TE Vwgh Erkenntnis 2022/1/13 Ra 2018/22/0020

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Veröffentlicht am 13.01.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verfassungsgerichtshof
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 idF 2012/I/087
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §20
AsylG 2005 §20 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §59
Geschäftsverteilung BVwG
Geschäftsverteilung BVwG §6 Abs1 Z4
VwGG §42 Abs2 Z2
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 2017, W215 1434046-3/3E, W215 1434047-3/3E, W215 1434048-3/3E, W215 2007928-3/3E, betreffend Anträge auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 sowie Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen (mitbeteiligte Parteien: 1. Kameta Elderbieva, geboren am 4. Oktober 1976, 2. mj. Salman Elderbiev, geboren am 6. August 2007, 3. mj. Selima Elderbieva, geboren am 27. Juni 2009, und 4. mj. Saihan Elderbiev, geboren am 18. Jänner 2014; zweit- bis viertmitbeteiligte Parteien vertreten durch die erstmitbeteiligte Partei, alle in 4400 Steyr, Fabrikstraße 14/4), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.

Begründung

1.1. Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter des Zweit-, der Dritt- und des Viertmitbeteiligten. Alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.

1.2. Das Bundesverwaltungsgericht erteilte mit Erkenntnis vom 10. Juni 2016 im Beschwerdeverfahren den Mitbeteiligten jeweils eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) für die Dauer von zwölf Monaten.

Das Bundesverwaltungsgericht führte dazu im Wesentlichen aus, es sei zu regelmäßigen gewalttätigen Übergriffen des geschiedenen Ehemanns der Erstmitbeteiligten und Vaters des Zweit-, der Dritt- und des Viertmitbeteiligten (im Folgenden nur: geschiedener Ehemann) gegen die Mitbeteiligten gekommen. Aufgrund dessen seien (auch) vom Bezirksgericht Steyr einstweilige Verfügungen nach §§ 382b, 382e EO erlassen worden. Den Mitbeteiligten drohten im Herkunftsstaat neuerliche Übergriffe durch den geschiedenen Ehemann, wobei der Schutz vor häuslicher Gewalt in der Teilrepublik Tschetschenien im Hinblick auf die Länderberichte unzureichend sei. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung zum Schutz vor weiterer Gewalt gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 sei daher erforderlich (gewesen).

2.1. In der Folge beantragten die Mitbeteiligten jeweils die Verlängerung ihrer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 in Verbindung mit § 59 AsylG 2005.

2.2. Mit Bescheid vom 6. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Behörde) die Verlängerungsanträge ab. Es erließ gegen die Mitbeteiligten jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte die Frist für ihre freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

Die Behörde führte dazu im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung seien nicht gegeben. Ein Schutz vor weiterer Gewalt durch den geschiedenen Ehemann sei nicht erforderlich. Es liege auch keine einstweilige Verfügung nach §§ 382b, 382e EO mehr vor. In Ermangelung eines Kontakts der Mitbeteiligten mit dem geschiedenen Ehemann und aufgrund dessen Aufenthalts im Bundesgebiet sei das Gefährdungspotenzial im Herkunftsstaat geringer als in Österreich. Eine Integration der Erstmitbeteiligten und ihrer minderjährigen Kinder im Herkunftsstaat sei möglich; sie könnten dort allenfalls auch ein staatliches Frauenhaus aufsuchen.

3.1. Gegen diesen Bescheid erhoben die Mitbeteiligten Beschwerde. Die Beschwerdesache wurde am 15. November 2017 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig und einem Richter zugewiesen. Dieser zeigte - gestützt auf § 20 AsylG 2005 - wegen eines von der Erstmitbeteiligten im behördlichen Verfahren behaupteten Eingriffs in ihre sexuelle Selbstbestimmung (durch den geschiedenen Ehemann) seine Unzuständigkeit gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 der Geschäftsverteilung 2017 des Bundesverwaltungsgerichts (in der im Zeitpunkt des Anfalls der Sache maßgeblichen Fassung vom 2. November 2017; GV-BVwG 2017) an. Die Sache wurde daraufhin einer Richterin zugewiesen, die sich nicht für unzuständig erachtete.

3.2. Mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 30. November 2017 gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge, indem es den bekämpften Bescheid behob und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG an die Behörde zur neuerlichen Entscheidung zurückverwies.

Das Bundesverwaltungsgericht führte im Wesentlichen aus, die Behörde habe den Mitbeteiligten im Rahmen eines schriftlichen Parteiengehörs Fragen gestellt, ohne sich mit sämtlichen Antworten auseinanderzusetzen. Die Erstmitbeteiligte hätte aufgrund des Vorbringens, dass sie im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Angst habe, ihr würden wegen der Ehescheidung die Kinder weggenommen und sie würde ein Opfer von Gewalt, persönlich einvernommen werden müssen. Auch wäre zu klären gewesen, ob der in Österreich nicht gemeldete geschiedene Ehemann - wie behauptet - Kontakt zu den Kindern habe, setze doch die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigungen voraus, dass die Mitbeteiligten (auch) in Zukunft von Gewalttaten betroffen sein könnten. Das Ermittlungsverfahren sei weiters insofern mangelhaft geblieben, als die im Bescheid festgestellten Länderberichte nicht als hinreichend aktuell erachtet werden könnten. Aktuelle Berichte wären jedoch für die Beurteilung, ob die Erstmitbeteiligte für ihre drei minderjährigen Kinder sorgen könne, erforderlich gewesen. Eine Nachholung der Ermittlungen durch das Bundesverwaltungsgericht sei auch nicht im Sinn des Gesetzes, weil dies gleichsam zu einer „Delegierung“ der Ermittlungstätigkeit durch die Behörde an das Verwaltungsgericht führen würde.

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4.1. Gegen diesen Beschluss wendet sich die außerordentliche Amtsrevision, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Behörde macht unter anderem geltend, die Beschwerdesache sei aufgrund der Unzuständigkeitseinrede eines Richters im Hinblick auf § 20 AsylG 2005 an eine Richterin neu zugeteilt worden. Die genannte Bestimmung sei jedoch in einem Verfahren betreffend die Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht anwendbar, weil die Mitbeteiligten keine Asylwerber seien und es auch nicht um Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung gehe. Eine Unzuständigkeit des zunächst mit der Sache befassten Richters aufgrund des § 20 AsylG 2005 sei daher nicht vorgelegen. Folglich habe die Neuzuteilung an eine Richterin und die Entscheidung der Sache durch diese die Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts bewirkt.

4.2. Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig und auch begründet.

5.1. Gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Asylwerber von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, wenn er seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, es sei denn, dass er anderes verlangt. Nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005 gilt für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht Abs. 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

5.2. Bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 („Asylwerber“ ... „Furcht vor Verfolgung“) ist abzuleiten, dass die genannte Bestimmung nur auf Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz anzuwenden ist. Ein Antrag auf internationalen Schutz ist gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 das - auf welche Weise auch immer artikulierte - Ersuchen eines Fremden in Österreich, sich dem Schutz Österreichs unterstellen zu dürfen; der Antrag gilt als Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bei Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten.

Durch die im Zuge der Novelle des AsylG 2005, BGBl. I Nr. 87/2012, erfolgte Änderung der Überschrift des 4. Hauptstückes von „Verfahrensrecht“ auf „Asylverfahrensrecht“ wurde zudem ausdrücklich klargestellt, dass die besonderen Verfahrensbestimmungen dieses Hauptstückes lediglich auf Verfahren im Zusammenhang mit einem Antrag auf internationalen Schutz anwendbar sein sollen (vgl. dazu ErläutRV 1803 BlgNR 24. GP 40 f).

5.3. Dem gegenständlichen Verfahren liegt freilich kein Antrag auf internationalen Schutz, sondern ein Antrag auf Verlängerung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 in Verbindung mit § 59 AsylG 2005 zugrunde. Die Heranziehung des im 4. Hauptstück enthaltenen § 20 AsylG 2005 durch das Bundesverwaltungsgericht war daher verfehlt.

6.1. Gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 GV-BVwG 2017 (in der schon genannten maßgeblichen Fassung) ist eine Richterin oder ein Richter im Sinn dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist.

6.2. Nach dem Gesagten wäre § 20 AsylG 2005 im vorliegenden Fall nicht maßgeblich gewesen. Folglich hätte sich der Richter, dem die Beschwerdesache (zunächst) zugewiesen war, nicht auf § 6 Abs. 1 Z 4 GV-BVwG 2017 berufen dürfen, und es hätte nicht die Neuzuweisung an eine Richterin erfolgen dürfen. Diese war somit für die Durchführung des Verfahrens und die Entscheidung der Sache nach der Geschäftsverteilung nicht zuständig.

6.3. Entscheidet - wie hier - ein nach der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zuständiger (Einzel)Richter, so führt dies im Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof zur Aufhebung der Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0032, Rn. 11 mwN).

7. Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben.

Wien, am 13. Jänner 2022

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2018220020.L00

Im RIS seit

28.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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