TE Vwgh Erkenntnis 2022/1/25 Ro 2021/14/0003

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.01.2022
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §18
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §39 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des F A in W, vertreten durch RA Dr. Gernot Breitmeyer, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Neustiftgasse 3/3, dieser vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2 (Einvernehmensrechtsanwalt gemäß § 14 EIRAG: Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 2021, W122 2238318-1/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Syriens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, beantragte am 27. Dezember 2019 internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 und brachte zusammengefasst vor, aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung sowohl durch syrische Regierungstruppen als auch durch kurdische Kämpfer, der Kriegssituation und den allgemein schlechten Lebensumständen in Syrien sein Heimatland verlassen zu haben.

2        Mit Bescheid vom 30. November 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz in Bezug auf den begehrten Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) zu und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3        Die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig. Dies begründete das BVwG mit dem Fehlen von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes „zur Frage des Unterstellens oppositioneller Gesinnung ohne Hinzukommen regierungs- oder wehrdienstfeindlicher Aktivitäten und Überzeugungen in Bezug auf wehrfähige Syrer“.

4        Im Rahmen der Begründung der Beschwerdeabweisung führte das BVwG zusammengefasst aus, dass das vage Vorbringen zur Rekrutierung durch syrische Regierungstruppen nicht glaubwürdig sei, der Revisionswerber selbst vermute lediglich eine Einziehung zum Reservedienst und dem dazu erstatteten Vorbringen mangle es an Details. Auch sei aufgrund des Alters des Revisionswerbers und seiner Tätigkeit als einfacher Soldat während seines eigentlichen Wehrdienstes eine Einberufung nicht sehr wahrscheinlich. Es lägen keine Indizien dafür vor, dass sich der Revisionswerber dem Wehrdienst tatsächlich entzogen habe, eine asylrelevante Verfolgung sei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festzustellen.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision, die sich unter einem der Zulässigkeitsbegründung des BVwG mit weiteren Ausführungen anschließt und darüber hinaus zusammengefasst ausführt, das BVwG habe sich ohne jegliche Begründung über das Vorbringen zur Zwangsrekrutierung des Revisionswerbers durch kurdische Kämpfer ebenso hinweggesetzt wie über das Vorbringen zur Zwangsüberlassung seiner minderjährigen Tochter an diese Truppen und betreffend den Übergriff auf seine Ehefrau. Aus näher zitierten Länderfeststellungen des BVwG gehe klar hervor, dass Zwangsrekrutierungen, insbesondere durch die YPG (die kurdische Volksbefreiungsarmee), stattfänden und dass die Sanktionen für eine Weigerung, sich dieser als Soldat anzuschließen, mit den Sanktionen durch das syrische Regime vergleichbar seien. Hätte sich das BVwG in der von ihm geforderten Weise mit dem Parteienvorbringen und den im Erkenntnis zitierten Länderberichten auseinandergesetzt und entsprechende Feststellungen getroffen, wäre es zum Ergebnis gelangt, dass sowohl der Revisionswerber als auch seine Familie mit Sanktionen im verfolgungsrelevanten Ausmaß rechnen müssten. Weiters sei das BVwG von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu syrischen Wehrdienstverweigerern abgewichen.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision erweist sich jedenfalls aufgrund des Zulässigkeitsvorbringens der Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 18.11.2020, Ra 2020/18/0058, mwN).

10       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. erneut VwGH Ra 2020/18/0058, mwN).

11       Die Revision zeigt zutreffend auf, dass der Revisionswerber nach der Aktenlage konsistente Angaben zu der von ihm vorgebrachten versuchten Zwangsrekrutierung gemacht sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG weiteres Vorbringen hinsichtlich seiner Ehegattin und seiner minderjährigen Tochter im Zusammenhang mit der Zwangsrekrutierung durch kurdische Kämpfer und den daraus für den Revisionswerber resultierenden Folgen erstattet hat.

12       Das BVwG hat sich weder im Rahmen seiner Beweiswürdigung mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt noch Feststellungen dazu getroffen, sondern dieses Vorbringen lediglich im Rahmen der Schilderung des Verfahrensgangs wiedergegeben. Aus den vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen ergibt sich, dass Rekrutierungen durch die kurdischen Volksverteidigungskräfte von Männern über 30 Jahren vorkommen können und es auch zu Zwangsrekrutierungen von Frauen und Mädchen kommen könne. Es wäre fallbezogen erforderlich gewesen, auf das gesamte Vorbringen des Revisionswerbers, dem im Asylverfahren nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zentrale Bedeutung zukommt, näher einzugehen (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472) und schlüssig festzustellen, ob und verneinendenfalls weshalb der Revisionswerber von der Zwangsrekrutierung (bzw. seine Ehefrau und Tochter von der Zwangsüberlassung) nicht betroffen sei.

13       Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG daher nach einem vollständigen Ermittlungsverfahren - unter Einbeziehung aktueller Länderberichte zu Syrien - mit dem gesamten Vorbringen des Revisionswerbers auseinanderzusetzen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob ihm in Syrien Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohe (vgl. zur möglichen Asylrelevanz der Wehrdienstverweigerung etwa auch VwGH 21.5.2021, Ro 2020/19/0001).

14       Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung des aufgezeigten Verfahrensfehlers im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Bei diesem Ergebnis konnte eine Auseinandersetzung sowohl mit dem weiteren Revisionsvorbringen als auch mit der Begründung der Zulässigkeit der Revision durch das BVwG entfallen.

15       Bei diesem Ergebnis konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

16       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Jänner 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021140003.J00

Im RIS seit

23.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten