TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 W103 2171705-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W103 2171699-2/11E

W103 2171705-2/7E

W103 2171702-2/7E

W103 2171653-2/7E

W103 2171695-2/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, 2.) XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, 3.) XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, 4.) XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine und 5.) XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch RA XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 06.08.2018, Zln. 1.) 1025959906-14811925, 2.) 1025960003-14811939, 3.) 1025959710-14811955, 4.) 1025959808-14812013 und 5.) 1025960003-14811939, zu Recht:

A) Den Beschwerden wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG idgF stattgegeben und 1.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF sowie 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX und 5.) XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX und 5.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2), eine Staatsangehörige der Ukraine, sind miteinander verheiratet und Eltern und gesetzliche Vertreter der jeweils minderjährigen Dritt- bis FünftbeschwerdeführerInnen (BF3-BF5), welche ebenfalls ukrainische Staatsangehörige sind. Die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien stellten am 21.07.2014 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin am 23.07.2014 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurden.

Der BF1 gab hinsichtlich seiner polizeilichen Erstbefragung am 23.07.2014 zu seinen Fluchtgründen befragt zusammenfassend an, dass er seit 1995 in XXXX lebe, wo er seine Ehefrau kennengelernt und geehelicht habe. Der BF1 habe bis 2008 eine ukrainische Aufenthaltsbewilligung gehabt, wobei er verabsäumt habe diese verlängern zu lassen. Nachdem er um eine neuerliche Aufenthaltsbewilligung angesucht habe, sei diese abgelehnt worden, weshalb mehrmals die Polizei zu ihm nach Hause gekommen sei. Seiner Frau sei mitgeteilt worden, dass er sich illegal in der Ukraine befinde und abgeschoben werde, weshalb sich der BF1 versteckt gehalten habe und ausgereist sei.

3. Ein weiterer Sohn des BF1 und der BF2 wurde am XXXX in Österreich nachgeboren.

4. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 08.05.2017 gab der BF1 im Wesentlichen an, er sei Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehöre der tschetschenischen Volksgruppe und dem muslimischen Glauben an. Seine Ehefrau sei ukrainische Staatsangehörige. Mit ihr hätte er zwei Töchter und einen in Österreich nachgeborenen Sohn. Der BF1 sei im April 1995 wegen des Tschetschenienkrieges in die Ukraine gezogen. Bis 2006 habe er dort ohne Aufenthaltsstatus illegal gelebt, weil Tschetschenen in der Ukraine nicht registriert worden seien. Seit 2008 habe er einen Aufenthaltstitel für die Ukraine gehabt. Der BF1 habe von 1972 bis 1982 die Grundschule in XXXX besucht. 1982 bis 1984 habe er ebenfalls in XXXX eine Tischler bzw. Zimmermann Berufsschule besucht. Von 1990 bis 1994 habe der BF1 in XXXX eine pädagogische Hochschule als Sportlehrer besucht und von 2010 bis 2014 habe er in XXXX die islamische Universität besucht. Er habe beide Studien abgeschlossen und Diplome erhalten. Jenes aus XXXX sei während des Krieges verloren gegangen, jenes aus XXXX habe er noch. Der BF1 habe 2010 erneut zu studieren begonnen, weil er eine islamische Grundausbildung habe machen müssen, um an einer islamischen Schule unterrichten zu können. Bis zum Jahr seiner Ausreise aus der Ukraine habe er als Turnlehrer gearbeitet. Der BF1 sei zwischen 1995 und 2014 zweimal in Tschetschenien gewesen. Einmal anlässlich des Todes seines Vaters und das zweite Mal 2012, als er sich einen neuen Inlandspass habe machen lassen. Er habe sich nur eine Woche dort aufgehalten, weil man begonnen habe, sich für ihn zu interessieren. Die Polizei sei zweimal zur Meldeadresse des BF1 gefahren und habe nach ihm gefragt, er habe sich im Jahr 1995 von seiner Meldeadresse nicht abgemeldet. Ende 2013 sei es in Tschetschenien zur Verfolgung von Personen gekommen, die wie der BF1, in XXXX an der islamischen Universität studiert hätten. Sie seien festgenommen, misshandelt und eingesperrt worden. Man habe sie als „Chabaschiten“ bezeichnet und der tschetschenische Präsident sei im Fernsehen aufgetreten, wobei er gesagt habe, diese „Chabaschiten“ gehörten umgebracht. Wo der BF1 in XXXX studiert habe, sei ihnen gelehrt worden, dass Extremismus und Terrorismus etwas Schlechtes sei. Die Ausbildung sei gegen diese Auswüchse gerichtet gewesen. Jene Personen seien freiwillig nach Tschetschenien zurückgekehrt und seien etwa 150 Personen festgenommen worden. Der BF1 kenne ein paar Vornamen, beispielsweise Huseyn, den er in XXXX kennengelernt habe, doch wisse er keine Familiennamen. Es gäbe auch Videoaufnahmen im Internet, wonach diese Personen öffentlich vorgeführt worden seien und hätten sagen müssen, dass sie die Dinge bereuen würden. Auf Vorhalt, wie es möglich sei, dass eine so große Anzahl von 150 Tschetschenen an der muslimischen Universität in XXXX studiert hätten und wieder zurückgekehrt seien, gab der BF1 an, dass nicht alle gleichzeitig in XXXX studiert hätten und seien bei den „Chabaschiten“ auch Personen dabei gewesen, die von Rückkehrern unterrichtet worden seien. Ende 2013 sei der BF1 zur ukrainischen Ausländerbehörde gegangen, um seinen Aufenthaltstitel zu erneuern. Zunächst sei ihm gesagt worden es gäbe keine Formulare, dann seien sie gefragt worden, warum sie nicht nach Russland fahren würden, um dort zu leben. Der BF1 habe auch eine Strafverfügung bekommen und habe er gesagt, dass er sich bei der Staatsanwaltschaft beschweren würde. Dann seien Mitarbeiter der Ausländerbehörde an seine Adresse in der Ukraine gekommen und hätten nach dem BF1 gesucht. Er sei gerade bei der Arbeit gewesen und seine Schwiegermutter habe von ihnen erfahren, dass der BF1 illegal in der Ukraine aufhältig sei und man ihn abschieben wolle, weshalb seine Schwiegermutter ihn gewarnt habe nach Hause zu kommen. Der BF1 habe sich bei Freunden versteckt, um nicht nach Russland abgeschoben zu werden und habe er keinen anderen Ausweg gehabt, als die Ukraine zu verlassen. Im Anschluss sei jemand in das Geschäft des Cousins seiner Frau gekommen, indem sie gearbeitet habe, habe ihr gesagt, ihr Mann sei Tschetschene und es sei gefährlich für sie hierzubleiben, weshalb das Geschäft angezündet worden sei. Der BF1 sei ausgereist, um nicht abgeschoben zu werden. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme wurden zahlreiche Unterlagen zur Integration vorgelegt.

