TE Vfgh Erkenntnis 1994/10/5 G161/94

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Veröffentlicht am 05.10.1994
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Index

32 Steuerrecht
32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

EMRK Art6 Abs3 litc
FinStrG §77 Abs3

Leitsatz

Aufhebung der Einschränkung der Beigabe eines Pflichtverteidigers auf Fälle der obligatorischen Zuständigkeit des Spruchsenates im Finanzstrafverfahren wegen Verstoß gegen Art6 Abs3 litc EMRK; keine Möglichkeit des Abstellens auf die Gegebenheiten des Einzelfalles

Spruch

Die Wendung "lita" in §77 Abs3 des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1958, betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht (Finanzstrafgesetz - FinStrG.), BGBl. Nr. 129/1958 idF BGBl. Nr. 571/1985, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B970/93 ein Verfahren über eine Beschwerde anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

Der Beschwerdeführer, gegen den mit Bescheid des Finanzamtes Graz-Stadt im Jänner 1984 ein Finanzstrafverfahren eingeleitet worden war, erhob gegen eine Strafverfügung der Finanzstrafbehörde erster Instanz fristgerecht Einspruch und beantragte gemäß §58 Abs2 litb FinStrG die Fällung des Erkenntnisses durch einen Spruchsenat.

Nachdem ein den Beschwerdeführer für schuldig erkennendes Erkenntnis des Finanzamtes Graz-Stadt als Finanzstrafbehörde erster Instanz, Spruchsenat, von der Finanzlandesdirektion für Steiermark als Finanzstrafbehörde zweiter Instanz, Berufungssenat I, teilweise aufgehoben und die Angelegenheit insoweit zur Ergänzung an die Finanzstrafbehörde erster Instanz zurückverwiesen worden war, wurde der Beschwerdeführer mit Erkenntnis des Finanzamtes Graz-Stadt als Finanzstrafbehörde erster Instanz, Spruchsenat, vom 4. August 1992 der Begehung einer Finanzordnungswidrigkeit nach §49 Abs1 lita FinStrG für schuldig erkannt. Über ihn wurde eine Geldstrafe von S 25.000,-- (drei Wochen Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt.

In der aufgrund der Erhebung des Rechtsmittels der Berufung vor dem Berufungssenat I der Finanzlandesdirektion für Steiermark als Finanzstrafbehörde zweiter Instanz durchgeführten mündlichen Verhandlung stellte der Beschwerdeführer am 30. April 1993 den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe. Über diesen wurde mit Bescheid der genannten Behörde vom 4. Mai 1993, Z24/13-6/93, abweislich entschieden. Begründend wurde ausgeführt, daß gemäß §77 Abs3 FinStrG die Beigabe eines Verteidigers nur in Fällen der zwingenden Zuständigkeit eines Spruchsenates möglich sei, nicht aber in Fällen - wie dem gegenständlichen - der Wahlzuständigkeit des Spruchsenates.

2.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die eingangs erwähnte, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des Art6 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

2.2. Die Finanzlandesdirektion für Steiermark hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

3. Bei der Beratung über die Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wendung "lita" in §77 Abs3 des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1958, betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht (Finanzstrafgesetz - FinStrG.), BGBl. Nr. 129/1958 idF BGBl. Nr. 571/1985, entstanden, sodaß er beschlossen hat, gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Wendung einzuleiten.

Er ging hiebei vorläufig davon aus, daß diese bundesgesetzliche Bestimmung im Beschwerdeverfahren präjudiziell sei, daß er sie bei der Entscheidung über die Beschwerde anzuwenden haben werde und daß auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen dürften.

3. §77 Abs3 FinStrG - die in Prüfung gezogene Wendung ist hervorgehoben - hat folgenden Wortlaut:

"(3) Ist in Verfahren, in denen die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Fällung des Erkenntnisses gemäß §58 Abs2 lita einem Spruchsenat obliegt, der Beschuldigte außerstande, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie, für deren Unterhalt er zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts die Kosten der Verteidigung zu tragen, so hat die Finanzstrafbehörde auf Antrag des Beschuldigten, wenn und soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist, dem Beschuldigten für das gesamte Verfahren oder für einzelne Verfahrenshandlungen einen Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er nicht zu tragen hat."

