TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/18 W117 2231751-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.10.2021
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Entscheidungsdatum

18.10.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W117 2210969-2/10E

W117 2231756-1/8E

W117 2231753-1/8E

W117 2231749-1/8E

W117 2231751-1/8E

W117 2231754-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. DRUCKENTHANER über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. mj. XXXX , geb. XXXX , 3. mj. XXXX , geb. XXXX , 4. mj. XXXX , geb. XXXX , 5. mj. XXXX , geb. XXXX , 6. mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, alle Minderjährigen vertreten durch XXXX , diese vertreten durch die BBU – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, jeweils gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2020, 1. Zl. 1256414105-191319872, 2. Zl. 1256411005-191319899, 3. Zl. 1256411201-191319902, 4. Zl. 1256411408-191319915, 5. Zl. 1256411506-191319929 und 6. Zl. 1256411604-191319945 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.09.2021, zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF 1) ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Zweitbeschwerdeführers (in der Folge: BF 2), des Drittbeschwerdeführers (in der Folge: BF 3), der Viertbeschwerdeführerin (in der Folge BF 4), des Fünftbeschwerdeführers (in der Folge: BF 5) und der Sechstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF 6).

Die Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reisten am 27.12.2019 ins Bundesgebiet ein und beantragten internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die BF 1 an, aus der Provinz Laghman zu stammen, zuletzt als Krankenschwester gearbeitet zu haben und am 20.11.2019 gemeinsam mit ihren fünf Kindern mit dem Flugzeug aus Afghanistan in den Iran ausgereist zu sein. Ihr afghanischer Reisepass sei ihr von Schleppern in Teheran abgenommen worden. Anschließend seien sie (u.a.) über die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Österreich eingereist. Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF 1 an, dass ihr Ehemann Staatsanwalt in Afghanistan gewesen sei. Die Taliban hätten ihm Drohbriefe geschrieben, damit er die gefangenen Taliban-Kämpfer freilässt, woraufhin sich die Familie an die Polizei gewandt hätte. Seit sechs Monaten sei ihr Ehemann nun verschwunden. Es gebe keine Sicherheit in Afghanistan, deshalb hätte sie mit den Kindern (BF 2 bis BF 6) das Land verlassen.

Am 03.03.2020 wurde die BF 1 niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) einvernommen. Dabei bestätigte die BF 1 im Wesentlichen ihre im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte dazu näher aus, mit ihrer Familie in Laghman, in der Hauptstadt Mehtarlam, im Dorf XXXX , im Haus ihres Schwiegervaters, gelebt zu haben, als ihr Ehemann vor ca. zehn Monaten in Jalalabad verschwunden sei. Dieser habe 15 Jahre lang für die Regierung gearbeitet, weshalb sie zwei Drohbriefe von den Taliban erhalten hätten. Was er genau gearbeitet habe, wisse sie nicht; er sei für die Gefangenen zuständig gewesen, Uniform habe er aber keine getragen. Den ersten Brief hätten sie im April 2019 im Garten gefunden, der zweite sei ca. 25 Tage später an der Eingangstüre gehangen. Im ersten Brief sei gestanden, dass ihr Mann die Gefangenen freilassen solle, im zweiten, dass die Taliban seine Familie umbringen würde. Ein Verwandter ihres Mannes habe gewusst, wer die Briefe geschrieben habe und es ihrem Mann erzählt. Dieser sei daraufhin zur Polizei gegangen, die wiederum in der Folge ein Haus angegriffen habe. Dagegen habe es Widerstand gegeben und sei im Zuge dessen ein Taliban-Zugehöriger von der Polizei getötet und die restlichen Taliban verhaftet worden. Zwei Wochen später, vor ca. zehn Monaten, sei ihr Mann zu einer Hochzeit nach Jalalabad gefahren. Seither sei sein Handy ausgeschaltet und dieser verschwunden. Nachfragen hätten ergeben, dass ihr Mann nicht bei der Hochzeit gewesen sei. Sie hätte sich dann, gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Schwiegervater, aus Angst vor den Taliban bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern versteckt. Fünf Tage später habe sie von Nachbarn erfahren, dass zwei bewaffnete Personen bei ihrem Haus gewesen und nach ihnen gefragt hätten, dies sei auch noch ein weiteres Mal passiert. Sie hätten insgesamt sechs Monate bei ihrer Familie gelebt wie Gefangene, ihre Kinder hätten während dieser Zeit nicht in die Schule gehen können. Ihre Mutter, ihr Schwiegervater und ihr Bruder hätten dann die Flucht nach Europa für sie entschieden.