5. Mit im Familienverfahren ergangenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.08.2017 wurden die Anträge der Erst- bis FünftbeschwerdeführerInnen auf internationalen Schutz vom 21.07.2014 bzw. 14.09.2016 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.) und die Anträge gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Erstbeschwerdeführer) respektive Ukraine (Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen) abgewiesen (Spruchpunkte II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen und wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien in die Russische Föderation respektive die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte III. und IV.).

Dagegen wurden rechtzeitig Beschwerden erhoben.

Mit Erkenntnissen vom 06.02.2018 hat das BVwG in Erledigung der Beschwerde die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2013, zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Begründend wird darin im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde es unterlassen habe herkunftslandspezifische Ermittlungen hinsichtlich der vom BF1 vorgebrachten Verfolgungshandlungen gegen Absolventen der islamischen Universität in XXXX vorzunehmen.

6. In der Folge wurde der BF1 neuerlich am 04.05.2018 niederschriftlich vor dem BFA einvernommen, wobei er zusammenfassend ausführte, Sportlehrer zu sein und die letzten drei Jahre vor der Ausreise als Sportlehrer an der Schule namens XXXX in XXXX , XXXX gearbeitet zu habe. Der BF1 habe dort 5 Tage die Woche vier Stunden Sport unterrichtet, wobei er 2009/2010 angefangen habe. Es handle sich um eine halb-staatliche Schule. Die Schule gehöre den Moslems, auf seinem Gehaltszettel sei Dukhovnoe Upravlenie Musulman Ukrainy (DUMU) – moslemischer Glaubensverein Ukraine gestanden. Diese würden Schulen in verschiedenen Städten der Ukraine betreiben, es handle sich um einen legalen Verein. An diesen Schulen würden sehr viele Muslime unterrichtet und treffe DUMU Vereinbarungen mit dem Staat, damit die staatliche Schule Diplome für Absolventen ausstelle. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF1 aus, dass er als er 45 Jahre alt gewesen sei, von den ukrainischen Behörden aufmerksam gemacht worden sei, dass er seine Aufenthaltsberechtigung verlängern sollte, worum er sich dann bemüht habe. Er habe vergessen seine Aufenthaltsberechtigung, die er im Jahr 2008 erhalten habe zu verlängern, die Verlängerung sei in weiterer Folge abgelehnt worden. Er habe sich beschwert und sei im Juni 2014 von Beamten aufgesucht worden, wobei er nicht zu Hause gewesen sei.

Die Einrichtung DUMU sei in seiner Heimat unbeliebt und würden Personen, die dort unterrichten „Habashity“ genannt. Dieser Verein werde nicht akzeptiert, wobei der BF1 sich dabei auf Aussagen Kadyrows stütze. Aus diesem Grund habe er Angst vor den tschetschenischen Behörden. Hussein habe in einer Talk-Show im Jahr 2014 im staatlichen tschetschenischen Fernsehen mitgeteilt, dass er geschlagen worden sei und falsche Informationen verbreitet habe. Auch er habe an der DUMU studiert und im Fernsehen mitgeteilt, dass er an jener Schule in XXXX falsche Informationen erhalten, diese verbreitet und sich dafür entschuldigen würde. Dem BF1 habe er mitgeteilt, dass er diese Aussage unter der Androhung von Schlägen gemacht hätte.

