TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/11 Ra 2021/18/0388

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Veröffentlicht am 11.02.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §19
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §45 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A A, vertreten durch Mag. Taner Önal, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 21/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2021, W177 2152777-1/36E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Hazara aus der Provinz Ghazni, beantragte am 29. Mai 2015 (im Alter von 14 Jahren) internationalen Schutz. Im Jänner 2017 (zu diesem Zeitpunkt war der Revisionswerber 16 Jahre alt) wurde er zu seinem Antrag beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen.

2        Zu seinen Fluchtgründen gab der Revisionswerber im Wesentlichen an, seine Familie sei in das Blickfeld der Taliban geraten, die den Vater angeschossen hätten. Dem Revisionswerber als ältestem Sohn drohe bei Rückkehr ein ähnliches Schicksal.

3        Mit Bescheid vom 23. Februar 2017 wies das BFA den Antrag zur Gänze ab, erkannte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zu, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4        Dagegen erhob der Revisionswerber eine Beschwerde, in der er der Beweiswürdigung des BFA, mit der seinem Fluchtvorbringen kein Glauben geschenkt worden war, substantiiert entgegentrat und insbesondere darauf hinwies, dass er bei den Einvernahmen noch minderjährig gewesen sei. Die Behörde habe den Reifegrad des minderjährigen Revisionswerbers und die Wirkung der traumatischen Erlebnisse auf ihn vollkommen außer Acht gelassen.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig. Begründend schloss es sich der Beweiswürdigung des BFA an und verneinte in rechtlicher Hinsicht insbesondere eine dem Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan drohende asylrelevante Verfolgung.

6        Aufgrund einer Beschwerde des Revisionswerbers hob der Verfassungsgerichtshof die Entscheidung des BVwG mit Erkenntnis vom 5. Oktober 2021, E 3007/2021-8, in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte auf. Im Übrigen (also hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

7        In der vorliegenden außerordentlichen Revision, die sich nur mehr gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. geltend gemacht, der Revisionswerber habe im gesamten Verwaltungsverfahren trotz seines jungen Alters im Wesentlichen gleichbleibende Aussagen zu seinem Fluchtgrund getätigt. Trotzdem führe das BVwG in seiner Beweiswürdigung aus, der Revisionswerber habe bei der Schilderung der Fluchtgründe sehr vage, unplausible und widersprüchliche Angaben getätigt. Dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG könne nicht entnommen werden, dass das Gericht bemüht gewesen wäre, den Sachverhalt vollständig und im Sinne der - näher zitierten - höchstgerichtlichen Judikatur aufzuklären. Trotz des umfangreichen Beschwerdevorbringens habe das BVwG eine nähere Befragung des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen unterlassen.

8        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig und begründet.

11       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt § 18 AsylG 2005 für das Asylverfahren eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. etwa VwGH 23.5.2017, Ra 2017/18/0028, mwN).

12       Dazu gehört auch, den Asylwerber zu den vorgebrachten Gründen für seine Flucht näher zu befragen. Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG entgegen diesen rechtlichen Anforderungen keine ausreichende Befragung des Revisionswerbers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2021 vorgenommen hat. Die Einvernahme zu den Fluchtgründen beschränkte sich vielmehr auf die Frage, ob sich der Revisionswerber noch an die Befragungen bei der Polizei und vor dem BFA erinnern könne, ob er damals die Wahrheit gesagt habe, und ob er das, was er damals gesagt habe, heute wiederholen würde. Alle diese Fragen wurden vom Revisionswerber bejaht. Die weitere Frage, ob er etwas erläutern oder korrigieren wolle, wurde von ihm verneint. Weitere Nachfragen wurden nicht gestellt, obwohl der Revisionswerber in der Beschwerde umfangreiches Vorbringen zu seinen Fluchtgründen erstattet hatte. Selbst wenn der Revisionswerber initiativ keine weiteren Angaben machte, wäre das BVwG gehalten gewesen, seine Aussagen im Verwaltungsverfahren vor dem Hintergrund seines Beschwerdevorbringens mit ihm nochmals zu erörtern und näher zu überprüfen.

13       Dies umso mehr, als der Revisionswerber im Zeitpunkt seiner Aussagen im Verwaltungsverfahren noch minderjährig gewesen ist, er auf diesen Umstand und seinen damaligen geringeren Reifegrad in der Beschwerde ausdrücklich hingewiesen hatte und er somit in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG erstmals als Volljähriger zu den Fluchtgründen hätte einvernommen werden können.

14       Es ist auch nicht nachvollziehbar, wenn das BVwG in der Beweiswürdigung ausführt, es müsse auf die in der Beschwerde geltend gemachten speziellen Bedürfnisse eines Minderjährigen nicht mehr eingehen, weil der Revisionswerber zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ohnedies schon volljährig gewesen war (vgl. Seite 103 des Erkenntnisses).

15       In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Verwaltungsgerichtshof wiederholt gefordert hat, dass zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines - im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse - Minderjährigen eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung stattzufinden hat, bei der die vorgebrachte Fluchtgeschichte und allfällige Widersprüche in den Angaben unter dem Aspekt der Minderjährigkeit gewürdigt werden müssen. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte (vgl. VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223, mwN). Dem entspricht das angefochtene Erkenntnis nicht.

16       Angesichts des Umstandes, dass - wie erwähnt - keine nähere Einvernahme zu den Fluchtgründen vor dem BVwG stattfand, ist auch die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht nachzuvollziehen. So führte das BVwG in seiner Beweiswürdigung etwa aus, der Revisionswerber habe in der mündlichen Verhandlung den Eindruck bestätigt, sein Vorbringen je nach Lage zu einem für ihn günstigeren Vorteil abzuändern und er habe sich hierdurch in Widersprüche und Unplausibilitäten verstrickt (vgl. Seite 98 des Erkenntnisses). Weiters argumentierte das BVwG, der Revisionswerber habe in seinem Aussageverhalten den Eindruck bestätigt, zu seiner Fluchtgeschichte nur sehr oberflächlich und vage Aussagen machen zu können (vgl. Seite 99f des Erkenntnisses) bzw. habe das Gericht in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck gewinnen können, dass der Revisionswerber über etwas Erlebtes referiere (Seite 102 des Erkenntnisses); all dies, obwohl das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG überhaupt nicht näher erörtert worden ist.

17       Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis - im Umfang seiner Anfechtung - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18       Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

19       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. Februar 2022

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Parteienvernehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180388.L00

Im RIS seit

16.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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