Am 20.11.2019 sei sie gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Schwiegervater legal von Laghman nach Kabul und von dort mit dem Flugzeug in den Iran ausgereist. Dort sei ihr dann von Schleppern der Reisepass abgenommen worden und sie sei mit ihren Kindern schlepperunterstützt zu Fuß und mit dem Auto nach Europa weitergereist. Den Schwiegervater hätten sie auf der Flucht verloren, weil es im Auto nicht genug Platz gegeben habe. Sie wisse nicht, wo dieser sich jetzt aufhalte.

Sie sei sunnitische Paschtunin und habe in Afghanistan sechs Jahre lang die Grundschule besucht. Vor ca. 14 Jahren habe sie ihren Ehemann traditionell geheiratet, die Ehe sei nicht registriert. Zuletzt habe sie in Afghanistan für die Regierung gearbeitet und Kindern Polio-Tropfen verabreicht, wobei sie 8.000 Afghani/Monat verdient habe. Ihre wirtschaftliche Situation in Afghanistan sei gut gewesen. Der BF 2 und der BF 3 seien in Afghanistan in die Schule gegangen.

In Afghanistan würden noch ihre Mutter, ihr Bruder und ihre beiden Schwestern leben. Ihr Bruder habe ein eigenes Geschäft und würde sich um die Mutter sowie ihre beiden (noch unverheirateten) Schwestern kümmern. Mit ihrer Mutter habe sie zweimal telefoniert, seit sie in Österreich sei.

Im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan befürchte die BF 1, dass sie und ihre Kinder von den Taliban getötet würden. Ihre Kinder hätten dieselben Fluchtgründe wie sie selbst.

In Österreich habe sie sich bereits gut eingelebt, den Lebensunterhalt bestreite die Familie von der Grundversorgung. Sie, die BF 1, besuche seit ca. zwei Monaten einen Deutschkurs. Sie sei sehr beschäftigt mit den Kindern, drei gingen in die Schule, zwei seien zuhause. Ihre Freizeit verbringe sie mit kochen, waschen, bügeln und lernen. Bei Schönwetter gehe sie mit den Kindern nach draußen und beobachte diese beim Spielen. Die Einkäufe erledige sie alleine oder gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn. Wenn die Kinder größer seien, wolle sie gerne arbeiten gehen. Sowohl sie als auch die Kinder seien gesund.

Vorgelegt wurden die Tazkiras der BF 1 sowie der BF 3 bis BF 6. Die Tazkira des BF 2 sei vermutlich in Afghanistan verloren gegangen. Weiters legte die BF 1 (u.a.) die Arbeitskarte ihres Ehegatten im Original sowie zwei Drohbriefe der Taliban vor.

Mit Bescheiden des BFA vom 23.04.2020 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 27.12.2019 jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) abgewiesen. Der BF 1 wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG und den BF 2-6 gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkte II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.04.2021 erteilt (Spruchpunkte III.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass es den BF nicht gelungen sei, eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen. Die Heimatprovinz der BF (Laghman) zähle jedoch zu den volatilen Provinzen des Landes und bestünden für die BF außerhalb dieser keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte, sodass die BF im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr liefen, in eine existenzielle Notlage zu geraten.

Mit Verfahrensanordnung vom 30.04.2019 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

Mit Schriftsatz vom 28.05.2020 erhoben die BF durch ihre ausgewiesene Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide vom 23.04.2020 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung für die BF günstigere Bescheide erzielt worden wären.

Bemängelt wurde zunächst das mangelhafte Ermittlungsverfahren aufgrund unvollständiger Länderfeststellungen, die sich nicht ausreichend mit dem konkreten Fluchtvorbringen der BF befassen würden.

Darüber hinaus sei auch die Beweiswürdigung unschlüssig und die darauf gestützten Sachverhaltsfeststellungen mangelhaft, wodurch § 60 AVG verletzt werde. Vermeintliche Widersprüche in den Angaben der BF hätten sich durch eine nähere Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen auflösen lassen, bzw. seien diese zum Teil auf – nicht unübliche – (sprachliche) Missverständnisse im Zuge der Übersetzung zurückzuführen und würden nicht ausreichen, um der BF 1 die Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Die BF hätten in Afghanistan mit einer Verfolgung aufgrund der (ihnen unterstellten) politischen Gesinnung durch die Taliban zu rechnen, da der Ehemann der BF 1 für die afghanische Regierung gearbeitet und nicht mit den Taliban kooperiert habe. Staatliche Behörden seien nicht in der Lage, die BF ausreichend vor der Verfolgung durch die Taliban zu schützen, das BFA habe es verabsäumt, sich mit der mangelnden Schutzfähigkeit des afghanischen Staates auseinanderzusetzen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative käme für die BF 1 als alleinstehende Mutter von fünf unmündigen Kindern nicht in Frage. Den BF wäre demnach internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren gewesen.