7. Mit Stellungnahme vom 17.05.2018 stellte der BF1 einige Angaben in seiner niederschriftlichen Einvernahme vom 04.05.2018 richtig. So habe der BF1 im Jahr 2009/2010 begonnen an jener Schule als Sportlehrer zu unterrichten, wobei er zugleich den Islam habe studieren müssen, das sei eine Bedingung für seine Anstellung gewesen. 2011 habe sich der BF1 wegen der Ausstellung eines Inlandsreisepasses einige Tage in XXXX bei seinem Bruder befunden. Auch dort sei er von den Behörden gesucht worden, weil er sich hätte anmelden sollen. Dies sei jedoch nur der offizielle Grund gewesen, tatsächlich hätte er wegen seines Eintretens für die Unabhängigkeit verhaftet werden sollen. Derzeit würde der BF1 vermutlich wegen seiner Ausbildung und der Tätigkeit in XXXX von der tschetschenischen Polizei vernommen und gefoltert werden. DUMU sei in Tschetschenien nicht akzeptiert und daher auch nicht in der Russischen Föderation. Im Grunde gehe es bei dem Konflikt um zwei verschiedene Gruppierungen des sunnitischen Islam. Das Regime Kadyrows wolle sich längerfristig legitimieren, suche seine Wurzeln in der regionalen Vergangenheit und habe daher die Gruppierung in der Nachfolge des Gelehrten Kunta Haddschi Kischijew in Tschetschenien installiert. 2009 sei in XXXX sogar eine entsprechende Islam-Universität gegründet worden. Die Einrichtungen der DUMU in XXXX gingen jedoch auf die Glaubensgruppierung des Islamgelehrten al-Habashi aus Beirut im Libanon zurück. Die Lehrer an der Schule in XXXX und deren Absolventen, die aus Tschetschenien stammen, würden daher verfolgt, Kadyrow bedrohe diese als „Habashiten“. Der BF1 habe Angst vor den tschetschenischen Behörden, weil er Absolvent der Islamuniversität in XXXX sei und dort auch gearbeitet habe.

Aus der Frage der Verhandlungsleiterin, was dem BF1 nun passieren solle, wenn er in die Russische Föderation zurückkehre, zumal er keine Straftat gesetzt habe und es sich bei der Tätigkeit als Sportlehrer der Universität DUMU um eine vollkommen legale Tätigkeit handle, gehe hervor, dass die belangte Behörde nicht über die aktuellen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und das Willkürregime Kadyrows informiert sei. Über das Regime Kadyrows fänden sich zahlreiche Informationen in näher genannten Medien und habe die Fluchtbewegung aus Tschetschenien zuletzt wieder zugenommen. Die Wahrscheinlichkeit von Repressionen gegen den BF1 und seine Familie sei relativ hoch und auch ein Aufenthalt an einem anderen Ort der Russischen Föderation, würde sie Repressionen aussetzen, weil die regionalen Polizeibehörden unter Kadyrows Regime in der ganzen Russischen Föderation Verfolgungshandlungen setzen könnten.

8. Mit Anfragebeantwortung vom 24.07.2018 führte der Gutachter XXXX aus, dass der BF1 tatsächlich mit der BF2 seit 28.09.2006 verheiratet sei und ihm von der staatlichen Migrationsbehörde in XXXX eine Niederlassungsbewilligung, ausgestellt am 06.10.2008, gültig bis 08.06.2010 ausgestellt worden sei. In der Folge wurde dem BF1 am 25.10.2013 beim UFMS der Stadt XXXX ein Reisepass mit der Nr. XXXX ausgestellt. Die Eheschließung mit einer Staatsangehörigen der Ukraine und das Vorhandensein gemeinsamer Kinder berechtige den BF1 nach derzeitiger Gesetzgebung der Ukraine derzeit nicht zum Aufenthalt in der Ukraine. Dieser hätte nach Ablauf seines Aufenthaltstitels am 08.06.2010 einen neuerlichen Antrag bei der Migrationsbehörde stellen müssen, welcher nicht vorliege. Die geistliche Verwaltung der Muslime in der Ukraine (DUMU) sei eine im Jahr 1992 gegründete Vereinigung der Muslime in der Ukraine. Geistliches Oberhaupt sei der Mufti Achmed TAMIM. Diese habe 1993 eine islamische Universität in XXXX , XXXX in der Nähe der Moschee XXXX die islamische Grundschule „ XXXX “ gegründet. Staatliche Institutionen der Russischen Föderation würden diese Ausbildungsstätte seit dem Frühjahr 2014 nicht mehr anerkennen. Der Rechtsträger der Schule (DUMU) werde seitens des FSB der Russischen Föderation verdächtigt, in Kontakten der in der Russischen Föderation verbotenen Muslim-Bruderschaft „Al Ichwan“ sowie zu den „Medzhils der Krimtataren“ zu stehen. Offiziell werde die DUMU seitens des FSB sowie des russischen Justizministeriums nicht in den Listen der terroristischen und extremistischen Organisationen geführt. Dessen ungeachtet würden Personen, die der DUMU angehören bzw. mit ihr in Kontakt stünden, seitens der staatlichen Behörden der Russischen Föderation observiert.

9. Am 01.08.2018 wurde der BF1 neuerlich vor dem BFA niederschriftlich einvernommen, wobei er sich zur abgegebenen Stellungnahme vom 18.05.2018 nicht äußern wollte. Hinsichtlich des in Auftrag gegebenen Gutachtens gab der BF1 an, dass es für ihn eine Überraschung sei, dass DUMU seitens des FSB verdächtigt werde, in Kontakten mit der in der Russischen Föderation verbotenen Muslim-Bruderschaft „Al Ichwan“ sowie zu den „Medzhils der Krimtataren“ zu stehen, weshalb der BF1 nun noch mehr Angst habe.

10. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheiden vom 06.08.2018. die Anträge der BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: AsylG 2005), (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erkannte ihnen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu, erließ im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: BFA-VG), jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2015 (im Folgenden: FPG), und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebungen gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation (BF1) bzw. in die Ukraine (BF 2 bis 5) zulässig seien (Spruchpunkt III.); Hinsichtlich der BF 1 und 2 wurde gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 2 Z 6 FPG BGBL. Nr. 100/2005 (FPG idgF, ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Weiters wurde hinsichtlich des BF1 einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG (der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht hat) aberkannt (Spruchpunkt V.), sowie hinsichtlich der BF2-5 eine Beschwerde gegen diese Bescheide die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 u 4 BFA-VG (der Asylwerber aus einem sicherer Herkunftsstaat stammt bzw. der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht hat).

Die Entscheidungen betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung stützte das Bundesamt beim BF1 spruchgemäß (§ 18 Abs.1 Z 4) darauf, dass dieser keine Verfolgungsgründe vorgebracht hätten, eine nähere Begründung dafür wurde keine abgegeben.

11. Die Beschwerdeführer erhoben gegen diese Bescheide durch ihren zur Vertretung im weiteren Verfahren bevollmächtigten Rechtvertreter vollinhaltlich Beschwerde. Betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung führten dieser aus, dass der BF1 im Rahmen seines Verfahrens eine Gefahr der politische Verfolgung vorgebracht hätten; § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG gelange aber nur zur Anwendung, wenn eindeutig keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention behauptet werde. Im Sinne des Abs. 5 leg.cit. habe das Bundesverwaltungsgericht innerhalb einer Woche der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Verwiesen wird weiters auf das Urteil der Europäischen Gerichtshofes vom 19.06.2018 zur Zl. C-181/16, RS Denandi, daraus ergebe sich, dass dieser Sachverhalt unter die Rückführungsrichtlinie falle (siehe Rz 61) und die gesetzliche Bestimmung des § 18 Abs 1 Z 4 BFA-VG mit einer Fallkonstellation im Sinne des § 18 Abs 1 letzter Satz BFA-VG unangewendet zu bleiben habe. Der vom BFA in Auftrag gegebenen Anfragebeantwortung ist zu entnehmen, dass die Bedenken des BF1, in Russland verfolgt zu werden, begründet seien. Kadyrow setze in Tschetschenien eine spezielle Ausprägung des sunnitischen Islams durch. Andere Richtungen würden abgelehnt und mit Verfolgung bedroht, weshalb auch die Ausrichtung der Habaschiten darunter Falle. Von 25.08.2016 bis 27.08.2016 veranstaltete Kadyrow eine Konferenz von Islamgelehrten, die eine Fatwa herausgegeben habe, die auch die Glaubensrichtung der Habaschiten als falsch und unterwünscht qualifiziere. Dem BF1 würde bei einer Durchsetzung der Rückkehrentscheidung in die Russische Föderation die Verfolgung drohen, andererseits drohe den BF1 – BF5 eine Familientrennung, weil der BF1 nach Russland, die BF2-BF5 aber in die Ukraine abgeschoben werden würden.

12. Die Beschwerdevorlage langte samt der bezughabenden Verwaltungsakte am 17.09.2018 ein.

13. Mit Teilerkenntnis des BVwG vom 24.09.2018 wurde die Spruchpunkte IV. und V. der angefochtenen Bescheide des BF1 und der BF2, sowie die Spruchpunkte VI. der angefochtenen Bescheide der BF3-BF5 ersatzlos behoben. Begründend wurde dabei im Wesentlichen ausgeführt, das BFA habe die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung darauf gestützt, dass keine Verfolgungsgründe vorgebracht worden seien. Nach Durchsicht der Akten ergebe sich jedoch eindeutig, dass der BF1 Verfolgung aus politischen Gründen angegeben habe. Die belangte Behörde habe die Spruchpunkte hinsichtlich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung daher zu Unrecht getroffen, weshalb diese Spruchpunkte folglich schon deshalb ersatzlos aufzuheben seien; den Beschwerdeführern komme somit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Beschwerdeverfahrens betreffend die übrigen Spruchpunkte der angefochtenen Bescheide die aufschiebende Wirkung zu. Darüber hinaus habe die belangte Behörde das verhängte Einreiseverbot von 5 Jahren auf die vorliegende „Mittellosigkeit der Beschwerdeführer gestützt“. In der bloßen „Mittellosigkeit“ eines Fremden könne jedoch kein Grund erblickt werden, diesem eine künftige legale Wiedereinreise unter Berufung auf eine Gefährdung öffentlicher Interessen zu verunmöglichen (vgl. hiezu Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Stand 15.1.2016, S.1134, K14). Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass sich die Beschwerdeführer in der Grundversorgung befänden. Abgesehen von ihrem unrechtmäßigen Aufenthalt gefährde der Aufenthalt der BF1-BF2 die öffentliche Ordnung und Sicherheit bisher in keiner Weise. Vor dem Hintergrund der Unbescholtenheit des BF1 und der BF2 zum Entscheidungszeitpunkt sei auch nicht davon auszugehen, dass eine solche von den Beschwerdeführern ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zukünftig eintreten werde, weshalb das gegen den BF1 und die BF2 verhängte Einreiseverbot ersatzlos zu beheben gewesen sei.

