme:

'Die Verfassungsänderung auf die Abstimmung vom 12. Juni zu stützen, ist aus folgenden Gründen unmöglich:

1. Sie widerspricht der klar und ausdrücklich vorgeschriebenen Vorgangsweise von Art44 Abs3 B-VG, und

2. es ist objektiv ganz unbestimmt, für welchen Inhalt der neuen Verfassung der Bürger gestimmt hat.

Kein Jurist und kein Rechtslogiker kann aus den zwei Rechtsdokumenten - der geltenden Verfassung und dem Vertragstext - eindeutig ableiten, wie die dem Vertrag angepaßte Verfassung nun lautet.

Die Abstimmung ist als nichtig anzusehen, weil durch sie keine inhaltlich klar bestimmte Verfassung akzeptiert wurde.' ...

Sofern es nicht zu einer Aufhebung der Volksabstimmung sowie des laut Kundmachung vom 10. Mai vorgesehenen Beitrittsgesetzes kommen sollte, entsteht also eine erhebliche Unsicherheit der Verfassung, welche eine künftige Orientierung hinsichtlich der Konformität mit der Verfassung in vielen Fällen zu einem schwierigen Problem machen wird, weshalb das vorgesehene Gesetz dem Verfassungsprinzip der Rechtssicherheit widerspricht. ...

Wir erlauben uns daher zunächst festzuhalten: Es erscheint uns zweckmäßig und im Sinne der Verfassung notwendig, nicht nur die Volksabstimmung als solche, sondern auch das zur Abstimmung gelangte, laut Kundmachung vom 10. Mai vorgesehene Beitrittsgesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Nach Art140 Abs1 B-VG kann der Verfassungsgerichtshof auch von Amts wegen bzw. auf Grund des hier vorliegenden Ansuchens (nach §62 VerfGG 1953) über die Verfassungswidrigkeit des vorgesehenen Beitrittsgesetzes erkennen. Der Verfassungsgerichtshof kann gegen Gesetzesbeschlüsse und Kundmachungen einschreiten, wenn diese Grundlagen bzw. Voraussetzungen einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs bilden.

Im Falle einer Aufhebung 'ab ovo' wäre somit die Überprüfung der weiteren Argumentation möglicherweise hinfällig, da die Volksabstimmung für ungültig erklärt würde; aber im Sinne einer Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen für einen ähnlichen Fall ist es selbst im Falle einer Aufhebung des laut Kundmachung vom 10. Mai vorgesehenen Beitrittgesetzes unumgänglich, die folgenden Anfechtungsgründe vorzulegen.

Weiters handelt es sich auch nicht um ein 'Verfassungsgesetz' in dem Sinne, daß der Verfassungsgerichtshof nur über die Einhaltung der Verfassungsgesetze, nicht aber über die Verfassungsgesetzgebung selbst zu hüten hätte. Denn das Beitrittsgesetz ist nicht ratifiziert und hat keine Gesetzeskraft. Die Volksabstimmung betrifft zwar die Verfassung, findet aber auf einfachgesetzlicher Ebene statt und hat in deren Rahmen durchgeführt zu werden; auch die Verordnungen des Bundespräsidenten haben diesen Rahmen einzuhalten. ...

Der 2. Abschnitt der Kundmachung vom 10. Mai setzt den Sonntag, den 12. Juni 1994, als Tag für die Volksabstimmung fest und bestimmt den 11. Mai als Stichtag. ...

Bisher liegt weder eine Vorjudikatur für eine Anfechtung einer Volksabstimmung noch ein Fall einer Volksabstimmung über eine Gesamtänderung der Verfassung vor. Daher wäre es für Gesetzgebung und Vollziehung recht und billig gewesen, eine möglichst behutsame Vorgangsweise zu wählen, um die Souveränität des Volkes zu gewährleisten. Die Zeitplanung bis zur Volksabstimmung verletzte aber diesen Grundsatz, da die nach dem Buchstaben des Gesetzes für Volksabstimmungen im Rahmen der Verfassung kürzestmögliche Frist sogar verkürzt wurde, womit dem Ernst der Lage angesichts eines 'Jahrhundertereignisses' durch die erste Gesamtänderung der Verfassung absolut nicht Rechnung getragen werden konnte. ...

In einem Schreiben an den Verfassungsgerichtshof hatte ich noch vor der Friststellung auf diesen Umstand hingewiesen (ohne noch weitere Aspekte zu berücksichtigen), worauf mir Frau Dr. R H namens des Verfassungsgerichtshofes folgendes Antwortschreiben schickte:

'Zu Ihrem Schreiben vom 8. April muß ich Ihnen mitteilen, daß dem Verfassungsgerichtshof lediglich die Kompetenz zukommt, nachträglich und auf Grund eines formellen Antrages über die Anfechtung einer Volksabstimmung zu entscheiden (Art141 Abs3 B-VG; §14 Abs2 VolksabstimmungsG 1972).'

Auf eine etwaige formelle Ungültigkeit meines Einwandes (der zu knappen Friststellung) wurde in diesem Schreiben des Verfassungsgerichtshofes nicht verwiesen. ...