Beantragt wurde die Behebung der (gemeint wohl: Spruchpunkte I. der) angefochtenen Bescheide und Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, in eventu, die ersatzlose Behebung der Bescheide im angefochtenen Umfang und Zurückverweisung zur Verfahrungsergänzung und neuerlichen Entscheidung an die Behörde sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) die Beschwerden sowie die Verwaltungsakten, einlangend am 08.06.2020, vor und beantragte die Abweisung der Beschwerden.

Am 14.09.2021 führte das BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die BF 1, vertreten durch die BBU GmbH und unter Heranziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, zu ihren persönlichen Lebensumständen und Fluchtgründen sowie – als deren gesetzliche Vertreterin – zu jenen der BF 2-6 befragt wurde.

Die Verhandlung nahm entscheidungswesentlich folgenden Verlauf:

„[…]

R: Sie haben in der Erstbefragung am 27.12.2019 angeführt, dass Ihr Ehegatte Staatsanwalt gewesen sei. Bei der nachfolgenden Einvernahme am 03.03.2020 gaben Sie aber an, dass Sie nicht genau wissen, was er gemacht habe. Er hätte für die Regierung gearbeitet, sei irgendwie mit Gefangenen beruflich tätig gewesen, Uniform hätte er keine angehabt und diese Aussage verwundert mich etwas, weil Sie offensichtlich das vorgelegt haben. Wie können Sie in der Einvernahme nicht wissen, wenn Sie derartiges vorlegen?

BF1: Ich habe bei der Erstbefragung und bei der ersten Einvernahme angegeben, dass mein Ehemann Staatsanwalt war. Ich habe auch seine Dokumente vorgelegt. Ich wurde gefragt, in welcher Abteilung mein Mann gearbeitet hat und ich habe geantwortet, dass er mit Häftlingen gearbeitet hat. Er war in der Abteilung, dort wo Häftlinge festgenommen und freigelassen werden.

Der BF wird ab Seite 64, 65 diesbezüglich in Detail vorgehalten.

BF1: Mein Mann war einer ständigen Gefahr ausgesetzt. Sie wissen es, dass in AFG Ärzte, Staatsanwälte und Journalisten gefährdet sind.

R: Das ist aber nicht die Antwort auf meine Frage.

BF1: Ich wollte damit sagen, dass jeder der für die Regierung arbeitet gefährdet ist.

R: Ist es üblich das in AFG in Englisch und Pashtu ausgestellt werden?

BF1: Ja, normalerweise werden diese Zertifikate sowohl in Dari als auch in Pashtu ausgestellt.

R: Aber dies beantwortet wieder nicht in meine Frage.

BF1: An manchen Stellen wird auch ein Zertifikat in englischer Sprache ausgestellt.

Festgestellt wird, dass das Zertifikat am 25. Monat nicht leserlich 1388 (umgerechnet 21.03.2009 bis 20.03.2010) ausgestellt wurde.

R: Ist das eine Bestätigung über die Arbeit des Gatten bis 2010?

BF1: Das ist eine Urkunde.

R: Aber es geht mir um den Zeitraum.

BF1: Das ist eine Urkunde. Er hat nämlich einen Kurs besucht, dieser wurde von einer Organisation geführt und darüber wurde ein Zertifikat ausgestellt.

R: Sie haben im erstinstanzlichen Verfahren angegeben, dass Ihre Ehe mit Ihrem Gatten eine reine Mullah-Ehe ist. Das verwundert mich jetzt, weil wenn Ihr Gatte tatsächlich als Staatsanwalt für die afghanische Regierung gearbeitet hat, ist es sehr unüblich das diese Ehe im afghanischen Staat nicht registriert ist.

BF1: Man kann die Ehe auch im Nachhinein zu einem späteren Zeitpunkt registrieren lassen. Unsere Eheschließung fand zu Hause statt. Es werden viele Ehe nicht registriert.