14. Mit Stellungnahme vom 05.02.2019 durch den rechtsfreundlichen Vertreter der BF1-BF5 wurde vorgebracht, dass der tschetschenische Geheimdienst die Familie der Beschwerdeführer aufgesucht habe und diesen auf russisch übersetzte Auszüge aus dem RIS gezeigt habe. Die Familie der Beschwerdeführer habe den Kontakt zu diesen nunmehr abgebrochen. Es sei beachtlich, wie der tschetschenische Geheimdienst Nachforschungen durchführe, zumal sie auf das Erkenntnis des BVwG gestoßen seien, welches im RIS anonymisiert veröffentlicht worden sei. Der Stellungnahme wurde jenes Schriftstück beigelegt.

Hinsichtlich des Schriftstücks wurde eine Übersetzung durch das BVwG veranlasst.

15. Mit Stellungnahme vom 16.03.2021 brachten die BF1-BF5 zahlreiche Unterlagen zu ihrer Integration in Vorlage.

16. Mit Schriftsatz vom 12.05.2021 wurde den Beschwerdeführer das LIB zur Russischen Föderation, letzte Information eingefügt am 21.07.2020 und die Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Lage von Absolventen der islamischen Universität in XXXX bzw. Anhänger der dort vertretenen Glaubensrichtung des Islam („Habaschiten“) vom 05.02.2021 übermittelt und ihnen eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme eingeräumt.

Mit Stellungnahme vom 25.05.2021 führten die BF1-BF5 aus, dass der BF1 an der islamischen Universität in XXXX studiert habe, die der muslimischen Glaubensrichtung der Habaschiten zugeordnet sei, obwohl diese in der Russischen Föderation als relativ unbedeutend und nicht radikal eingestuft würden, bedrohe Kadyrow diese Glaubensrichtung, indem er die Habaschiten im Jahr 2006 mit dem von ihm verfolgten radikalen Wahabismus gleichgesetzt habe. Das Regime toleriere nur die muslimische Richtung des Sufiordens Qadirya. Diese Grundhaltung werde Ende August 2016 sogar durch die „Fatwa Grosny“ sogar bekräftigt. Obwohl die Habaschiten in der Ukraine toleriert würden, versuche die von der Russischen Föderation annektierte Krim die dort etablierte Vereinigung der Muslime, die Habaschiten, als „extremistisch“ zu denunzieren, um so ein offizielles Verbot dieser Glaubensrichtung zu erreichen. Aussagen zur Unterdrückung der Habaschiten wären von im Exil lebenden Anhängern kaum zu erwarten, weil sie eine Geiselnahme der in Tschetschenien verbliebenen Verwandten durch das Regime fürchten würden. Der BF1 kenne zwei Studienkollegen, die in XXXX an der Islamischen Universität studiert hätten. Sie hätten aus Russland fliegen müssen, weil sie von den Behörden verfolgt worden seien. Der BF1 habe vor ca. zwei Monaten mit ihnen Kontakt gehabt und wisse, dass sie über Mexiko in die USA geflohen seien. Der BF1 stehe nach wie vor in Opposition zum Regime Kadyrow und habe sich an die Exilregierung Ichkerias gewandt, wobei ihm ein Reisepass von Ichkeria ausgestellt worden sei. Der BF1 habe sich auch zuletzt exilpolitisch gegen das tschetschenische Regime betätigt und an Demonstrationen in XXXX am 07.07.2020 bei der russischen Botschaft, sowie am 06.09.2020 auf dem XXXX anlässlich des Unabhängigkeitstages Tschetscheniens teilgenommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen und zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Parteien:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind miteinander verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter der minderjährigen Dritt- bis Fünfbeschwerdeführer (BF3-BF5). Die beschwerdeführenden Parteien führen die im Spruch ersichtlichen Personalien, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation (BF1) bzw. der Ukraine (BF2-BF5) und dem muslimischen Glauben zugehörig. Der BF1 ist der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig.

Der BF1 ist in XXXX geboren und aufgewachsen, wo er 10 Jahre lang die Grund- und Mittelschule besucht und im Anschluss an der pädagogischen Hochschule XXXX Sport studiert hat. Die BF2 ist in XXXX geboren und hat dort 10 Jahre lang die Gesamtschule, sowie im Anschluss eine Berufsschule für den Lebensmittelverkauf besucht. Zuletzt hat sie in XXXX als Verkäuferin gearbeitet.

Im Jahr 1995 ist der BF1 wegen des ersten Tschetschenienkrieges nach XXXX gezogen. Dort hat der BF1 seine Ehefrau kennengelernt und im XXXX , sowie im XXXX sind die gemeinsamen Töchter in XXXX auf die Welt gekommen. Am 28.09.2006 hat der BF1 seine Ehefrau, die BF2, in XXXX geheiratet. Seit dem Jahr 2009/2010 arbeitete der BF1 bis zu seiner Ausreise aus der Ukraine im Juli 2014 an der islamischen Schule „ XXXX “ als Sportlehrer. Um dort arbeiten zu können musste er gleichzeitig eine islamische Grundausbildung an der islamischen Universität in XXXX absolvieren, weshalb er diese Universität von 2010 bis 2014 besuchte.