Also möchte ich hiermit nochmals festhalten, daß zwischen dem 10. Mai 1994, also dem Tag der Verlautbarung des zur Abstimmung bestimmten Gesetzes im Bundesgesetzblatt, und dem 12. Juni, dem Tag der Volksabstimmung, knapp mehr als ein Monat liegt, eine denkbar kurze Frist ('Stichtag 11. Mai 1994'), die ... möglicherweise den verfassungsmäßigen Mindesterfordernissen für irgendeine sonstige Volksabstimmung formell entspräche (was zu überprüfen wäre), aber hinsichtlich der Tragweite der zur Frage stehenden Entscheidung auf keinen Fall angemessen erscheinen kann. Darin liegt nach unserer Überzeugung eine Überrumpelung der Wähler, Mißachtung der Volkssouveränität, Behinderung der freien Meinungsbildung des Volkes und insgesamt eine Mißachtung des Art1 B-VG. ...

Es war innerhalb so kurzer Zeit der österreichischen Bevölkerung nicht zuzumuten, sich ein objektives Bild von folgenden Gegenständen zu machen:

a. dem Vertrag von Maastricht als der wichtigsten Rechtsgrundlage der EU, welcher nur von der Partei der Grünen - und auch dies relativ spät - verbreitet wurde;

b. dem Beitrittsvertrag (bzw. den Verhandlungsergebnissen) zwischen Österreich und der EU, der (die) seit 12. April zwar existierte(n), aber außerordentlich schwer zu erhalten war(en) - vgl. oben: keine Kundmachung der 'Verhandlungsergebnisse';

c. dem zur Volksabstimmung vorzulegenden, laut Kundmachung vom 10. Mai vorgesehenen Beitrittsgesetz im tatsächlichen Wortlaut;

d. den positiven und/oder negativen Folgen von den oben angeführten Gegenständen (die, wie hier später ausgeführt werden wird, in der kurzen Vorbereitungszeit vor der Abstimmung überdies, auch von behördlicher Seite, aus einseitiger Sicht dargestellt wurden).

Daher liegt nach unserer Überzeugung eine Überrumpelung der Wähler, Mißachtung der Volkssouveränität, Behinderung der freien Meinungsbildung des Volkes und insgesamt eine Mißachtung des Art1 B-VG vor. ...

Meine diesbezüglichen Bedenken teilte ich mehreren Stellen, besonders der österreichischen Bundesregierung, bereits am 8. April 1994 schriftlich mit, worauf mir Herr Vizekanzler Dr. Erhard Busek am 18. April folgende Antwort zusandte:

'Im Hinblick darauf, daß die Debatte um die europäische Integration in Österreich bereits seit 1989 geführt wird, halte ich daher die Ansetzung eines Volksabstimmungstermines noch im Laufe des heurigen Jahres für gerechtfertigt und keinesfalls für eine Überrumpelung der Wähler.'

Wenn in dieser Antwort davon gesprochen wurde, daß schon seit Jahren eine Beitrittsdebatte bestehe und daher die Zeit 'im Laufe des heurigen Jahres' (!) reichen müsse, ohne daß es sich um eine 'Überrumpelung der Wähler' handle, so ist darauf hinzuweisen, daß ein am 5. Mai beschlossener Gesetzestext zur Abstimmung stand, welcher sich auf einen seit 12. April existierenden Vertrag bezieht und diskutierbare Folgen nach sich zieht. Die Debatte des Volkes über diese Ereignisse konnte nicht vor deren Eintreten stattfinden. Angesichts einer tatsächlich schon jahrelang geführten Debatte um den tatsächlichen Abstimmungsinhalt würde eine Frist 'im Laufe des heurigen Jahres' genügen; aber selbst dann wäre eine Frist von einem Monat kaum angemessen! Somit sehe ich in dieser Antwort des Vizekanzlers eine teilweise (indirekte) Bestätigung des hier erhobenen Vorwurfs. ...

Hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Perspektive wurde die Frage des EU-Beitritts Österreichs von der Regierung und dem Parlament bis zum heutigen Tag noch nicht hinreichend aufgearbeitet (siehe va. die ausstehende Bundesstaatsreform!)

Damit hängt eine Geringachtung der verfassungsmäßigen und demokratiepolitischen Bedeutung dieser Frage zusammen. Wenn die Ansetzung des Termins für die Volksabstimmung am 12. Juni mit dem Hinweis auf die bevorstehenden Wahlen im Oktober begründet wurde, zeigt dies, daß offenbar die Bedeutung einer Volksabstimmung als Eingriff in die Grundstruktur der Verfassung (und 'Jahrhundertereignis'!) in irriger Weise für geringerwertig angesehen wurde als die Bedeutung einer Nationalratswahl im Rahmen der Verfassung, welcher eine weitaus längere Vorbereitungszeit zur Meinungsbildung des Volkes eingeräumt wurde. ...

Somit ist der Nachweis erbracht, daß die zu kurze Terminplanung eine Mißachtung der Volkssouveränität und Überrumpelung des Volkes darstellt und damit als rechtswidrig anzusehen ist. Da das Volk durch diese rechtliche Mißachtung der Sonderlage, in der sich das Volk vor der Abstimmung befunden hat, in der freien Entfaltung seiner Aktivitäten als Souverän und der Ausübung des freien Wahlrechtes behindert wurde, liegt ein Verstoß gegen den Art1 B-VG vor. Erschwerend ist der Umstand zu bewerten, daß die betreffenden gesetzlichen Voraussetzungen sogar ad hoc verändert wurden, um die Volksabstimmung in einer möglichst kurzen Frist durchführen zu können! ...

Außerdem liegt ein rechtlicher Verfahrensmangel durch die knappe Zeitplanung dann vor, wenn - was uns nicht zu eruieren gelungen ist - auch nur ein einziger Auslandsösterreicher namhaft gemacht werden kann, welcher auf Grund der knappen Zeitspanne nicht in der Lage war, seine Stimme abzugeben. Wir ersuchen daher, den Nationalrat dazu aufzufordern, Untersuchungen darüber anzustellen, ob eine solche Behinderung von Auslandsösterreichern an der Ausübung des Wahlrechts durch die zu knappe Zeitspanne der Fall war. ...

