TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/3 Ra 2020/18/0185

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Veröffentlicht am 03.02.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/18/0186
Ra 2020/18/0187
Ra 2020/18/0188

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. D A, 2. I A, 3. H A und 4. D A, alle vertreten durch Mag. Mathias Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das am 15. November 2019 mündlich verkündete und am 5. Dezember 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, I422 2208009-1/14E, I422 2208007-1/14E, I422 2208012-1/14E und I422 2208010-1/14E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die Dritt- und Viertrevisionswerber ihre minderjährigen Kinder; alle sind irakische Staatsangehörige.

2        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin beantragten nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 29. Oktober 2015 internationalen Schutz. Für die beiden Söhne stellten sie nach deren Geburt in Österreich ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Anträge im Beschwerdeverfahren in Bestätigung entsprechender Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte Fristen für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4        Gegen dieses Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 10. März 2020, E 250-253/2020-5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

5        Nur gegen die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe seine Begründungspflicht nach § 29 VwGVG verletzt, indem es sich mit den konkreten Lebensumständen, welche die Familie mit kleinen Kindern bei Rückkehr in den Irak vorfinden werde, nicht hinreichend beschäftigt habe. Im Einzelnen führt die Revision an, dass die Länderberichte betreffend den Südirak, welche das BVwG übergangen habe, eine existenzbedrohende Lage speziell für die minderjährigen Dritt- und Viertrevisionswerber dokumentieren würden.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Das BVwG begründete die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz im Wesentlichen damit, im Irak bestehe keine derartige Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK ausgesetzt wäre. Mögliche Gewaltakte erreichten kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe die Annahme zuließen, die revisionswerbenden Parteien würden bei Rückkehr in den Irak alleine durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr laufen, solcher Bedrohung ausgesetzt zu sein. Beim Erstrevisionswerber und der Zweitrevisionswerberin handle es sich um volljährige und erwerbsfähige Personen, die in der Vergangenheit im Irak auch berufstätig gewesen seien. Durch die (Wieder-)Aufnahme einer Beschäftigung sollte ihnen die Sicherung ihrer Existenz und die Versorgung ihrer Kinder im Irak möglich sein. Darüber hinaus verfügten sie über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und wären bei der Rückkehr nicht vollkommen auf sich allein gestellt. Zum Vorbringen, wonach die Wasserknappheit im Südirak einer Rückkehr entgegenstehe, sei darauf zu verweisen, dass nach den Länderinformationen die Bewohner von Basra - trotz Wasserknappheit - Zugang zu sauberem Trinkwasser hätten, sofern sie dieses käuflich erwerben würden.

10       Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG mit dieser (kurzen) Begründung der besonderen Situation einer Familie mit kleinen Kindern, wie sie im gegenständlichen Fall vorliegt, nicht gerecht wird.

11       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht vor allem unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern die Verpflichtung, eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die eine Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr zu erwarten habe, durchzuführen und sich mit der konkreten Rückkehrsituation zu beschäftigen (vgl. VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474; VwGH 19.6.2019, Ra 2019/18/0084, mwN).

12       Das BVwG geht auf die besonderen existenzbedrohenden Schwierigkeiten, die eine Familie mit kleinen Kindern bei Rückkehr erwarten könnten, nur insoweit ein, als es vermutet, dass der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin ihre berufliche Tätigkeit im Irak wiederaufnehmen könnten, um den Lebensunterhalt für die Familie zu erwirtschaften und die Grundversorgung sicherzustellen. Außerdem nimmt es eine nicht näher konkretisierte Möglichkeit zur Hilfestellung durch im Irak lebende Familienmitglieder an.

13       Ob diese Annahmen vor dem Hintergrund der im Verfahren zugänglichen Länderberichte zur Wirtschafts- und Versorgungslage im Südirak und der individuellen Umstände des vorliegenden Falles konkret zutreffen, wurde vom BVwG nicht überprüft. Insbesondere bleibt gänzlich unklar, wo die Familie nach einer Rückkehr in den Irak zunächst leben sollte und ob allfällige Verwandte sie tatsächlich unterstützen könnten. Die Revision weist auch zutreffend darauf hin, dass sich das BVwG mit der hohen Armutsgefahr speziell für Kinder sowie der Wasserknappheit im Südirak und ihren Auswirkungen (etwa auf die Gesundheit), wie sie den einschlägigen Länderberichten entnommen werden können, nur unzureichend auseinandergesetzt hat. So gesteht es zwar massive Versorgungsengpässe bei Trinkwasser ein, meint aber, die revisionswerbenden Parteien auf käufliches Trinkwasser verweisen zu können, ohne auf die hohen Kosten, die in diesem Fall für die Familie anfallen würden und die in den Länderberichten ebenfalls dokumentiert werden, näher einzugehen.

14       Damit hat das BVwG seine Entscheidung mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG nach konkreter Auseinandersetzung mit der tatsächlich vorzufindenden Rückkehrsituation zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können.

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Ein Zuspruch der begehrten Eingabegebühren hat infolge Bewilligung der Verfahrenshilfe in diesem Umfang zu unterbleiben.

Wien, am 3. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180185.L00

Im RIS seit

14.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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