Der BF1 hat glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, aufgrund seines Studiums an der islamischen Universität in XXXX und der dort vertretenen Glaubensrichtung des Islam (Habaschismus), landesweite asylrelevante Verfolgung droht.

Die beschwerdeführenden Parteien sind gesund und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassung, Zivil, Administrativ und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen. In Strafprozessen kommt es nur sehr selten (lt. Amnesty International in 0,5% der Fälle) zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen. 2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte. Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass wenn der EGMR von einer Konventionsauslegung ausgeht, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, Russland in dieser Situation aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang sind. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings weiterhin um Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2016, vgl. AA 24.1.2017).

Am 7. Juli 2016 wurden die unter dem Begriff Yarovaya-Paket zusammengefassten Änderungen der Gesetze zur Bekämpfung des Extremismus in Kraft gesetzt. Die geänderten Rechtsvorschriften waren zu weiten Teilen unvereinbar mit Russlands internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. So wurden alle missionarischen Aktivitäten außerhalb eigens dazu bestimmter religiöser Institutionen verboten und Provider dazu verpflichtet, den gesamten Nachrichtenverkehr sechs Monate lang und alle Metadaten drei Jahre lang zu speichern. Zudem wurde die Höchststrafe für extremistische Delikte von vier auf acht Jahre und für Anstiftung zur Beteiligung an Massenunruhen von fünf auf zehn Jahre Haft angehoben. Am 16. November 2016 kündigte Präsident Putin an, dass Russland nicht länger beabsichtige, Vertragsstaat des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu werden. Russland hatte das Statut im Jahr 2000 unterschrieben, jedoch nie ratifiziert (AI 22.2.2017).

Im November 2013 ist in Russland ein Gesetz verabschiedet worden, mit denen man die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen erreichen wolle und die darauf abzielen würden, die „harte Form“ des Kampfes gegen den Aufstand, die bereits in mehreren Republiken im Nordkaukasus praktiziert wird, zu legalisieren. Die Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, die Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien dazu zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, die durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind (CACI 11.12.2013, vgl. US DOS 3.3.2017).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Es gibt Bestrebungen zu einer weiteren Entkriminalisierung leichterer Straftaten, bislang allerdings ohne konkrete Ergebnisse. Bemerkenswert ist die unverändert extrem hohe Verurteilungsquote im Strafprozess. Für zu lebenslange Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Auch eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Immer wieder legen einzelne Strafprozesse in Russland den Schluss nahe, dass politische Gründe hinter der Verfolgung stehen. Trotz der Entlassung von Michail Chodorkowski und den Mitgliedern der Punk-Aktionsgruppe Pussy Riot aus der Haft – bezeichnenderweise nicht durch die Justiz selbst, sondern durch Amnestie bzw. Begnadigung – bleiben deren Haftstrafen Beispiele für politisch motivierte Urteile. Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 24.1.2017).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/336603/479281_de.html, Zugriff 22.6.2017

-        CACI Analyst – Central Asia-Caucasus Institute (11.12.2013): New Anti-Terrorism Law to Target Families of North Caucasus Insurgents, http://www.cacianalyst.org/publications/analytical-articles/item/12876-new-anti-terrorism-law-to-target-families-of-north-caucasus-insurgents.html, Zugriff 22.6.2017

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

-        ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

-        U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html, Zugriff 22.6.2017

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. Im April 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 3.3.2017).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus. Die Regierung verabsäumte es angemessene Schritte zu setzen, um die meisten Behördenvertreter, welche Missbräuche begingen, zu verfolgen oder zu bestrafen, wodurch ein Klima der Straffreiheit entstand. Die Rechtsstaatlichkeit ist besonders im Nordkaukasus mangelhaft, wo der Konflikt zwischen Regierungstruppen, Aufständischen, islamischen Militanten und Kriminellen zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen führt, einschließlich Morde, Folter, körperliche Misshandlung und politisch motivierte Entführungen. Die Regierung untersucht und verfolgt Missbräuche nicht adäquat, besonders wenn regionale Behörden involviert waren. Tschetschenische Sicherheitsbehörden unter direkter Kontrolle von Ramzan Kadyrow können mit Straffreiheit rechnen, sogar bei Drohungen gegen russische Sicherheitsbehörden, die versuchen in Tschetschenien tätig zu werden (US DOS 13.4.2016).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 24.1.2017).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Von russischer Seite werden die meisten Operationen im Nordkaukasus gegen Terroristen heute nicht mehr vom Militär, sondern von Einheiten des Innenministeriums und des Geheimdienstes durchgeführt. Diese sind zwar nicht weniger schwer bewaffnet, nur soll so der Eindruck eines Krieges vermieden werden (Zenith 10.2.2014). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnender Weise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramsan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramsan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017).

NGOs berichten, dass lokale Polizeibeamten manchmal nicht auf Anzeigen von Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt reagieren, solange das Leben des Opfers nicht in Gefahr ist. Viele Frauen melden keine Vergewaltigungen oder andere Arten von Gewalt, besonders wenn sie von Ehepartner begangen wurden, aufgrund des sozialen Stigmas und dem Mangel an offizieller Unterstützung (US DOS 3.3.2017, vgl. EASO 3.2017).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

-        Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 21.6.2017

-        U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html, Zugriff 21.6.2017

-        Zenith (10.2.2014): Speznaz, Spiele und Korruption, Zugriff 21.6.2017

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2016, vgl. EASO 3.2017).