Das Verfahren der Volksabstimmung verletzte den Gleichheitsgrundsatz in der Form der Chancengleichheit der Bewerber und die Neutralitätspflicht des Staates. Rechtserheblich war dabei auch die Verletzung des Objektivitätsgebotes des ORF.

Weder seitens der Verfassung noch seitens des VolksabstimmungsG 1972 und seiner Novellen ist eine Aktivität des Staates und seiner Organe zur Durchführung der Volksabstimmung vorgesehen, welche über die bloße Administration, also etwa die Beschaffung von Stimmzetteln und Durchführung der Wahl, hinausginge und somit jene Tätigkeiten abdecken könnte, welche aber tatsächlich durch die staatlichen Organe während der Zeit der Durchführung der Volksabstimmung (insbesondere zwischen dem Tag des Gesetzesbeschlusses im Nationalrat am 5. Mai und dem Tag der Abstimmung am 12. Juni 1994) gesetzt wurden und nach der hier dargelegten Rechtsauffassung der Verfassung eindeutig widersprechen, wie im späteren Text näher erläutert und belegt wird. ...

Da trotz der demokratietheoretischen Klarheit eines notwendigen Verfassungsbezuges derartiger plebiszitärer Einrichtungen bisher noch keine voll entwickelte Gesetzgebung über die verfassungsmäßige Durchführung einer Volksabstimmung über eine Gesamtänderung der Verfassung sowie für die Anfechtung derselben vorliegt, ist es im Zuge dieser Anfechtung notwendig, mit dem Hinweis auf den Stufenbau der Rechtsordnung und die Analogie zu bestehendem Recht zu argumentieren und dabei auch die rechtsphilosophischen Grundlagen der Judikatur, welche bei der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Tragen kommen, anzusprechen.

Für alle Wahlen zu Vertretungskörperschaften gilt nach Lehre und Rechtsprechung der Grundsatz der Chancengleichheit für alle Bewerber. Eine Differenzierung und Förderung oder Beförderung eines Bewerbers ist nicht zulässig. Eine solche Beförderung - einschließlich einer wirtschaftlichen Beförderung - ist aber durch die Republik Österreich in den unten angeführten Fällen geschehen, wodurch der Eindruck einer obrigkeitlichen Beeinflussung und eines Mißbrauchs der staatlichen Autorität zur Durchsetzung der eigenen Parteimeinung sowie einer unsittlichen Wettbewerbsverzerrung zwischen den Proponenten der beiden Wahlalternativen entstehen mußte.

Bei allgemeinen Wahlen geht man von der Neutralitätspflicht des Staates aus. Es wird rechtlich für unzulässig angesehen, wenn durch den Staat einseitige Störungen der Wahlwerbung qua ihrer Organschaft für einen Wahlwerber eintreten bzw. Handlungen gesetzt oder unterlassen werden, durch welche faktisch eine der beiden wahlwerbenden Seiten eine Verzerrung und Verminderung der Chancengleichheit bei der Verbreitung jener Tatsacheninformationen, Kommentare und Standpunktdarstellungen, welche aus der eigenen Perspektive von vordringlicher Relevanz sind, erleidet.

Von der Struktur her gesehen besteht trotz aller Unterschiedlichkeiten zwischen allgemeinen Wahlen und Volksabstimmungen insofern kein Unterschied, als es in beiden Fällen um die Entscheidung zwischen Alternativen durch das Volk geht. Bei Wahlen sind es mindestens zwei Alternativen, häufig aber mehr, bei einer Volksabstimmung sind es notwendig nur zwei Alternativen, zwischen welchen der wahlberechtigte Staatsbürger in der vom Gesetz vorgesehenen Form wählen kann. Deshalb darf von der Anwendbarkeit des für allgemeine Wahlen verbindlich geltenden Grundsatzes der Chancengleichheit und der Neutralität des Staates für Volksabstimmungen ausgegangen werden. Diese Chancengleichheit und Neutralität des Staates wurde während der gesamten Vorbereitungsphase zur Volksabstimmung am 12. Juni in wahlentscheidendem Ausmaß verletzt. ...

Die oben erwähnten Verletzungen erhielten vor allem deshalb ein auf das Wahlergebnis ausschlaggebendes Gewicht, weil der ORF das ihm verfassungsrechtlich auferlegte Objektivitätsgebot verletzt hat.

Durch ArtI Abs3 des BVG BGBl. 396/1974 über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks wurde der Rundfunk zur 'öffentlichen Aufgabe' erklärt und zu 'Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung' verpflichtet. Wie aber nach dem 12. Juni durch Wahlanalysen festgestellt wurde, haben 79 % der Staatsbürger, die ihre Stimme bei der Volksabstimmung abgegeben haben, die für ihre Wahlentscheidung wesentlichen Informationen durch den ORF erhalten. ...

