TE Vfgh Erkenntnis 2021/12/15 V520/2020 ua (V520/2020-13, V189/2021-10)

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Index

90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §43 Abs1, §44 Abs1, §52, §94d
GeschwindigkeitsbeschränkungsV der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15.11.2007
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkungsverordnung einer Tiroler Gemeinde; mangelhafte Kundmachung der Verordnung durch signifikante Abweichung des Aufstellungsortes der Verkehrszeichen vom räumlichen Geltungsbereich der Verordnung

Spruch

I. Die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Z 2474/07, war gesetzwidrig.

II. Die Tiroler Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anträge

Mit den vorliegenden, zu V520/2020 sowie zu V189/2021 protokollierten, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Anträgen begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Z 2474/07, als gesetzwidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

1. Die angefochtene – mit Inkrafttreten der Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 19. Oktober 2020, Z 2318/20, am 22. Oktober 2020 außer Kraft getretene – Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Z 2474/07, lautet (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Gemäß §§43, 94d der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBI Nr 159/60 i.d.dzt.g.F. und §§12, 28 Tiroler Gemeindeordnung wird mit Beschluss des Gemeinderates der Stadt Kitzbühel vom 12.11.2007 im Interesse der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs verordnet:

Geschwindigkeitsbeschränkung 30 km/h gem. §52 a Zif. 10a u. 10b StVO auf der Gemeindestraße 'Klostergasse' von der Blumeninsel vor der Einfahrt zur Landesmusikschule bis 10 m nördlich, nach dem vor dem Haus Klostergasse Nr 1 befindlichen Schutzweg, in beiden Fahrtrichtungen.

Verkehrszeichen:

'Geschwindigkeitsbeschränkung 30 km/h' (§52 a Zif. 10 a und b StVO).

Aufstellungsort:

a) auf der Blumeninsel vor der Einfahrt zur Landesmusikschule

b) 10 m nördlich nach dem vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweg

Diese Verordnung ist gemäß §44 Straßenverkehrsordnung 1960 durch die ordnungsgemäße Anbringung der oben genannten Straßenverkehrszeichen kundzumachen und tritt mit der Errichtung der vorgeschriebenen Zeichen in Kraft.

Der diesbezügliche Aufstellungsort ist vom Straßenerhalter bzw dessen Organ der Behörde mitzuteilen, damit sie in die Lage versetzt wird, den Aktenvermerk (§16 AVG 1991) über das Inkrafttreten der Verordnung zu verfassen.

Die Anbringungspflicht und Tragung der Kosten für die Einrichtung zur Regelung und Sicherung des Verkehrs wird durch §32 StVO bestimmt.

Ergeht an:

[…]

[…]

[Der] Bürgermeister"

2. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960, idF BGBl I 37/2019 und BGBl I 77/2019 lauten:

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. den Straßenbenützern ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, insbesondere bestimmte Gruppen von der Benützung einer Straße oder eines Straßenteiles auszuschließen oder sie auf besonders bezeichnete Straßenteile zu verweisen;

c) – d) […]

(1a) – (11) […]

§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. […] Als Straßenverkehrszeichen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen die Vorschriftszeichen sowie die Hinweiszeichen 'Autobahn', 'Ende der Autobahn', 'Autostraße', 'Ende der Autostraße', 'Einbahnstraße', 'Ortstafel', 'Ortsende', 'Internationaler Hauptverkehrsweg', 'Straße mit Vorrang', 'Straße ohne Vorrang', 'Straße für Omnibusse' und 'Fahrstreifen für Omnibusse' in Betracht. Als Bodenmarkierungen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen Markierungen, die ein Verbot oder Gebot bedeuten, wie etwa Sperrlinien, Haltelinien vor Kreuzungen, Richtungspfeile, Sperrflächen, Zickzacklinien, Schutzwegmarkierungen oder Radfahrerüberfahrtmarkierungen in Betracht.

(1a) – (5) […]

§52. Die Vorschriftszeichen

Die Vorschriftszeichen sind

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen,

b) Gebotszeichen oder

c) Vorrangzeichen.

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen

1. – 9d. […]

10a. 'GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG (ERLAUBTE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT)'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt an, dass das Überschreiten der Fahrgeschwindigkeit, die als Stundenkilometeranzahl im Zeichen angegeben ist, ab dem Standort des Zeichens verboten ist. […]

10b. 'ENDE DER GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung an. Es ist nach jedem Zeichen gemäß Z10a anzubringen und kann auch auf der Rückseite des für die Gegenrichtung geltenden Zeichens angebracht werden. Es kann entfallen, wenn am Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Geschwindigkeitsbeschränkung, sei es auch nicht aufgrund dieses Bundesgesetzes, beginnt.

