TE Vwgh Beschluss 2022/1/12 Ra 2021/20/0225

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Veröffentlicht am 12.01.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §34 Abs1
VwGG §41

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, in der Revisionssache des K P in S, vertreten durch die Rechtsanwälte Gruber Partnerschaft KG in 1010 Wien, Wipplingerstraße 20, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2021, W107 2176318-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit Bescheid vom 11. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem Erkenntnis vom 20. Mai 2021 nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig.

4        Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis an ihn gerichteten Beschwerde mit Beschluss vom 29. September 2021, E 2387/2021-11, ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Zur Begründung der Zulässigkeit der Revision wird geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass dem Revisionswerber keine asylrelevante Verfolgung drohe und die allgemeine Sicherheitslage nicht dergestalt sei, dass dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden müsste. Das Bundesverwaltungsgericht habe es in diesem Zusammenhang unterlassen, eine Prognoseentscheidung zu treffen.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 20.10.2021, Ra 2021/20/0365, mwN).

10       Das Verwaltungsgericht hat sich nach Durchführung einer Verhandlung und Bestellung eines länderkundigen Sachverständigen ausführlich und in nicht unschlüssiger Weise mit dem Vorbringen des Revisionswerbers befasst und ist zum Ergebnis gelangt, dass der Revisionswerber im Herkunftsland weder einer relevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen sei, noch ihm eine solche im Fall der Rückkehr drohe. Dass die beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in ihrer Gesamtheit unvertretbar wären, vermag der Revisionswerber - mit seinen bloß allgemein gehaltenen Ausführungen - nicht aufzuzeigen.

11       In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit weiter vorgebracht, näher bezeichneten Richtlinien des UNHCR sei zu entnehmen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Kabul nicht zur Verfügung stehe. Angesichts aktueller Entwicklungen in Afghanistan drohe dem Revisionswerber eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK. Das Bundesverwaltungsgericht habe zudem eine ausreichende Beschäftigung mit dem einer innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül vermissen lassen.

12       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2021/20/0019, mwN).

13       Das Bundesverwaltungsgericht traf im angefochtenen Erkenntnis vom 20. Mai 2021 - auf Grundlage des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA vom 1. April 2021 - insbesondere Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage sowie zur Situation infolge der Covid-19-Pandemie im Herkunftsstaat, die in der Revision nicht substantiiert bestritten werden. Zu den persönlichen Umständen des Revisionswerbers hielt es fest, dass dieser ein junger, gesunder, arbeitsfähiger und gebildeter Mann sei, der auf ein ausreichendes familiäres Netzwerk in seinem Heimatort Kabul zurückgreifen könne und mit den dortigen örtlichen Gegebenheiten vertraut sei. Ergänzend legte das Bundesverwaltungsgericht auch dar, aus welchen Gründen die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative - in Herat oder Mazar-e Sharif - zumutbar sei. Konkretes auf den Revisionswerber bezogenes Vorbringen, weshalb die vom Bundesverwaltungsgericht getroffene Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf Herat und Mazar-e-Sharif rechtswidrig sei, enthält die Revision nicht, sodass die Bezugnahme auf eine fehlerhafte Beurteilung der Situation in Kabul schon deshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (vgl. zur Unzulässigkeit der Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung VwGH 15.5.2020, Ra 2020/20/0064, mwN).

14       Soweit in der Revision die Ansicht vertreten wird, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht ausreichend mit der Zumutbarkeit einer Rückkehr nach Kabul beschäftigt, ist ihr zu erwidern, dass insoweit eine Rückkehr des Revisionswerbers an seinen Herkunftsort Kabul in Rede steht. Das Bundesverwaltungsgericht legte im Einzelnen dar, warum es aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Revisionswerbers und der allgemeinen Lage in der afghanischen Hauptstadt eine Rückkehr für möglich erachtete, ohne dass der Revisionswerber dadurch einer realen Gefahr ausgesetzt wäre, in den durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten verletzt zu werden. Dem vermag die Revision - auch mit dem auf Dokumente aus den Jahren 2018 und 2019 gestützten Vorbringen, eine innerstaatliche Fluchtalternative sei in Kabul nicht gegeben - nichts Stichhaltiges entgegenzusetzen.

15       Soweit in der Revision vorgebracht wird, das Bundesverwaltungsgericht habe vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses bereits in vollem Gange befindlichen Offensive der Taliban keine Prognose durchgeführt, nicht aktuelle Berichtsmaterialien herangezogen, ein näher genanntes Dokument nicht berücksichtigt und erforderliche Feststellungen nicht getroffen, werden Verfahrensmängel geltend gemacht.

16       Werden Verfahrensmängel - wie hier Ermittlungs- und Feststellungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 14.9.2021, Ra 2020/20/0405 mwN).

17       Gemäß § 41 erster Satz VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt (§ 42 Abs. 2 Z 2 und Z 3 VwGG), das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte (§ 28 Abs. 1 Z 4 VwGG) bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 28 Abs. 2 VwGG) zu überprüfen. Somit sind Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren jedenfalls entzogen (vgl. VwGH 14.11.2017, Ra 2017/20/0108; 27.6.2017, Ra 2017/18/0005).

18       Der Revisionswerber spricht mit seinem Vorbringen Geschehnisse an, die sich erst nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben. Erläuterungen dazu, aus welchen Gründen das Bundesverwaltungsgericht den Eintritt der angesprochenen Ereignisse im Zeitpunkt seiner Entscheidung als maßgeblich wahrscheinlich (und nicht bloß als eine von mehreren Möglichkeiten) hätte ansehen müssen, bleibt der Revisionswerber schuldig (vgl. dazu, dass die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen muss, jedoch die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung nicht genügt, um den Status des Asylberechtigten zuerkannt zu bekommen, etwa VwGH 21.12.2020, Ra 2020/14/0445, mwN).

19       Wenn sich der Revisionswerber in der Zulässigkeitsbegründung gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung richtet, ist anzumerken, dass eine Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 9.11.2021, Ra 2020/14/0452, mwN).

20       Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung - entgegen dem Vorbringen in der Revision - die fallbezogen entscheidungswesentlichen Umstände, darunter auch die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet von knapp mehr als fünf Jahren und seine Integrationsbemühungen, wie etwa seine guten Deutschkenntnisse, die Erwerbstätigkeit und die Pflege freundschaftlicher Beziehungen. Eine Unvertretbarkeit des Ergebnisses dieser Interessenabwägung vermag die Revision nicht aufzuzeigen.

21       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 12. Jänner 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200225.L00

Im RIS seit

04.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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