Wir erlauben uns, auf folgenden Präzedenzfall hinzuweisen: In VfSlg. 4527/1963 hatte sich der Verfassungsgerichtshof mit einer Anfechtung durch die Europäische Föderalistische Partei ... zur Nationalratswahl 1962 auseinanderzusetzen, die sich von der Stadt Innsbruck im Recht auf 'Chancengleichheit im Wahlverfahren' verletzt sah. Der Verfassungsgerichtshof traf in seiner Erwägung hierüber folgende Feststellung:

'Der Verfassungsgerichtshof ist (...) der Auffassung, daß durch die Bundesverfassung ganz allgemein die Freiheit der Wahl gewährleistet ist (...) und daß ein der Verfassung entsprechendes Wahlverfahren die Freiheit der Wahlwerbung einschließt (vgl. VfSlg. 3000/1956). Die Freiheit der Wahl kann in der verschiedensten Weise beeinträchtigt werden. Sie kann nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes auch dadurch beeinträchtigt werden, daß seitens der öffentlichen Hand wirtschaftliche Mittel eingesetzt werden, insbesondere aber auch dadurch, daß eine oder einzelne wahlwerbende Parteien bei der Wahlwerbung wirtschaftlich begünstigt werden.' ...

Zur Unterstützung der hier vorgebrachten Argumente zur Anfechtung der Volksabstimmung erlauben wir uns, auch auf die Judikatur des schweizerischen Bundesgerichtes zur Objektivitäts- und Neutralitätspflicht von Behörden zu verweisen. In BGE 102 Ia, S 264 ff. hatte sich das Bundesgericht mit dem Vorwurf unerlaubter Beeinflussung der Willensbildung durch irreführende private Publikationen aus Anlaß einer Richterwahl zu beschäftigen und sprach dazu aus:

'Stellt das Bundesgericht Verfahrensmängel fest, so hebt es die Abstimmung auf, wenn die gerügten Unregelmäßigkeiten das Ergebnis beeinflußt haben könnten. Der Stimmbürger muß in einem solchen Fall nicht nachweisen, daß sich der Mangel auf das Ergebnis entscheidend ausgewirkt hat; es genügt, daß nach dem festgestellten Sachverhalt eine derartige Auswirkung im Bereiche des Möglichen liegt. (...)

Von verfahrensmäßigen Fehlern abgesehen kann auch eine unzulässige Einwirkung auf die Willensbildung des Stimmbürgers die Ungültigkeit einer Abstimmung zur Folge haben. Eine unerlaubte Beeinflussung der Willensbildung liegt beispielsweise vor, wenn die Behörde im Rahmen einer Sachbestimmung ihre Pflicht zur objektiven Information verletzt und den Bürger über Zweck und Tragweite der Vorlage falsch orientiert (BG 98 Ia 622, 78; 93 I 439; 98 I 443). Darüber hinaus können auch private Publikationen das Ergebnis einer Sachbestimmung in unstatthafter Weise beeinflussen, wenn der Stimmbürger durch falsche und irreführende Angaben getäuscht wird.' ...

Es werden hier all jene Beispiele angeführt, welche die staatlichen Organe oder den ORF hinsichtlich der ... genannten Rechtsverletzungen belasten und nach dem 5. Mai, dem Tag der Beschlußfassung im Parlament, also dem Tag der Einleitung der Volksabstimmung, auftraten. Dabei ist davon auszugehen, daß es zwei Alternativen gibt: 1. die Regierungsmeinung für ein 'Ja', und 2. die oppositionelle Meinung für ein 'Nein' zur Abstimmung. Diese beiden Alternativen werden von zwei Quasi-Parteien vertreten, die nicht mit den politischen Parteien zu verwechseln sind, wenn auch bestehende politische Parteien die Rolle jener Quasi-Parteien mehr oder weniger deutlich unterstützten. Im folgenden werden die staatlichen Organe aufgezählt und die von ihnen vorgenommenen Handlungen im Sinne des ... ausgeführten Vorwurfs aufgezeigt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die von der Regierung unterstützten Stellen neben Beitrittsvorteilen auch gewisse Nachteile genannt haben, sondern ob neben den die Regierungshaltung wiedergebenden Informationswegen gleichwertige Informationswege für die Opposition eingerichtet wurden, um die Nach- und Vorteile aus ihrer Perspektive darstellen zu können, ob etwa der dafür nötige Werbeetat und die Verbreitungsmöglichkeit geboten wurden oder nicht. Sofern dies nicht der Fall war, liegt Verletzung der Neutralitätspflicht der staatlichen Organe und/oder Verletzung der Chancengleichheit vor.

Allgemein muß bezüglich der von staatlichen Organen ausgegebenen Informationen, die als Entscheidungshilfe für die Volksabstimmung über das laut Kundmachung vom 10. Mai vorgesehene EU-Beitrittsgesetz gedacht waren, auch der Mangel vermerkt werden, daß in vielen Fällen in sehr unscharfer, für den nicht ausgesprochen fachkundigen Staatsbürger nicht klar unterscheidbarer Weise Fragen des bereits rechtswirksamen EWR-Beitritts und des zur Abstimmung stehenden EU-Beitritts Österreichs vermengt wurden. Pars pro toto sei hier auf eine Broschüre des BMUK verwiesen ... Weiters gilt allgemein, daß häufig mit vermeintlich korrekt erstellten, aber von subjektiven Vorstellungen gefärbten und ihrer Natur nach unsicheren Voraussagen in einer Weise gearbeitet wurde, als handelte es sich dabei um Tatsachen bzw. einforderbare Versprechungen. Mit dem Schein der wissenschaftlichen Verläßlichkeit anstelle mit wissenschaftlich redlicher Infragestellung von Voraussagbarkeiten wurde häufig eine Stimmung der Zuversicht auf eine bessere Zeit nach dem EU-Beitritt vorgespielt. ...