Aus ganz Russland werden Folter und Todesfälle von Häftlingen – insbesondere in Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft – gemeldet. NGOs wie „Amnesty International“ oder das russische „Komitee gegen Folter“ berichten, dass es bei Verhaftungen, in Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch die Polizei und die Ermittlungsbehörden kommt. Opfer, die ihr Recht auf Entschädigung geltend machen wollten, wurden häufig unter Druck gesetzt, um sie zu einer Rücknahme ihrer Klage zu bewegen. Untersuchungen von Foltervorwürfen blieben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ wurden vor Gericht als Beweismittel anerkannt. Nur in einigen wenigen Fällen, in denen sich Menschenrechtsorganisationen eingeschaltet hatten, wurde Anklage gegen die an der Folter beteiligten Staatsbediensteten erhoben. Es gibt v.a. im Nordkaukasus Fälle von Folter sowie Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte (AA 24.1.2017).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 3.3.2017).

Auch 2016 waren systematische Folter und andere Misshandlungen in den ersten Tagen der Haft und in Gefängniskolonien weit verbreitet (AI 22.2.2017).

Medien und NGOs berichten über Exekutivkräfte und Gefängnispersonal, die in Folter verwickelt sind. Missbrauch und exzessive Gewaltanwendung sind verbreitet und lassen darauf schließen, dass dies vor allem im Strafsystem regelmäßig vorkommt. Schlechte Ausbildung und eine Kultur der Straffreiheit tragen zu dieser Situation bei. Die russische NGO Committee Against Torture zeigt Folter durch Exekutivkräfte im Nordkaukasus auf und arbeitet daran, dass diese für ihre Vergehen bestraft werden (UK FCO 12.3.2015).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/336603/479281_de.html, Zugriff 22.6.2017

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 22.6.2017

-        ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

-        UK FCO – UK Foreign and Commonwealth Office (12.3.2015): Human Rights and Democracy Report 2014 - Section XII: Human Rights in Countries of Concern – Russia, https://www.gov.uk/government/publications/russia-country-of-concern--2/russia-country-of-concern#conflict-and-protection-of-civilians, Zugriff 22.6.2017

-        U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html, Zugriff 22.6.2017

Allgemeine Menschenrechtslage

-        Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein „demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform“ ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach „sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 24.1.2017)

Die Menschenrechtslage in Russland hat sich weiter verschlechtert. Neben der mangelnden Unabhängigkeit von Justiz und Gerichten sind v.a. Gewaltakte im Strafvollzug gegenüber Häftlingen und deren unzureichende medizinische Versorgung gravierende Probleme. Die damalige Ombudsfrau (Menschenrechtsbeauftragte) der Russischen Föderation, Ella Pamfilowa, mahnte in ihrem Jahresbericht 2015 unter anderem eine Präzisierung des Begriffes „politische Tätigkeit“ im Gesetz über NGOs an. Im Mai 2016 kam es in der Tat zu einer Gesetzesänderung. Seitdem wird allerdings nahezu jede NGO-Aktivität im öffentlichen Raum als „politisch“ gewertet. Das hat zur Folge, dass NGOs in das Register „ausländischer Agenten“ eingetragen werden können, wodurch sie häufig gezwungen sind, ihre Tätigkeiten massiv einzuschränken oder sogar einzustellen. Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Zuletzt hat er angemahnt, Amnesty International Zugang zu ihren von der Moskauer Stadtverwaltung geschlossenen Büros zu gewähren. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt. Auch der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren, so der Jahresbericht 2015, 14,2% der anhängigen Fälle (9.200 Einzelfälle) Russland zuzurechnen. 2015 hat der EGMR 116 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führt Russland die Liste der gesprochenen Urteile an. Die EGMR-Entscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus und konstatierten mehr oder weniger gravierende Menschenrechtsverletzungen. Die Hälfte der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. Im Rahmen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation wird von teilweise schweren Menschenrechtsverletzungen berichtet. Die OSZE (ODIHR und High Commissioner for National Minorities) berichtete im September 2015 über Einschränkungen der Versammlungs-, Vereinigungs-, Bewegungs- und Meinungsfreiheit. Im Wesentlichen leiden Kritiker der Krim-Annexion, Angehörige der Krim-Tataren, Vertreter des Kiewer Patriarchats der orthodoxen Kirche, der katholischen und protestantischen Kirche sowie der Zeugen Jehovas unter Einschränkungen ihrer Rechte. Im September 2016 wurde die Mejlis, der repräsentative Rat der Krimtataren, vom russischen Obersten Gerichtshof als extremistische Organisation eingestuft und verboten. Diverse Mejlis-Mitglieder erleiden (polizeiliche) Repressalien oder stehen unter Anklage (AA 24.1.2017).

