TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/21 Ra 2021/19/0077

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.12.2021
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58
AVG §60
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §41
VwGG §42 Abs2 Z3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2021, 1. W193 2209888-1/16E und 2. W193 2209885-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. M N T und 2. M A T, beide vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Die Mitbeteiligten sind afghanische Staatsbürger und Brüder. Sie stellten jeweils am 18. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, sie seien beide Lehrer gewesen und deswegen von den Taliban bedroht, der Erstmitbeteiligte sogar von diesen entführt und nur gegen ein Lösegeld wieder freigelassen worden. Als die Drohungen nicht aufgehört hätten, hätten sie Afghanistan verlassen.

2        Mit Bescheiden jeweils vom 12. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Mitbeteiligten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für ihre freiwillige Ausreise fest.

3        Mit den angefochtenen Erkenntnissen gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte ihnen jeweils den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Das BVwG stellte fest, die Mitbeteiligten stammten aus der Stadt Kandahar und seien sunnitische Moslems. In Afghanistan hätten sie bis zur 12. Klasse die Schule besucht, der Erstmitbeteiligte habe danach ein Semester Lehramt Englisch und der Zweitmitbeteiligte zwei Semester Bodenkultur studiert. Beide seien als Lehrer an einem näher genannten Englisch- und Computerinstitut tätig gewesen. In Afghanistan würden noch ihre Eltern, zwei Brüder, zwei verheiratete Schwestern und ein Onkel leben. Die Mitbeteiligten seien auf Grund ihrer Tätigkeit als Englischlehrer ins Blickfeld der Taliban geraten. Der Erstmitbeteiligte sei am 21. November 2015 entführt und etwa eine Woche lang festgehalten worden, dabei seien Todesdrohungen gegen ihn und den Zweitmitbeteiligten ausgestoßen worden. Schließlich sei er gegen Lösegeld freigelassen worden. Am 13. Dezember 2015 habe der Vater der Mitbeteiligten einen Drohbrief vor dem Haustor gefunden. Am 28. Dezember 2015 hätten die Mitbeteiligten Afghanistan verlassen. Im Oktober 2020 sei ihr Vater Opfer eines Autounfalls geworden, welcher als Anschlag der Taliban zu verstehen sei.

5        Zur Lage in Afghanistan stellte das BVwG, unter Heranziehung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, u.a. fest, die Sicherheitslage sei insgesamt volatil und weise starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikte mit aktiven Kampfhandlungen stünden anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil sei. Die afghanische Regierung behalte die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner könnten die Taliban nicht besiegen. Auch diese seien nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollierten oder dort zumindest stark repräsentiert seien. Das BVwG traf im Besonderen Feststellungen zur Sicherheitslage in der „Herkunftsprovinz Ghazni“ sowie den Provinzen Kabul, Balkh und Herat. Demnach gehöre die Provinz Balkh zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif finde willkürliche Gewalt auf niedrigem Niveau statt. Im Allgemeinen bestehe kein reales Risiko, dass ein Zivilist durch willkürliche Gewalt im Sinne von Art. 15 lit. c der Status-Richtlinie persönlich betroffen sei. Es müssten jedoch „individuelle Risikoelemente“ berücksichtigt werden. Mazar-e Sharif sei über die Autobahn und einen Flughafen mit nationaler und internationaler Anbindung legal zu erreichen. Auch die Provinz Herat gehöre zu den relativ ruhigen Provinzen. Herat-Stadt gelte als „sehr sicher“. Weiters traf das BVwG Feststellungen zur wirtschaftlichen Lage und zur Wohnungssituation in den beiden genannten Städten sowie zur Situation von Rückkehrern.

6        Zu den Taliban stellte das BVwG fest, diese seien keine monolithische Organisation, sondern eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen. Sie hätten eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs sowie Dolmetscher feindlicher Regierungen. Die Taliban böten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Diese Personen könnten einer Verurteilung durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich feindseligen Aktivitäten nach einer Verwarnung einstellten.

7        Beweiswürdigend führte das BVwG u.a. aus, das Fluchtvorbringen der Mitbeteiligten sei in sich stimmig und ohne Widersprüche, vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan nachvollziehbar und auf Grund des von den Mitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG gewonnenen persönlichen Eindrucks glaubwürdig.