Das staatliche Werbebudget zur Volksabstimmung: Nach Zeitungsmeldungen wurden seitens des Staates 130 Millionen Schilling für die Information bzw. Werbung von der Regierungsseite ausgegeben; die (Opposition) erhielt hingegen keine Unterstützung durch den Staat für Informationen bzw. Werbung aus ihrer Sicht. Abgesehen davon, daß der Staat von sich aus der demokratischen Verpflichtung zur ausgewogenen Meinungsbildung nachzukommen hat, was allerdings unterlassen wurde, richtete die Dachorganisation der EU-Gegner 'Zukunft Österreich', die zweifellos Parteistellung im Falle der EU-Volksabstimmung besitzt, zunächst ein formelles Ansuchen sowohl an das Europa-Staatssekretariat als auch an den Bundespräsidenten mit dem Ersuchen um Zuteilung eines anteiligen Werbebudgets. Es wurde abschlägig beantwortet. Ein daraufhin an den Bundespräsidenten gerichtetes Bittgesuch (im Namen der selben Organisation 'Zukunft Österreich'), unterzeichnet durch den Bevollmächtigten Dr. Gerhard Jagschitz, um Zuerkennung eines Werbebudgets für die Beitrittsgegner, wurde ebenfalls abgelehnt. ... Nicht einmal auf Ersuchen handelte die österreichische Behörde in richtiger Weise! Mit diesem Sachverhalt liegt die gröbste unter allen festgestellten Verletzungen des Gleichheitsgebotes vor!

Im Sinne VfSlg. 3000/1956 hätte der Staat als Hüter der Volkssouveränität und zur Gewährleistung einer unparteilichen und allseitigen Information der Staatsbürger von sich aus, auch ohne erst darum gebeten zu werden, für eine Bereitstellung solcher Unterstützungsgelder zu sorgen gehabt, wie der unten angeführte Vergleich mit Schweden beweist.

Zum Unterschied zur österreichischen Vorgangsweise handelte Schweden demokratisch korrekt: Der Kurier berichtete am 13. Juni 1994 (auf S 7): 'Geldregen vom Parlament. - Anfang Mai hat das schwedische Parlament umgerechnet 90 Millionen Schilling für die Kampagne über einen Beitritt Schwedens zur EU beschlossen. - Nach einem strengen Schlüssel werden diese Mittel verteilt. 18 Millionen gehen an die im Reichstag vertretenen Parteien, 33 Millionen an die Befürworter und 39 Millionen an die Gegner.

Grund: die Nein-Bewegung ist benachteiligt, die Ja-Kampagne bekommt Gelder von der Wirtschaft. Eine von der Regierung gesteuerte EU-Werbung gibt es nicht. Radio- und Fernseh-Spots sind verboten.' (Diese Tatsache hätte übrigens schon einige Zeit früher berichtet werden können, da ausländische Medien dies schon im April - wenn auch nicht ausführlich - mitteilten; ironischerweise brachte der Kurier die Meldung - wenigstens überhaupt - just am Tag nach der Volksabstimmung!)

Erschwerend wirkt sich aus, daß auch in späterer Zeit und/oder von kleineren Organisationen der EU-Gegner an Behörden gerichtete Schreiben um materielle und/oder finanzielle Unterstützung abgelehnt wurden. ...

An zweiter Stelle rangiert bereits die Bedeutung der Verletzung des verfassungsmäßig verankerten Objektivitätsgrundsatzes durch den ORF. Erheblich sind in diesem Falle zunächst die 'Europa-Foren' - in welchen eine ausgewogenere Behandlung der beiden Seiten angeblich versucht wurde; in der letzten Sendung des Europaforums wurde allerdings auf Wunsch der Regierung die Beteiligung des Volkes ausgeschlossen. Weiters sind besonders die in verschiedensten Sendungen (besonders den Nachrichtensendungen 'Zeit im Bild') plazierten ungleich gewichteten verstreuten Meldungen über die beiden Seiten der Wahlwerbung sowie Zitierungen von Argumenten pro und kontra EU-Beitritt zu beanstanden, die in der besagten Zeit in besonders großer Dichte vorkamen.

Fest steht, daß die Zahl jener, die im Laufe der Wahlwerbung ihre ursprüngliche Haltung von 'Nein' auf 'Ja' geändert haben, fast doppelt so groß war als die Zahl jener, die ihre Meinung von 'Ja' auf 'Nein' geändert haben. 30 % schwenkten von Nein auf Ja, nur 17 % von Ja auf Nein zum EU-Beitritt; die 17 % haben aber ihre Meinungsänderung - zum Unterschied von jenen, die zum Ja geschwenkt waren - eher auf andere Informationsquellen gestützt, dh. auf Gespräche mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, Contra-Kampagnen und besonders auf Berichte und Stellungnahmen in 'Täglich Alles'. Der Einfluß des ORF zur Meinungsänderung von Nein auf Ja war folglich noch weit größer als selbst der Einfluß der regierungsseitigen Werbung! ...

Da schon mehrmals Beschwerden bezüglich der Objektivität der Berichterstattung des ORF eingebracht worden sind, wäre es im Interesse der Öffentlichkeit und im Sinne der verfassungsrechtlich verankerten Objektivitätspflicht des ORF, wenn endlich auf Grund einer wissenschaftlichen Medienanalyse im Auftrag des Staates dieser Frage eingehender nachgegangen würde, um die beanstandeten Mißstände beseitigen zu können. ...

Der offiziell von der österreichischen Bundesregierung herausgegebene Bericht über die Verhandlungsergebnisse weist bedeutsame Unterschiede zu der Fassung der Europäischen Kommission aus, worin in wesentlichen Fragen, die in der österreichischen Bevölkerung Interesse gefunden hätten, Verkürzungen oder Unklarheiten bestehen. So bei der Frage des EURATOM-Beitritts, dessen Kosten nicht genannt wurden, und betreffend die (exorbitanten) Kosten des Beitritts überhaupt. ...

Wenn der Bundeskanzler und der Vizekanzler - zwar nicht auf Amtspapier der Republik Österreich, wohl aber unter der Bezeichnung einer vom Bund eingerichteten und bezahlten 'Informations'-Stelle für Europa - einen Empfehlungsbrief an die Staatsbürger versenden konnten, so wäre gleichzeitig dafür Sorge zu tragen gewesen, daß im selben Umfang Hauptvertreter der EU-Gegner-Seite in die Lage versetzt worden wären, ihre Meinung chancengleich mit ebenbürtigen finanziellen Mitteln und an dieselben Stellen zu versenden. Damit würde der Mangel der Oppositionsseite, daß die Oppositionsseite weniger Zugriffe zu öffentlichen Begünstigungen besitzt und der Aussagekraft der Regierungs- und der Oppositionsmeinung im Volk eine unterschiedliche Gewichtung zukommt, kompensiert und die Entscheidungsfreiheit des Volkes durch die Regierung als Anwalt der Volkssouveränität gewährleistet.

Dasselbe gilt für jede andere Tätigkeit und Äußerung seitens der Vertreter der Regierung und der Bereitstellung äquivalenter Möglichkeiten seitens der Opposition. ...

Die Einrichtung des Staatssekretariats für Europafragen hätte besonders während der Zeit der Durchführung des Volksbegehrens (gemeint: der Volksabstimmung) jede derartige Aktivität unterlassen müssen, die als Beeinflussung der Meinung der Bevölkerung aufzufassen ist. Besonders schwerwiegend war die Verunglimpfung der EU-Beitrittsgegner durch die Staatssekretärin Frau Mag. Brigitte Ederer, die diese mit politisch extremistischen Bewegungen gleichsetzte.

(Das Europatelefon) wird gleichsam als Werbeeinrichtung des Europa-Staatssekretariats angesehen. Besonders die exorbitant teure Bewerbung des Europatelefons wurde in der Bevölkerung als eine permanente Werbung pro Beitritt zu Europa empfunden und hatte kein Äquivalent seitens der Beitrittsgegner, welchem von offizieller Seite die chancengleichen Möglichkeiten zuerkannt worden wären. Aber auch die Einrichtung von gleichwertigen Informationsstellen (Telefonstellen mit öffentlichem Hinweis auf diese) hätte finanziell und orgnisatorisch gleichermaßen besorgt werden müssen.

Wir ersuchen den Verfassungsgerichtshof, sofern als Beweismittel erwünscht und im Interesse des Rechtsstaates gelegen, den Vertrag der von der Behörde beauftragten Stellen mit jener Werbefirma zu überprüfen, welche für die offensichtlich tendenziöse Darstellung des Beitritts Österreichs zur EU, also für die Werbung ('gemeinsam oder einsam' etc.) beauftragt wurde.

...

Die Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse im März/April wurde zu einem medien- und werbewirksamen Spektakel, besonders des Außenministeriums, hochstilisiert, was zwar bis zu einem gewissen Grad nicht zu verhindern gewesen wäre, selbst wenn der Staat in diesem Fall seine Neutralitäts- und Objektivitätspflicht sowie die Sorge für die Chancengleichheit befolgt hätte. In Verbindung mit den anderen Ereignissen und verzerrten Einflüssen seitens des Staates liegt hier aber dennoch eine berücksichtigungswürdige Komponente im Sinne der hier beanstandeten Tendenz des Staates vor, da keine analoge Möglichkeit für die Gegnerseite geboten wurde, insbesondere in der Berichterstattung des ORF auch Gegenstandpunkte zu demselben Ereignis oder Zusammenhänge, die das Ereignis in ein anderes Licht stellen könnten, bekannt machen zu können. Auch hier liegt ein Fall der mangelnden Objektivitätspflicht des ORF vor, auf den schon hingewiesen wurde. ...

Schon lange Zeit vor der Beitritts-Volksabstimmung, besonders zahlreich aber in der nämlichen Zeit, wurden vom Unterrichtsministerium massenhaft aufwendige Broschüren an Lehrer und Schüler etc. ausgegeben und damit der Meinung Vorschub geleistet, daß ein Beitritt mehr Vor- als Nachteile bringen werde. Es wurde also eine Beeinflussung der Bevölkerung durch die parteiliche Beförderung einer von zwei zur Abstimmung vorgesehenen Alternativen seitens staatlicher Behörden und durch den Mißbrauch des Zugangs zu jenen Institutionen betrieben. Sofern sich das Unterrichtsministerium, die Stadt- und Landesschulräte und die Schulbehörden nicht völlig jeglicher Verteilung von - für die Beeinflussung der Wahl geeigneten - Materialien enthalten hätte und dennoch als verfassungskonform und korrekt angesehen werden hätte sollen, so hätten im gleichen Ausmaß und Umfang seriöse, von Gegnern verfaßte Broschüren der oppositionellen Seite verteilt werden sollen und die Behörden hätten sogar dafür Sorge zu tragen gehabt, daß nicht die Broschüren einer Seite zu spät oder in zu geringer Zahl zur Verteilung gelangt wären.

Als Beispiel wird hier eine Broschüre, die für die wichtige Multiplikatorengruppe der Lehrer erstellt wurde, angeführt:

'Lehrerinnen, Lehrer und die Europäische Union. - Fragen und Antworten.' Bundesminister Dr. Rudolf Scholten schreibt im Vorwort:

   'In absehbarer Zeit werden alle Österreicherinnen und

Österreicher eine für sie wesentliche und weitreichende

Entscheidung zu fällen haben. ... Ich glaube, daß nur eine

umfassende Information die für jeden einzelnen Menschen

interessanten Möglichkeiten erkennen läßt. ... Ich hoffe, mit

diesem Band für Sie wichtige Informationen weitergeben zu können und damit einen Beitrag zu Ihrer Meinungsbildung geleistet zu haben.'

Dies wird aber in der Folge nicht geleistet. Zunächst hätte das Ministerium jede notwendige Sorge dafür treffen müssen, daß eine von Gegnern des EU-Beitritts verfaßte Broschüre die gleiche Zielgruppe erreichen hätte können. Sodann ist zu bemerken, daß eine beschönigende und sehr einseitige Darstellung vorliegt, in welcher zwar beispielsweise die Frage der HTL-Absolventen auf zwei Seiten behandelt, aber kein einziger der kritischen Aspekte (Chancenungleichheit im Ausland, vermehrte Konkurrenz aus dem Ausland, Existenzfragen für international arbeitende Firmen aus Österreich, Verminderung der Aufstiegschancen österreichischer Ingenieure in Firmen mit internationaler Belegschaft etc.), die seitens der Betroffenen behandelt werden hätten müssen, ausgesprochen wurde. Anstatt dessen heißt es hier nur:

'Das Inkrafttreten des EWR sowie ein allfälliger Beitritt zur EU bedeuten für Absolventinnen und Absolventen der HTL vermehrte Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt durch Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation sowie durch das Entfallen der Arbeitsbewilligung.' ...

Als das Ministerium, welches sich mit den durch den Beitritt am meisten benachteiligten Personen befassen mußte, wurde dieses Ministerium (das Landwirtschaftsministerium) in der Öffentlichkeit, vor allem in der letzten Phase vor der Stimmabgabe, so dargestellt, als habe die betriebene Politik zur Abfederung der bäuerlichen Einkommensverluste auch schon die Bedenklichkeit des EU-Beitritts insgesamt aufgehoben. Statt dessen hätte der Landwirtschaftsminister zu erläutern gehabt, in welche Lage die Bauern nach einer Zeit von etwa fünf Jahren gelangen würden, wenn die Übergangsregelungen weitgehend beendet wären, und wie die Stützungen, die der Staat zu finanzieren haben wird, budgetär verkraftet werden, ohne Einbußen für den Lebensstandard der Bevölkerung durch Steuererhöhungen etc. zu bringen. ...

Die budgetäre Lage als Frage des Finanzministeriums wurde aus werbetechnischen Gründen während der Durchführungszeit des Volksbegehrens (gemeint: der Volksabstimmung) offensichtlich unkorrekt behandelt. Der Finanzminister erklärte vor der Volksabstimmung, daß nach einem Nein zum EU-Beitritt eine Steuererhöhung drohen könne, obwohl damals Finanzexperten eine zusätzliche Budgetbelastung von 50 oder 34 Milliarden Schilling prognostizierten. Kurz nach dem 12. Juni aber erklärte derselbe Finanzminister, daß eine Erhöhung des Budgetdefizits um etwa 37 Milliarden Schilling nach dem EU-Beitritt zu erwarten sei. Hier liegt ein Fall einer Fehlinformation im Sinne der §§263 und 264 des Strafgesetz(buch)es, welcher einen maßgeblichen Einfluß auf das Wahlverhalten hatte, vor. ...

(Beim Landesverteidigungsministerium) spielte besonders die Rolle der Neutralität und die Bedeutung der damit verbundenen Diskussionen bei der Werbung pro oder kontra Beitritt zur EU eine bedeutende Rolle, welche auch einen Einfluß auf das Wahlverhalten der österreichischen Bevölkerung hatte. So spricht sich der Verteidigungsminister Werner Fasslabend - entgegen den diesbezüglichen Dementis vor der Abstimmung seitens der Regierung (vgl. ua. den oben erwähnten Brief des Bundeskanzlers) - wenige Tage nach der Volksabstimmung für einen Beitritt zur WEU ab 1996 aus. (Vgl. Wiener Zeitung am 30.7.1994) ... Es geht hier - ähnlich wie im Falle des Finanzministeriums - um einen Fall der Verletzung der §§263 und 264 des Strafgesetz(buch)es. ...

Seitens des Sozialministers Hesoun wurde eine Studie über die sozialen Auswirkungen des EU-Beitritts auf den Arbeitsmarkt und die Lage für die Arbeitnehmer in Auftrag gegeben, welche - wie NEWS schreibt - zurückgehalten wurde, da die Ergebnisse der Studie der gewünschten und erwarteten Tendenz nicht entsprachen.

...

Die Rede des Bundespräsidenten war nur zu einem geringeren Teil ein Aufruf, an der Volksabstimmung teilzunehmen; der Großteil der Rede beschäftigte sich mit der Begründung einer Abstimmung mit 'Ja' und dem Versuch einer Widerlegung von Argumenten für ein 'Nein' zur Abstimmung. Jene Zeitspanne, die der Bundespräsident für die letztere Argumentation benützte, hätte für eine Rede eines Proponenten für ein 'Nein' mit einer gleich langen Zeit zu gleich wichtiger Sendezeit oder unmittelbar an die Präsidentenrede anschließend (von Sprechern des ORF kommentarlos angekündigt) zur Verfügung gestellt werden müssen, um beiden Seiten die gleichrangige Bedeutung zukommen zu lassen.

...

Besonders aktiv in der Verbreitung einseitiger Broschüren waren die Kammern, die als Körperschaften öffentlichen Rechtes ebenfalls zur Neutralitätspflicht und zur Gleichbehandlung verpflichtet wären. Ohne in der Lage zu sein, die Broschüren oder anderen Werbematerialien mit einseitiger Darstellung, die von den Kammern verbreitet worden waren, und welche sonstige Werbung betrieben wurde, restlos und lückenlos auf ihre Korrektheit hinsichtlich der Objektivität, der Neutralität des Staates und der Gleichbehandlung der beiden Abstimmungsalternativen untersuchen zu können, muß hier vor allem auf einen besonders deutlichen Fall verwiesen werden.

Die Bundes-Wirtschaftskammer Österreich, welche sich überhaupt sehr eifrig in die Werbung einschaltete, druckte und verbreitete eine Broschüre, ... die nicht etwa in bloß versteckter Art die Argumente für ein Ja als überwiegend darstellte, sondern sie gab ausdrücklich und ausschließlich nur '10 gute Gründe, die für ein Ja zur EU sprechen', in subjektiver Weise bekannt. Eine solche Broschüre ist Wahlpropaganda im reinsten Sinn, die einer öffentlichen Körperschaft in einer Zeit während der Durchführung einer Volksabstimmung absolut nicht zustehen kann. Hier wäre selbst eine - zur Herstellung der Chancengleichheit unternommene - Verbreitung einer Broschüre mit anderer Tendenz nicht mehr in der Lage gewesen, den Tatbestand der Verletzung des Neutralitätsgebotes des Staates und seiner Organe aufzuheben. ...

Besonders die Gemeinde Wien schaltete sich des öfteren unter Verwendung von Steuergeldern ein, um, wie behauptet wurde, die Bevölkerung zu informieren und angeblich falsche Ängste vor einem EU-Beitritt Österreichs zu zerstreuen. Damit wurde effektive Beeinflussung der Bevölkerung und deren Wahlverhaltens in einem Ausmaß betrieben, angesichts dessen schon von einer geradezu erstaunlichen Resistenz von immerhin einem Drittel der österreichischen Bevölkerung gegen diese 'Propagandalawine' gesprochen werden muß. Relevant und in den Medien häufig erwähnt war der Inhalt einer Werbeeinschaltung in verschiedenen Zeitungen, welche unter dem Motto 'Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat' stand, von der Gemeinde Wien finanziert wurde und anstelle bedeutsamer Informationen eine Nebensächlichkeit in den Vordergrund rückte, wobei hier abermals die Neutralitätspflicht und das Gleichheitsgebot verletzt wurden. Ähnliches in abgeschwächter Form ist auch aus anderen, besonders den größeren österreichischen Gemeinden, berichtet worden. ...

Nach allgemein bekannter Meinungserhebung haben bis zu 80 % der Bevölkerung besonders wegen der Gefahr der Abschaffung der Neutralität Bedenken gegenüber einem EU-Beitritt gehabt; um dem abzuhelfen, wurde das Volk über die voraussichtliche Tragweite eines EU-Beitritts im unklaren gelassen. Darüber wurde bereits ... abgehandelt. Hier liegt ein Fall einer Fehlinformation im Sinne der §§263 und 264 des Strafgesetz(buch)es, welcher einen maßgeblichen Einfluß auf das Wahlverhalten hatte, vor. ...

Einerseits wurden irreführende Nachrichten zur Frage nach dem sicheren Weiterbestehen unserer Schillingwährung verbreitet, mit welcher der Österreicher auch vor der EU-Abstimmung emotionale Bindungen aufzuweisen schien, andererseits zur noch brisanteren Frage der möglichen Staatsneuverschuldung, die verharmlost und gegenteilig beantwortet wurde. Zu letzterem Bereich wurde bereits ... abgehandelt. Hier liegen Fälle von Fehlinformationen im Sinne der §§263 und 264 des Strafgesetz(buch)es, welche einen maßgeblichen Einfluß auf das Wahlverhalten hatten, vor. ...

Die Sicherung der Arbeitsplätze ist ein wesentliches Anliegen der österreichischen Bevölkerung, weshalb in der regierungsseitlichen Propaganda nicht nur Bedenken wegen eines Anstiegs der Arbeitslosenzahlen nach einem EU-Beitritt zurückgewiesen wurden, sondern im Gegenteil davon gesprochen wurde, daß durch den EU-Beitritt neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Im Zusammenhang mit der Arbeitsplatzfrage steht auch die Frage des Arbeitsrechtes, insbesondere der Ansprüche auf einen 13. und 14. Monatsgehalt, welche in letzter Stunde vor der Volksabstimmung für jenen Fall als gefährdet bezeichnet wurden, daß kein Beitritt zur EU erfolgen werde. Diese Äußerung muß als Drohung und Nötigung der Bevölkerung bezeichnet werden; die Meldungen waren zu einer Zeit publiziert worden, als keine Richtigstellung mehr möglich war. ...

Ein österreichisches Spezifikum im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die große Resonanz von Bedenken gegen Gefahren auch durch die friedliche Nutzung der Atomenergie. Mit dem Beitritt Österreichs zur EU wird zugleich auch der Beitritt zur EURATOM vollzogen. Darauf haben Kritiker wiederholt hingewiesen; allerdings kam es zu einer besonders schamlosen Beleidigung eines angesehenen Völkerrechtlers, welcher diese Perspektive als kritischen Einwand gegen den Beitritt Österreichs zur EU vorbrachte. ...

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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