Menschenrechtsverletzungen kommen regelmäßig vor. Zwar werden in Russland die Grundrechte in der Verfassung garantiert, es wächst jedoch der Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichen Normen und der Rechtswirklichkeit. Die Staatsführung bekennt sich offiziell zur Einhaltung der Menschenrechte, stellt einige jedoch mit Verweis auf „traditionelle russische Werte“ infrage (z.B. Nicht-Diskriminierung von LGBT-Personen) und leistet Verletzungen Vorschub (z.B. Stigmatisierung kritischer Stimmen als staatsfeindlich) bzw. bemüht sich nicht ausreichend um Prävention und Strafverfolgung (z.B. Übergriffe gegen Journalisten). Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen bleibt der Nordkaukasus. Im Verlauf des Berichtszeitraumes hat sich trotz rückläufiger Opferzahlen die Sicherheits- und Menschenrechtslage in der Region insgesamt nicht verbessert. Insbesondere in Dagestan, Inguschetien und Tschetschenien bleibt die Menschenrechtslage schlecht. Die Sorge vor einer möglichen Ausbreitung der Gewalt im bislang relativ ruhigen westlichen Nordkaukasus besteht fort (AA 24.1.2017).

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren im Jahr 2016 verstärkten Einschränkungen unterworfen. Menschenrechtsverteidiger wurden wegen ihrer Aktivitäten mit Geldstrafen belegt oder strafrechtlich verfolgt. Zum ersten Mal kam es wegen eines Verstoßes gegen das sogenannte Agentengesetz zur Strafverfolgung. Eine Reihe von Personen wurde wegen ihrer Kritik an der Staatspolitik oder des Besitzes bzw. Verbreitens extremistischer Materialien nach den Rechtsvorschriften zur Bekämpfung des Extremismus unter Anklage gestellt. Es gab Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen in den Strafvollzugsanstalten des Landes (AI 22.2.2017, vgl. HRW 12.1.2017).

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs. Menschenrechtler beklagen staatlichen Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung sind autoritäre, die Grundrechte einschränkende Tendenzen zu beobachten (GIZ 4.2017a).

Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausübten. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erleben in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben. Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland findet derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten nicht statt. Laut einer rezenten Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%) (ÖB Moskau 12.2016).

Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet. Im Februar 2016 führte das Komitee gegen Folter des Europarats eine Mission in die Republiken Dagestan und Kabardino-Balkarien durch. Auch Vertreter des russischen präsidentiellen Menschenrechtrats bereisten im Juni 2016 den Nordkaukasus und traf sich mit den einzelnen Republikoberhäuptern (ein Treffen mit Ramzan Kadyrow wurde abgesagt, nachdem die tschetschenischen Behörden gegen die Teilnahme des Leiters der NGO Komitee gegen Folter Igor Kaljapin protestiert hatten) (ÖB Moskau 12.2016).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/336603/479281_de.html, Zugriff 28.6.2017

-        GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17903, Zugriff 28.6.2017

-        HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)

-        ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

Haftbedingungen

Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 90er Jahre langsam aber kontinuierlich verbessert, die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil noch immer nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. In dem Piloturteil-Verfahren des EGMR zum Fall Ananyev und andere v. Russland hat das Gericht festgestellt, dass die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen (russ. SIZO) einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK entsprechen und das Problem systemischer Natur ist. 2012 legte Russland einen Aktionsplan zur Bekämpfung der Probleme im Straffvollzug vor, der vom Ministerkomitee des Europarates positiv aufgenommen wurde. Konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation, insbesondere in den Untersuchungsgefängnissen, werden jedoch nur schleppend umgesetzt. Allein im Jahr 2014 stellte der EGMR in fast 30 Urteilen gegen Russland fest, dass die Haftbedingungen noch immer gegen Art. 3 EMRK verstoßen. Die häufigsten Vorwürfe betrafen die schlechten hygienischen Zustände (unzureichende Sanitäreinrichtungen, kein ausreichendes Ventilationssystem, Unterbringung mit Häftlingen mit Infektionskrankheiten), akuter Platzmangel (zu viele Häftlinge in zu kleinen Zellen) und Mangel an medizinischer Betreuung (ÖB Moskau 12.2016).

Die Situation im Strafvollzug ist unbefriedigend. Die Regierung ist allerdings bestrebt, die Zahl der Gefängnisinsassen weiter zu verringern. So gibt es Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen (wie beispielsweise im Bereich der Drogendelikte ein Gesetzentwurf zu freiwilliger Entziehungstherapie oder Arbeitseinsatz statt Freiheitsstrafe) zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern. Die Lage in den Strafkolonien (in Russland Oberbegriff für Haftanstalten, in denen eine gerichtlich verhängte Freiheitsstrafe verbüßt wird) und die Bedingungen des Strafvollzugs bleiben sehr schwierig. Die meisten Strafanstalten und Untersuchungsgefängnisse sind veraltet und überbelegt. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen von über 40 Personen und ist häufig sehr schlecht. Duschen ist vielfach nur gelegentlich möglich. Das Essen ist einseitig und vitaminarm. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls unbefriedigend. Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Besonders schlecht ist die Lage in den Untersuchungshaftanstalten. Im Vergleich zu den Strafkolonien berichten Insassen von deutlich schlechteren Haftbedingungen (z.B. Überbelegungen) und viel geringerem Schutz gegenüber ungerechten Behandlungen. Die Untersuchungshaft wird in Einzelfällen über Jahre verlängert. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Untersuchungshäftlinge jedoch rückläufig. Die unter Präsident Medwedew erfolgte Liberalisierung des Strafrechts für Wirtschaftsvergehen (u.a. teilweise Abschaffung der Untersuchungshaft) wird in vielen Fällen von Gerichten und Strafvollzugsbehörden nicht umgesetzt und dient manchmal korrupten Ermittler

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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