8        Rechtlich folgerte das BVwG, es sei davon auszugehen, dass die Mitbeteiligten im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan der erheblichen Gefahr ausgesetzt wären, von den Taliban getötet zu werden. Sie seien in Afghanistan als Lehrer tätig gewesen und auf Grund dessen von den Taliban konkret bedroht, der Erstmitbeteiligte sogar entführt worden. Die Mitbeteiligten könnten vor der Bedrohung durch die Taliban angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates sowie der instabilen Sicherheitslage auch nicht ausreichend geschützt werden. Im Beschwerdeverfahren sei schon angesichts des landesweiten Netzwerkes der Taliban nicht hervorgekommen, dass den Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stünde. Dies ergebe sich aus den Länderberichten, wonach sich zuletzt die Aktivitäten der Taliban auch in den als sicher erkannten Provinzen häufen würden. Da sich die Mitbeteiligten der Kontrolle durch die Taliban durch ihre Flucht entzogen hätten, sei davon auszugehen, dass sie auch in den nicht unter Kontrolle der Taliban stehenden Landesteilen verfolgt würden. Die Mitbeteiligten würden zwar über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfügen, es habe aber nicht festgestellt werden können, dass diese auf Grund der vorherrschenden Sicherheitssituation gewillt wären, die Mitbeteiligten zu unterstützen, sodass sie ohne soziales Netz nicht nur in eine aussichtslose, ihre Existenzgrundlage gefährdende Lage geraten, sondern ihren Verfolgern noch schutzloser gegenüberstehen würden.

9        Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende Revision der belangten Behörde. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren durchgeführt, in welchem die Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstatteten.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG gehe ohne hinreichende Begründung davon aus, dass sich die angenommene Verfolgung durch die Taliban auf das gesamte Staatsgebiet Afghanistans erstrecke und den Mitbeteiligten keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Allein der Umstand, dass die Taliban über ein landesweites Netz verfügten, lasse die Annahme einer Verfolgung im gesamten Staatsgebiet nicht zu. Das BVwG hätte auf der Grundlage von Länderberichten Feststellungen dazu treffen müssen, ob die Mitbeteiligten ein erhöhtes Risikoprofil aufwiesen, sodass die Taliban sie im gesamten Staatsgebiet über Jahre hinweg suchen und finden würden. Dabei wäre auch zu berücksichtigen, dass die Verfolgungshandlungen bereits mehrere Jahre zurücklägen, der Erstmitbeteiligte gegen Lösegeld aus der Gefangenschaft entlassen worden sei und die Mitbeteiligten ihre Tätigkeit nicht mehr ausübten.

12       Die Revision ist aus den in ihr vorgebrachten Gründen zulässig und auch begründet.

13       Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen.

14       Die Begründung eines Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0686, mwN).

15       Das BVwG ging davon aus, den Mitbeteiligten drohe auf Grund ihrer Tätigkeit als Lehrer in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung, und verneinte eine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Revision macht zu Recht geltend, dass diese Beurteilung nicht mit den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses zur Sicherheitslage in verschiedenen, als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht gezogenen Gebieten Afghanistans (wie etwa in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat) vereinbar ist. Auch fehlt eine Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts dazu, ob es sich bei den Mitbeteiligten auf Grund ihrer Tätigkeit als Lehrer oder aus anderen Gründen um „high value targets“ handelt und ob die Taliban Personen wie die Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet Afghanistans, insbesondere in Gebieten, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, über Jahre hinweg suchen würden und finden könnten. Der bloße Hinweis auf ein „landesweites Netz der Taliban“ genügt dabei nicht (vgl. zu ähnlich gelagerten Fällen VwGH 6.4.2020, Ra 2019/01/0443; 27.5.2020, Ra 2019/14/0566).

16       Im fortzusetzenden Verfahren wird das BVwG daher entsprechende Feststellungen zur Gefährdung von Lehrern in Afghanistan zu treffen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob den Mitbeteiligten im Hinblick auf die festgestellte Berufstätigkeit als Lehrer in Afghanistan im Fall ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK drohen würde (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0711; 5.3.2020, Ra 2018/19/0686).

17       Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 21. Dezember 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190077.L00

Im RIS seit

20.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten