TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/3 Ra 2021/01/0254

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Veröffentlicht am 03.02.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §66 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs1
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §28 Abs5
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §31 Abs1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juni 2021, Zlen. 1. W247 2181322-1/27E, 2. W247 2181319-1/19E, 3. W247 2181306-1/21E, 4. W247 2181310-1/19E, 5. W247 2181308-1/19E und 6. W247 2181313-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. Z I, 2. Z I, 3. A I, 4. K I, 5. F I, und 6. M I, Letztere gesetzlich vertreten durch Z I, alle in Stegersbach), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die mitbeteiligten Parteien sind nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) Staatsangehörige von Kasachstan. Sie stellten am 8. September 2015 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz, in denen sie jedoch alle gleichermaßen die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation angegeben hatten.

2        Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Amtsrevisionswerber) jeweils vom 20. November 2017 wurden jeweils in der Annahme einer Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation die Anträge der mitbeteiligten Parteien vollinhaltlich abgewiesen, keine Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt, Rückkehrentscheidungen erlassen, festgestellt, dass eine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

3        Gegen diese Bescheide erhoben die mitbeteiligten Parteien Beschwerde an das BVwG.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurden die Bescheide „gemäß § 28 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 5“ VwGVG „ersatzlos behoben“ und ausgesprochen, dass eine Revision nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das BVwG (u.a.) aus, dass die mitbeteiligten Parteien nicht - wie vom Amtsrevisionswerber angenommen - Staatsangehörige der Russischen Föderation, sondern von Kasachstan seien. Der Amtsrevisionswerber habe nur ansatzweise ermittelt und somit falsche Staatsangehörigkeiten angenommen. Da mittlerweile die Staatsangehörigkeit der mitbeteiligten Parteien feststehe, sei eine Kassation aber nicht mehr zielführend. Gleichzeitig könne das Vorbringen der mitbeteiligten Parteien aber nicht erstmalig vom BVwG im Hinblick auf den Herkunftsstaat Kasachstan geprüft werden, weil sich andernfalls der Rechtsweg der mitbeteiligten Parteien um eine Instanz verkürzen würde. Den mitbeteiligten Parteien sei eine Prüfung ihrer Anträge bezogen auf den richtigen Herkunftsstaat verweigert worden. Insgesamt hätten jene Spruchpunkte der Bescheide, die sich auf den Herkunftsstaat „Russische Förderation“ bezögen, nie ergehen dürfen. Hinzu komme auch, dass in der Beschwerde kein Vorbringen im Hinblick auf den Herkunftsstaat Kasachstan erstattet worden sei. Nach § 27 VwGVG sei eine auf Kasachstan bezogene inhaltliche Prüfung der Beschwerde nicht Sache des gegenständlichen Verfahrens.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zulässigkeit

7        Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von näher zititierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Prüfungsumfang des Beschwerdeverfahrens gemäß § 27 VwGVG und zur ersatzlosen Behebung eines Bescheides abgewichen. Letztere komme nur dann in Betracht, wenn eine andere Entscheidung über den Antrag zu treffen sei und diese nicht von der Sache des Beschwerdeverfahrens umfasst sei. Zudem fehle es an Rechtsprechung zur Frage, ob die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit eine ersatzlose Aufhebung des Bescheides rechtfertige.

8        Die Amtsrevision ist zulässig; sie ist auch zur Frage des Prüfungsumfanges des Beschwerdeverfahrens begründet.

Ersatzlose Behebung

9        Die ersatzlose Behebung des Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht stellt eine Entscheidung in der Sache selbst dar. Ein solcherart in Form eines Erkenntnisses gefasster Spruch eines Verwaltungsgerichtes schließt eine neuerliche Entscheidung über den Verfahrensgegenstand durch die Verwaltungsbehörde grundsätzlich aus. Zu § 66 Abs. 2 AVG hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass die Zurückverweisung der Sache an die Behörde erster Instanz nach dieser Bestimmung nicht „ersatzlos“ erfolgen kann, verfolgt sie doch ausdrücklich den Zweck der Erlassung eines neuen Bescheides. Geht aber aus der Begründung des Bescheides hervor, dass die Behörde zum einen den Bescheid beheben, zum anderen aber gleichzeitig in der Sache für das fortgesetzte Verfahren bestimmte Aufträge an die Unterbehörde weitergeben wollte, ist diese Vorgangsweise ungeachtet der Verwendung des Wortes „ersatzlos“ als Zurückverweisung nach § 66 Abs. 2 AVG anzusehen. Dieser Gedanke lässt sich auf die verwaltungsgerichtliche Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG übertragen. Eine solche materielle Gesamtbetrachtung ist ungeachtet der Tatsache vorzunehmen, dass eine „ersatzlose Behebung“ durch das Verwaltungsgericht - wie bereits ausgeführt - in Form eines Erkenntnisses, die verwaltungsgerichtliche Aufhebung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGG jedoch in Beschlussform zu ergehen hat (vgl. zu allem VwGH 4.3.2021, Ra 2020/07/0039, mwN).

10       Das BVwG hat mit dem angefochtenen Erkenntnis die Bescheide des Amtsrevisionswerbers ersatzlos behoben, ohne eine Zurückverweisung der Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an den Amtsrevisionswerber auszusprechen. Hiebei ging das BVwG in der Begründung seines Erkenntnisses auch nicht von einem fortzusetzenden Verfahren aus.

11       Sofern das BVwG Ermittlungslücken bei der inhaltlichen Prüfung der Anträge in Bezug auf den Herkunftsstaat Kasachstan erkennen möchte, legt es nicht dar, inwiefern es vom Vorliegen besonders krasser bzw. gravierender Ermittlungslücken ausgegangen wäre (vgl. dazu etwa VwGH 13.9.2021, Ra 2021/01/0090, mwN, wonach von der Möglichkeit der Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden darf).

12       Eine Entscheidung des BVwG in der Sache selbst hätte daher im gegenständlichen Verfahren nicht durch ersatzlose Aufhebung der bei ihm angefochtenen verwaltungsbehördlichen Bescheide erfolgen dürfen; sie hätte vielmehr im Wege einer inhaltlichen Entscheidung über die von den mitbeteiligten Parteien gestellten Anträge auf internationalen Schutz erfolgen müssen (soweit nicht die Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgelegen wären, was das BVwG aber - wie erwähnt - nicht dargelegt hat; vgl. etwa VwGH 23.3.2016, Ra 2016/12/0008, mwN).

Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichts

13       Wenn im Zuge des Beschwerdeverfahrens hervorgekommen ist, dass die mitbeteiligten Parteien entgegen ihren Angaben in den Anträgen auf internationalen Schutz die Staatsangehörigkeit Kasachstans erworben hatten, so hätte dieser Umstand keine Zurückverweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde gerechtfertigt, sondern es hätte das BVwG diesen Umstand selbst einer meritorischen Beurteilung unterziehen müssen.

14       Das BVwG führte darüber hinaus auch aus, es könne die von den mitbeteiligten Parteien gestellten Anträge auf internationalen Schutz im Hinblick auf Kasachstan nicht prüfen, weil es in der Beschwerde kein Vorbringen in Bezug auf diesen Herkunftsstaat gegeben habe. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, stellt der Wortlaut des § 27 VwGVG - „auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4)“ - unter anderem klar, dass der Gesetzgeber den Prüfungsumfang nicht ausschließlich an das Vorbringen der jeweiligen beschwerdeführenden Partei binden wollte. Eine Auslegung des § 27 VwGVG dahingehend, dass die Prüfbefugnis der Verwaltungsgerichte jedenfalls stark eingeschränkt zu verstehen wäre, ist daher unzutreffend. Entscheidet das Verwaltungsgericht „in der Sache selbst“, hat es nicht nur über die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde abzusprechen, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen, die von der Verwaltungsbehörde entschieden wurde (vgl. VwGH 24.4.2018, Ra 2017/17/0895, mwN).

15       „Sache“ des vorliegenden Verfahrens ist die Entscheidung über die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz (vgl. oben Rn. 12).

16       Das Verwaltungsgericht ist bei der Prüfung dieser Sache auf Grund der Beschwerde in seiner rechtlichen Beurteilung an das Beschwerdevorbringen nicht gebunden, und es darf auch Sachverhaltselemente, die bei der Prüfung auf Grund der Beschwerde im gerichtlichen Verfahren hervorgekommen sind, seiner Entscheidung zu Grunde legen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 25.1.2017, Ra 2016/10/0143, mit Verweis auf VwGH 17.12.2014, Ro 2014/03/0066).

17       Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsansicht des BVwG unrichtig, wonach es keine meritorische Entscheidung (inhaltliche Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz) treffen dürfe, weil es die Bescheide allein auf Grund des Beschwerdevorbringens zu prüfen habe, in diesem aber kein Vorbringen zum vom BVwG angenommenen Herkunftsstaat Kasachstan enthalten sei.

Ergebnis

18       Da das BVwG somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 3. Februar 2022

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Individuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010254.L00

Im RIS seit

07.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

26.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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