Hinsichtlich der Zuständigkeit der Spruchsenate normiert §58 Abs2 FinStrG in seiner lita, daß die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Fällung des Erkenntnisses, soweit nicht gerichtliche Zuständigkeit gemäß §53 FinStrG gegeben ist, einem Spruchsenat als Organ der Finanzstrafbehörde erster Instanz dann obliegt, "wenn sich die Strafe wegen Rückfalls nach den §§41 oder 47 richtet oder wenn der strafbestimmende Wertbetrag bei den im §53 Abs2 bezeichneten Finanzvergehen 150 000 S, bei allen übrigen Finanzvergehen 300 000 S übersteigt". Gemäß litb leg.cit. ist die Zuständigkeit des Spruchsenates als Organ der Finanzstrafbehörde erster Instanz dann gegeben, "wenn der Beschuldigte oder ein Nebenbeteiligter die Fällung des Erkenntnisses durch einen Spruchsenat beantragt."

4. Seine Bedenken gegen die in Prüfung gezogene Wendung umschrieb der Verfassungsgerichtshof in seinem Einleitungsbeschluß wie folgt:

"In seinem Erkenntnis VfSlg. 10638/1985 hat der Verfassungsgerichtshof festgestellt, daß für alle im Zuge eines Finanzstrafverfahrens ergehenden Entscheidungen über die 'Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen' iS des Art6 EMRK die Organisations- und Verfahrensgarantien dieser Konventionsbestimmung gelten. Zu diesen Entscheidungen über die 'Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen' iS des Art6 EMRK hat der Verfassungsgerichtshof in dem zitierten Erkenntnis jedenfalls wegen eines Finanzvergehens schuldig sprechende Straferkenntnisse gezählt. Auch Schuldsprüche nach §49 Abs1 lita FinStrG fallen damit unter den Schutzbereich des Art6 EMRK. Ist aber Art6 EMRK auf ein Finanzvergehen im Sinne des FinStrG anwendbar, dann dürfte die in Prüfung gezogene Wortfolge im Widerspruch zur Vorschrift des Abs3 litc dieses Artikels stehen. Dieser Bestimmung zufolge hat jeder Angeklagte das Recht, 'falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist'. Als Gründe, welche die Beigabe einer unentgeltlichen Verteidigung im 'Interesse der Rechtspflege' erforderlich machen, kommen neben in der Person des Beschuldigten liegenden Gründen auch mit der Tat verknüpfte und mit dem Verfahren verbundene in Betracht. Neben der Höhe der angedrohten Strafe kann insbesondere die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sowie die Komplexität der Materie die Beiziehung eines Verteidigers notwendig machen (vgl. Vogler, Art6, in: Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1. Lfg. 1986, Rz 528 f; EGMR, Fall Granger, Ser. A Vol. 174; EGMR, Fall Quaranta, Ser. A Vol. 205).

§58 Abs2 FinStrG sieht zwei Fälle der Zuständigkeit des Spruchsenates vor: Eine obligatorische in den Fällen der lita leg.cit., also bei Rückfälligkeit des Täters nach §41 oder 47 FinStrG, und in den Fällen, in denen der strafbestimmende Wertbetrag näher bezeichnete Beträge überschreitet; eine fakultative Zuständigkeit des Spruchsenates dann, wenn der Beschuldigte oder ein Nebenbeteiligter eine solche begehrt. Dem Verfassungsgerichtshof scheint nun die Verfassungswidrigkeit der in Prüfung gezogenen Regelung darin zu liegen, daß diese in den Fällen der fakultativen Zuständigkeit eines Spruchsenates die Beigabe eines unentgeltlichen Verteidigers pauschal und damit auch dann ausschließt, wenn aufgrund der verfahrensrechtlichen oder materiell-rechtlichen Komplexität eines Falles etwa im Zusammenhang mit der Erforderlichkeit eines umfangreichen Beweis- und Ermittlungsverfahrens oder beim Auftreten diffiziler Rechtsfragen das 'Interesse der Rechtspflege' iS des Art6 Abs3 litc EMRK die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietet.

Aus den Materialien (668 Beil. StenProt. NR XVI. GP, 15) geht zwar die Absicht des Gesetzgebers hervor, daß die Beistellung des Verteidigers auf jene gewichtigen Straffälle beschränkt sein soll, die der Zuständigkeit der Senate vorbehalten sind. Art6 EMRK verlangt aber, daß ein Pflichtverteidiger beizustellen ist, 'wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist'. Der Verfassungsgerichtshof meint nun vorläufig, daß die Frage, ob ein 'Interesse der Rechtspflege' an der Beigabe eines Verteidigers besteht, nicht allein auf der Basis der vom Gesetzgeber hauptsächlich durch Orientierung an Wertgrenzen vorgenommenen Zuweisung von Fällen in die obligatorische Zuständigkeit von Spruchsenaten beurteilt werden kann. Der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann - so scheint es dem Verfassungsgerichtshof - sicher abstrakt in einer typisierenden Umschreibung Rechnung getragen werden; nach vorläufiger Meinung des Verfassungsgerichtshofes geht es aber nicht an, dabei - wie dies durch die in Prüfung gezogene Regelung erfolgt - allein auf die obligatorische Zuständigkeit des Spruchsenates abzustellen. Vielmehr müßte auch dann, wenn eine fakultative Zuständigkeit eines Spruchsenates vorliegt, den konkreten Umständen des Einzelfalles, wenn diese mit einer verfahrensrechtlichen Komplexität im Hinblick auf die Notwendigkeit eines umfangreichen Beweis- und Ermittlungsverfahrens verbunden sind oder wenn eine materiell-rechtliche Komplexität aufgrund diffiziler Rechtsfragen gegeben ist, Bedeutung für die Beantwortung der Frage zukommen, ob die Beigebung eines Pflichtverteidigers 'im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist'. Das aber scheint durch die in Prüfung gezogene Wendung ausgeschlossen, was ihren Verstoß gegen die Vorschrift des Art6 Abs3 litc EMRK nach sich ziehen dürfte."

5. Die Bundesregierung hat im Hinblick auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 10638/1985 von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand genommen.

6. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

6.1. Der Verfassungsgerichtshof ist im Einleitungsbeschluß davon ausgegangen, daß die in Prüfung gezogene Wendung von ihm bei der zu fällenden Entscheidung im Beschwerdeverfahren anzuwenden sein wird. Das Verfahren hat nichts Gegenteiliges ergeben. Der angefochtene Bescheid stützt sich explizit auf §77 Abs3 FinStrG. Die in Prüfung gezogene Regelung ist somit präjudiziell im Sinne des Art140 Abs1 B-VG.

Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

6.2. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes sind auch begründet. Die Bundesregierung ist ihnen nicht entgegengetreten. Auch das Verfahren hat sie nicht zerstreut.

Gemäß Art6 Abs3 litc EMRK hat jeder Angeklagte das Recht, "falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist". Da, wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 10638/1985 festgestellt hat, "für alle im Zuge eines Finanzstrafverfahrens ergehenden Entscheidungen über die 'Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen' iS des Art6 MRK (dazu zählen jedenfalls wegen eines Finanzvergehens schuldig sprechende Straferk.) die Organisations- und Verfahrensgarantien dieser Konventionsbestimmung gelten", ist die Bestimmung des §77 Abs3 FinStrG über die Verfahrenshilfe an Art6 Abs3 litc EMRK zu messen.

Aufgrund der in Prüfung gezogenen Wendung "lita" ist die Beigabe eines Verteidigers, dessen Kosten der Beschuldigte nicht zu tragen hat, nur in den Fällen der obligatorischen Zuständigkeit des Spruchsenates möglich, nämlich bei Rückfälligkeit des Täters nach §41 oder §47 FinStrG und in den Fällen, in denen der strafbestimmende Wertbetrag im Gesetz näher bezeichnete Beträge überschreitet. Die Beigabe eines Verteidigers in den Fällen der bloß fakultativen Zuständigkeit des Spruchsenates wird durch die in Prüfung gezogene Wendung jedoch ausgeschlossen. Damit schließt sie die Beigabe eines unentgeltlichen Verteidigers in Fällen der fakultativen Zuständigkeit des Spruchsenates aber auch dann aus, wenn aufgrund der besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage bzw. aufgrund der verfahrensrechtlichen oder materiellrechtlichen Komplexität eines Falles etwa im Zusammenhang mit der Erforderlichkeit eines umfangreichen Beweis- und Ermittlungsverfahrens oder beim Auftreten diffiziler Rechtsfragen das "Interesse der Rechtspflege" iS des Art6 Abs3 litc EMRK die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietet.

Die in Prüfung gezogene Bestimmung steht deshalb, weil sie ein Abstellen auf die Gegebenheiten des Einzelfalles nicht erlaubt, im Widerspruch zu Art6 Abs3 litc EMRK.

Die Wendung "lita" in §77 Abs3 des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1958, betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht (Finanzstrafgesetz - FinStrG.), BGBl. Nr. 129/1958 idF BGBl. Nr. 571/1985, war daher als verfassungswidrig aufzuheben.

7. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und aus §64 Abs2 VerfGG.

8. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rechtsanwälte, Pflichtverteidigung, Finanzverfahren, Finanzstrafverfahren siehe auch Finanzverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:G161.1994

Dokumentnummer

JFT_10058995_94G00161_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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