11. – 25b. […]

§94d. Eigener Wirkungsbereich der Gemeinde

Sofern der Akt der Vollziehung nur für das Gebiet der betreffenden Gemeinde wirksam werden und sich auf Straßen, die nach den Rechtsvorschriften weder als Autobahnen, Autostraßen, Bundesstraßen oder Landesstraßen gelten noch diesen Straßen gleichzuhalten sind, beziehen soll, sind folgende Angelegenheiten von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu besorgen:

1 – 3a. […]

4. die Erlassung von Verordnungen nach §43, mit denen

a) – c) […]

d) Geschwindigkeitsbeschränkungen

erlassen werden,

4a. – 25b. […]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Den zu V520/2020 protokollierten Antrag betreffend:

1.1. Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist ein Verfahren über eine Beschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel vom 12. Mai 2020, Z VK-11752-2019, anhängig, mit dem über die Beschwerdeführerin gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 35,– (Ersatzfreiheitsstrafe 16 Stunden) verhängt wurde, weil diese am 26. Juni 2019 um 15.37 Uhr in der Gemeinde Kitzbühel auf der Klostergasse bei Hausnummer 2 als Lenkerin eines dem Kennzeichen nach bestimmten Fahrzeuges die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 10 km/h überschritten und damit eine Verwaltungsübertretung nach §52 lita Z10a StVO 1960 begangen habe.

1.2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol nach Art139 Abs1 Z1 B-VG den Antrag, der "Verfassungsgerichtshof möge die ganze Verordnung der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Zl 2474/07[,] gemäß Art139 Abs3 Z3 B-VG wegen Kundmachung in gesetzwidriger Weise aufheben."

1.2.1. Zur Präjudizialität führt das Landesverwaltungsgericht Tirol aus, dass es die angefochtene Verordnung seiner Entscheidung über die Beschwerde zugrunde zu legen habe.

1.2.2. Seine Bedenken zur nicht ordnungsgemäßen Kundmachung der angefochtenen Verordnung legt das Verwaltungsgericht wie folgt dar:

"Von Seiten der Stadtpolizei Kitzbühel wurde im Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol mitgeteilt, dass das Vorschriftszeichen 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' (§52a Z10b StVO) nach Umbauarbeiten der Kreuzung Franz Reisch Straße – Klostergasse im Jahr 2015 20 Meter nördlich nach dem vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweg aufgestellt wurde.

Das Vorschriftszeichen 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' ist daher nicht — wie in der Verordnung verfügt — 10 Meter nördlich nach dem vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweg angebracht.

Der Aufstellungsort des Vorschriftszeichens 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' weicht 10 m von jenem Ort, der in der Verordnung als Ende des Bereichs mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung normiert wurde, ab.

Bei einer Abweichung von 10 m liegt eine signifikante Abweichung vor […].

Die Nichtübereinstimmung des verordnungsmäßig festgelegten Endes der Geschwindigkeitsbegrenzung mit dem tatsächlich kundgemachten Ort führt zu einer nichtgesetzmäßigen Kundmachung im Sinn des §44 Abs1 StVO 1960 und damit zur Rechtswidrigkeit der Verordnung."

1.3. Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel hat keine Äußerung erstattet. Die Stadtgemeinde Kitzbühel hat die Verordnungsakten vorgelegt, auf die Ausführungen der Stadtpolizei Kitzbühel im Verfahren vor dem antragstellenden Verwaltungsgericht verwiesen sowie darauf hingewiesen, dass dem Gemeinderat in der Sitzung am 19. Oktober 2020 eine neue Verordnung zur Beschlussfassung vorgelegt werde.

1.4. Die Tiroler Landesregierung hat keine Äußerung erstattet.

2. Den zu V189/2021 protokollierten Antrag betreffend:

2.1. Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist ein Verfahren über eine Beschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel vom 17. Juni 2020, Z VK-1216-2020, anhängig, mit dem über dieselbe Beschwerdeführerin gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 30,– (Ersatzfreiheitsstrafe 13 Stunden) verhängt wurde, weil diese am 31. Oktober 2019 um 18.34 Uhr in der Gemeinde Kitzbühel auf der Klostergasse bei Hausnummer 2 als Lenkerin eines dem Kennzeichen nach bestimmten Fahrzeuges die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 7 km/h überschritten und damit eine Verwaltungsübertretung nach §52 lita Z10a StVO 1960 begangen habe.

2.2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol nach Art139 Abs1 Z1 B-VG den Antrag, der "Verfassungsgerichtshof möge die Verordnung der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Zl 2474/07[,] aufheben."

2.2.1. Zur Präjudizialität führt das Landesverwaltungsgericht Tirol aus, dass es die angefochtene Verordnung seiner Entscheidung über die Beschwerde zugrunde zu legen habe.

2.2.2. Seine Bedenken zur mangelnden Determinierung der angefochtenen Verordnung legt das Verwaltungsgericht wie folgt dar (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Mit Verordnung der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15.11.2007, ZI 2474/07, wurde 'auf der Gemeindestraße 'Klostergasse' von der Blumeninsel vor der Einfahrt zur Landesmusikschule bis 10 m nördlich, nach dem vor dem Haus Klostergasse Nummer 1 befindlichen Schutzweg, in beiden Fahrtrichtungen' eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h festgelegt.

In Hinblick auf die […] Anforderungen, welche nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung an derartige Verordnungen zu stellen sind, ist festzuhalten, dass die im betreffenden Bereich der Klostergasse aktuell vorhandene[…] Grünfläche ('Blumeninsel') parallel zur Fahrtrichtung auf der Klostergasse eine Länge von ca. 12 m aufweist […]. Es kann sohin nicht festgestellt werden, dass als Beginn der mit einer verkehrsbeschränkenden Maßnahme belegten Strecke ein bestimmter Punkt festgelegt worden wäre. Tatsächlich könnte nach der gewählten Formulierung der Beginn dieser Strecke um bis zu 12 m differieren. Auch ist festzustellen, dass die Entfernung von der 'Blumeninsel' bis 'nach dem vor dem Haus Klostergasse Nummer 1 befindlichen Schutzweg' ca. 14,80 m beträgt […]. Dies ist mit der in der Verordnung der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15.11.2007 getroffenen Anordnung, die Verkehrsbeschränkung ende nach 10 m ebendort, nicht vereinbar. Somit ist ein bestimmter Punkt, an welchem die Verkehrsbeschränkung enden solle, ebenso wenig zu erkennen – dies bei einer Variationsbreite von fast 5,00 m. Seitens des Landesverwaltungsgerichts bestehen daher insofern Bedenken gegen die Verordnung der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15.11.2007, ZI 2474/07, als die Wortfolge 'von der Blumeninsel vor der Einfahrt zur Landesmusikschule bis 10 m nördlich, nach dem vor dem Haus Klostergasse Nummer 1 befindlichen Schutzweg' gegen das Determinierungsgebot verstößt."

2.2.3. Seine Bedenken zur nicht ordnungsgemäßen Kundmachung der angefochtenen Verordnung legt das Verwaltungsgericht wie folgt dar:

"Wie die Stadtpolizei Kitzbühel in dem dieselbe Verordnung betreffenden Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol zu Zl LVwG-2020/15/1263 mitteilte, wurde das Vorschriftszeichen 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' (§52a Z10b StVO) nach Umbauarbeiten der Kreuzung Franz Reisch Straße – Klostergasse im Jahr 2015 20 Meter nördlich nach dem vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweg aufgestellt.

Das Vorschriftszeichen 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' ist daher nicht – wie in der Verordnung verfügt – 10 Meter nördlich nach dem vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweg angebracht.

Der Aufstellungsort des Vorschriftszeichens 'Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung' weicht 10 m von jenem Ort, der in der Verordnung als Ende des Bereichs mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung normiert wurde, ab.

Bei einer Abweichung von 10 m liegt eine signifikante Abweichung vor […].

Die Nichtübereinstimmung des verordnungsmäßig festgelegten Endes der Geschwindigkeitsbegrenzung mit dem tatsächlich kundgemachten Ort führt zu einer nichtgesetzmäßigen Kundmachung im Sinn des §44 Abs1 StVO 1960 und damit zur Rechtswidrigkeit der Verordnung."

2.3. Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel hat keine Äußerung erstattet. Die Stadtgemeinde Kitzbühel hat die Verordnungsakten vorgelegt, auf die Ausführungen der Stadtpolizei Kitzbühel im Verfahren vor dem antragstellenden Verwaltungsgericht verwiesen sowie darauf hingewiesen, dass der Gemeinderat in der Sitzung vom 19. Oktober 2020 eine neue Verordnung betreffend die Erlassung einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h im Bereich "Klostergasse" beschlossen habe, welche vom Amt der Tiroler Landesregierung im Rahmen der Verordnungsprüfung gemäß §122 Tiroler Gemeindeordnung 2001 als rechtmäßig angesehen und zur Kenntnis genommen worden sei.

2.4. Die Tiroler Landesregierung hat keine Äußerung erstattet.

IV. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat beide Rechtssachen gemäß §35 Abs1 VfGG iVm §§187 und 404 ZPO zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden.

1. Zulässigkeit der Anträge

1.1. Der Verfassungsgerichtshof geht beginnend mit VfSlg 20.182/2017 davon aus, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (VfSlg 12.382/1990, 16.875/2003, 19.058/2010, 19.072/2010, 19.230/2010 uva.; s. auch VfGH 18.9.2015, V96/2015, sowie die Rechtsprechung zu nicht ordnungsgemäß kundgemachten Gesetzen VfSlg 16.152/2001, 16.848/2003 und die darin zitierte Vorjudikatur). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B-VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich.

Die angefochtene Verordnung ist durch die im Akt dokumentierte Aufstellung von Straßenverkehrszeichen iSd §52 lita Z10a und 10b StVO 1960 kundgemacht worden, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.3. Da keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweisen sich die Anträge als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Die Anträge sind begründet.

2.3. Das antragstellende Verwaltungsgericht behauptet jeweils die gesetzwidrige Kundmachung der angefochtenen Verordnung. Die Verordnung verfüge für die Klostergasse bis zehn Meter nördlich des vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweges eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Nach Umbauarbeiten an der Kreuzung der Klostergasse mit der Franz-Reisch-Straße im Jahr 2015 sei das Vorschriftszeichen "Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung" jedoch zwanzig Meter nördlich des vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweges aufgestellt worden. Es liege eine signifikante Abweichung von zehn Metern vor, die §44 Abs1 StVO 1960 zuwiderlaufe und die Gesetzwidrigkeit der Verordnung begründe.

2.4. Damit ist das antragstellende Verwaltungsgericht im Recht:

2.5. Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft (vgl VfSlg 18.710/2009, 19.409/2011, 19.410/2011).

2.6. Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort anzubringen sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich (vgl VwGH 13.2.1985, 85/18/0024; 25.1.2002, 99/02/0014; 10.10.2014, 2013/02/0276), jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Geschwindigkeitsbeschränkung signifikant abweicht (vgl VfSlg 15.749/2000, 20.251/2018; s. VfGH 26.11.2018, V53/2018 ua).

2.7. Aus einer im Gerichtsakt einliegenden Äußerung der Stadtpolizei Kitzbühel im Anlassverfahren zu V520/2020 ergibt sich, dass an der Kreuzung der Klostergasse mit der Franz-Reisch-Straße "Umbauarbeiten […] im Jahr 2015" erfolgten, im Zuge derer auch der Gehsteig in der Klostergasse saniert wurde. "Nach Beendigung der Sanierungsarbeiten wurden die betreffenden Verkehrszeichen vom Bauhof dann fälschlicherweise 10 m weiter unten angebracht." Da im Verfahren keine diesen Angaben widersprechenden Vorbringen erstattet wurden, besteht für den Verfassungsgerichtshof kein Zweifel, dass die Straßenverkehrszeichen zur Kundmachung der angefochtenen Verordnung zumindest seit Beginn des Jahres 2016 und damit auch zu den in den Anlassverfahren zu V520/2020 und V189/2021 maßgeblichen Tatzeitpunkten im Juni 2019 bzw im Oktober 2019 nicht zehn, sondern zwanzig Meter nördlich des vor dem Haus Klostergasse 1 gelegenen Schutzweges angebracht waren. Die Nichtübereinstimmung der verordnungsmäßig festgelegten Grenzen der Geschwindigkeitsbeschränkung mit den tatsächlich kundgemachten Grenzen führt zu einer nicht gesetzmäßigen Kundmachung iSd §44 Abs1 StVO 1960 und damit zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verordnung.

2.8. Der angefochtenen Verordnung wurde durch die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 19. Oktober 2020, Z 2318/20, die durch die Aufstellung von Straßenverkehrszeichen am 22. Oktober 2020 kundgemacht wurde, derogiert. Da die angefochtene Verordnung damit außer Kraft getreten ist, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Art139 Abs4 B-VG festzustellen, dass sie gesetzwidrig war (VfSlg 12.160/1989).

2.9. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf die weiteren, in dem zu V189/2021 protokollierten Antrag dargelegten Bedenken.

V. Ergebnis

1. Die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 15. November 2007, Z 2474/07, war daher wegen nicht ordnungsgemäßer Kundmachung gesetzwidrig.

2. Die Verpflichtung der Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit erfließt aus Art139 Abs5 Satz 2 B-VG und §59 Abs2 iVm §61 Z1 VfGG sowie §2 Abs1 litj Tir Landes-Verlautbarungsgesetz 2013.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Geschwindigkeitsbeschränkung, Verordnung Kundmachung, Straßenverkehrszeichen, Verordnungserlassung, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V520.2020

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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