R: Die Behörde setzt sich mit den Taliban-Briefen auseinander. Die Drohbriefe liegen aber nicht im Akt auf.

BF1: Bei meiner Einvernahme wurden mir die Drohbriefe abgenommen. Die Kopien legen dem Akt bei. Die Originale sollten daher im Akt liegen

BFV: Laut Bescheid hat die BF1 die Drohbriefe abgegeben. Ich kann Ihnen die Kopien der Drohbriefe vorlegen.

R: Die Behörde hat nun folgenden Probleme mit Ihren Drohbriefen; der BF1 wird ab Seite 345 im Detail vorgehalten.

BF1: Diese Briefe wurden in unserem Haus geworden. Die Inhalte wurden nicht im Nachhinein eingetragen.

R: Die Behörde hat dann auch noch moniert, dass die Taliban lediglich ihren Mann entführt hätten wollen/sollen und ihren Kindern die Chance gegeben haben, flüchten zu können. BF1 wird weiter von Seite 345 vorgehalten.

BF1: Er hat einen Brief erhalten, in den wurde aufgefordert, die Häftlinge frei zulassen. Das hat er nicht getan. Er wurde in diesem Brief aufgefordert, die Häftlinge zu entlassen, wenn er das nicht zu tut, wird man ihn und seine Familie töten.

R: Obwohl man das gesagt hat, sind Sie statt zugleich zu flüchten weitere sechs Monate dortgeblieben?

BF1: Ich war sechs Monate lang bei meiner Mutter. Ich habe mich dort versteckt. Ich bin von zu Hause mit meinen Kindern zu meiner Mutter gezogen. Ich bin dann auch nicht mehr arbeiten gegangen. Nach diesen Drohungen sagte mir mein Mann, dass ich aufhören soll zu arbeiten.

BF2 bis BF6 verlassen den Verhandlungssaal um 10:19 Uhr.

R: Was haben Sie in AFG selbst gearbeitet?

BF1: Ich habe dreimal in der Woche Polio-Impfungen gegeben. Ich bin in den Dörfern unterwegs gewesen und bin Haus zu Haus gegangen. Ich habe mich um die Kinder gekümmert und um den Haushalt gekümmert und nebenbei habe ich die Polio-Impfung gegeben.

BFV bringt vor:

Aufgrund der Taliban-Übernahme der Grad für die Annahme der Verwestlichung massiv gesunken seien, sodass die BF unter diesen Maßstab Asyl zu gewähren werde. Der Grund ist darin zu sehen, dass BF1 sich weigern würde Hijab zu tragen. Zur Frage, weshalb sich die BF weitere sechs Monate nach der Bedrohung der Taliban in AFG aufhalten konnte, wird auf die VwGH 2007/19/0459 Judikatur verwiesen, wonach auch länger zurückliegenden Ereignisse für die Annahmen wohlbegründeten Flucht sprechen könnte, wenn die schutzsuchende Person bis zur ihrer Flucht verstecken konnte.

R: Wissen Sie, wo Ihr Gatte heute ist?

BF1: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wo sich mein Ehemann zurzeit aufhält. Ich weiß nicht, ob mein Ehemann am Leben ist. Wenn man in die Hände der Taliban geht, glauben Sie wirklich das die Taliban jemanden am Leben lassen?

Folgende Erkenntnisquellen werden der beschwerdeführenden Partei genannt und deren Inhalt erörtert:

Quellen:

- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

- UNHCR Position on Returns to Afghanistan (August 2021)

- UNHCR Afghanistan Situation Supplementary Appeal (July-December 2021)

- Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS vom 28.06.2021

- Sonderkurzinformation der Staatendokumentation (Aktuelle Lage in Afghanistan) vom 17.08.2021

- Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Stand: 20.08.2021)

-- EASO Country Guidance: Afghanistan 2020

Der R erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte.

Im Anschluss daran legt der R die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

Die R gibt den Parteien die Möglichkeit, in diese herkunftsstaatsbezogenen Berichte Einsicht zu nehmen sowie zu den vom R dargelegten Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben.

BFV: Ich verweise auf das vorherige ausgeführte.

R: Gibt es etwas zu den Kindern vorzubringen?

BFV: Die Zeugnisse der Kinder wurden bereits vorgelegt. Es gibt noch ein weiteres Zeugnis von der BF4 XXXX . Ich lege das entsprechende Zeugnis als Kopie vor. Zu den Töchtern ist noch auszuführen, dass sie kein Kopftuch tragen und dass die BF1 plant ihre Töchter frei und selbstständig Leben zu lassen in Österreich. Ich hätte noch zwei Dokumente zu BF1 vorlegen. Die Bestätigung für den Alphabetisierungskurs und dass sie beim AMS als Arbeitsuchende vorgemerkt ist.

Festhalten wird, dass die BF nicht vorgestraft sind.

[…]“

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

I. Sachverhalt:

Zur Person der BF 1:

Die BF 1 ist Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Sie stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ), ist mit XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist) verheiratet und die Mutter und gesetzliche Vertreterin der BF 2-6. Ihre Muttersprache ist Dari, daneben spricht sie auch Paschtu sowie ein wenig Deutsch.

In Afghanistan leben noch die Mutter der BF 1 sowie ihr Bruder und ihre beiden Schwestern. Darüber hinaus hat die BF 1 keine Angehörigen im Herkunftsstaat. In Österreich lebt sie gemeinsam mit ihren fünf minderjährigen Kindern (BF 2 bis BF 6), ansonsten hat die BF 1 auch im Bundesgebiet keine Angehörigen.

In Afghanistan hat die BF 1 sechs Jahre lang die Grundschule besucht und war dort zuletzt als Krankenschwester tätig, wobei es ihre Aufgabe war, dreimal wöchentlich Polio-Impfungen an Kinder in verschiedenen Dörfern zu verabreichen.

In Österreich besuchte die BF 1 von 21.09.2020 bis 27.01.2021 sowie von 16.03.2021 bis 24.08.2021 (täglich montags bis freitags) einen Alphabetisierungs-Kurs. Außerdem nahm sie am 01.07.2020 an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teil. Seit 05.03.2021 ist sie beim AMS als arbeitsuchend vorgemerkt.

Die BF 1 ist arbeitsfähig und – abgesehen von einer Entzündung im Halsbereich, die eine einwöchige stationäre Behandlung im Krankenhaus erforderlich machte – gesund.

Die BF 1 ist strafgerichtlich unbescholten.

Zur Person des BF 2:

Der BF 2 ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgruppe der sunnitischen Muslime. Der BF 2 stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ), und ist der Sohn der BF 1 sowie XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist). Er ist ledig und hat vier Geschwister (BF 3-6). Seine Muttersprache ist Dari.

In Österreich besucht der BF 2 seit 07.09.2020 eine öffentliche Mittelschule.

Der BF 2 ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.

Zur Person des BF 3:

Der BF 3 ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgruppe der sunnitischen Muslime. Der BF 3 stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ). Er ist der Sohn der BF 1 sowie XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist) und hat vier Geschwister (BF 2 und BF 4-6). Seine Muttersprache ist Dari.

In Österreich besucht der BF 3 seit 07.09.2020 eine öffentliche Volksschule.

Der BF 3 ist gesund.

Zur Person der BF 4:

Die BF 4 ist Staatsangehörige von Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgruppe der sunnitischen Muslime. Die BF 4 stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ). Sie ist die Tochter der BF 1 sowie XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist) und hat vier Geschwister (BF 2-3 und BF 5-6). Ihre Muttersprache ist Dari.

In Österreich besucht die BF 4 seit 07.09.2020 eine öffentliche Volksschule.

Die BF 4 ist gesund.

Zur Person des BF 5:

Der BF 5 ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgruppe der sunnitischen Muslime. Der BF 5 stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ). Er ist der Sohn der BF 1 sowie XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist) und hat vier Geschwister (BF 2-4 und BF 6). Seine Muttersprache ist Dari.

In Österreich besucht der BF 5 seit 01.01.2021 einen städtischen Kindergarten.

Der BF 5 ist gesund.

Zur Person der BF 6:

Die BF 6 ist Staatsangehörige von Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen sowie der Religionsgruppe der sunnitischen Muslime. Die BF 6 stammt aus der Provinz Laghman, aus der Hauptstadt Mehtarlam (Dorf XXXX ). Sie ist die Tochter der BF 1 sowie XXXX (der seit Mai 2019 verschollen ist) und hat vier Geschwister (BF 2-5). Ihre Muttersprache ist Dari.

In Österreich besucht die BF 6 seit 01.01.2021 einen städtischen Kindergarten.

Die BF 6 ist gesund.

Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation der BF:

Die BF lebten bis Mai 2019 in ihrem Herkunftsstaat gemeinsam mit XXXX – dem Ehegatten der BF 1 und Vater der BF 2-6 – sowie dem Schwiegervater der BF 1 in dessen Haus in der Provinz Laghman, Mehtarlam (Dorf XXXX ). Der Ehemann der BF 1 und Vater der BF 2-6 war 15 Jahre lang als Generalstaatsanwalt für die afghanische Regierung tätig, wobei er für die Inhaftierung der Gefangenen zuständig war. Im April sowie im Mai 2019 erhielt er (insgesamt) zwei Drohbriefe von den Taliban, in denen er aufgefordert wurde, inhaftierte Taliban-Kämpfer freizulassen, bzw. – als er dieser Aufforderung nicht nachkam – mit dem Tod und dem Tod seiner Familie bedroht wurde. Nachdem er einen Hinweis bezüglich der Verfasser dieser Briefe von einem Verwandten bekam, meldete er sowohl den Erhalt als auch die Namen der vermeintlichen Verfasser der Drohbriefe der afghanischen Polizei.

In der Folge wurde bei einer Hausdurchsuchung (die anlässlich der Anzeige des Ehemannes der BF 1 erfolgte) ein Angehöriger der Taliban von der Polizei getötet und weitere Angehörige der Taliban festgenommen.

Als der Ehemann der BF 1 sich etwa zwei Wochen später auf den Weg zu einer Hochzeit nach Jalalabad machte, verschwand dieser auf dem Weg dorthin und gilt seither als verschollen.

Aus Angst vor den Taliban flüchtete die BF 1 daraufhin, gemeinsam mit ihren fünf minderjährigen Kindern und ihrem Schwiegervater, in das Haus ihrer Familie (Mutter, Bruder, zwei Schwestern), wo sich die BF für sechs Monate versteckt hielten. Von (ehemaligen) Nachbarn erfuhr die BF 1, dass – nachdem sie Unterschlupf bei ihrer Familie gefunden hatten – zweimal bewaffnete Personen bei ihrem Haus gewesen und nach ihnen gefragt hatten. Während die BF sich im Haus der Familie der BF 1 versteckt hielten, verließen sie dieses nicht; die BF 1 ging während dieser Zeit nicht mehr arbeiten und die Kinder nicht zur Schule. Die Mutter der BF 1, ihr Schwiegervater und ihr Bruder entschieden schließlich, dass die BF 1 gemeinsam mit den BF 2-6 und ihrem Schwiegervater die Flucht nach Europa antreten solle, was diese in der Folge auch taten.

Am 20.11.2019 reiste die BF 1 gemeinsam mit den BF 2-6 und ihrem Schwiegervater legal von Laghman nach Kabul und von dort mit dem Flugzeug in den Iran aus, wo der BF 1 von Schleppern der Reisepass abgenommen wurde. Schlepperunterstützt reiste die BF 1 von dort gemeinsam mit den BF 2-6 zu Fuß und mit dem Auto über die Türkei weiter nach Europa. Den Schwiegervater verloren die BF auf der Flucht, weil es im Auto nicht genug Platz für alle gab. Die BF wissen nicht, wo dieser sich aktuell aufhält.

Am 27.12.2019 reisten die BF in das österreichische Bundesgebiet ein und beantragten internationalen Schutz. Seither halten sie sich durchgehend in Österreich auf.

Im Falle einer Rückkehr der BF nach Afghanistan besteht die reale Gefahr, dass diese aufgrund der (ihnen unterstellten) politischen (talibanfeindlichen) Gesinnung von den Taliban verfolgt würden, da der Ehemann der BF 1 für die afghanische Regierung gearbeitet und nicht mit den Taliban kooperiert hat.

Staatliche Behörden wären nicht in der Lage, die BF ausreichend vor der Verfolgung durch die Taliban zu schützen.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt für die BF spätestens seit der Machtübernahme durch die Taliban im August dJ nicht in Betracht.

Es liegen bei den BF keine Asylausschluss- oder Endigungsgründe vor.

Zum Herkunftsstaat:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat der BF herangezogen:

?        Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS vom  16.09.2021

?        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer  Asylsuchender vom 30.08.2018

?        UNHCR Position on Returns to Afghanistan (August 2021)

?        UNHCR Afghanistan Situation Supplementary Appeal (July-December 2021)

?        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation (Aktuelle Lage in Afghanistan)  vom 17.08.2021

?        Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und  Informationen in Afghanistan (Stand: 20.08.2021)

-?       EASO Country Guidance: Afghanistan 2020

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 16.09.2021, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…]

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

[…]

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

[…]

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021).

Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

[…]

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der USAmerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen.

Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021). […]

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Sharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021).

Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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