TE Vfgh Erkenntnis 2021/12/14 G225/2021

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Veröffentlicht am 14.12.2021
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Index

68/02 Sonstiges Sozialrecht

Norm

B-VG Art11 Abs2
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art130 Abs1 Z1
B-VG Art136 Abs2
B-VG Art140 Abs1 Z1 litb
BundesbehindertenG §40, §41, §46
V des BM für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1
VwGVG §7, §10, §14
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Bedenken gegen das Verbot, in Verfahren nach dem BundesbehindertenG neue Tatsachen und Beweismittel vor dem Bundesverwaltungsgericht vorzubringen; kein Widerspruch zum Rechtsstaatsgebot; Abweichung der Verfahrensregelung des BundesbehindertenG vom VwGVG zur Abgrenzung des Verfahrensgegenstandes und Strukturierung von Verfahren wegen deren Eigenheiten erforderlich; Neuerungsverbot steht einer Einbringung eines Sachverständigengutachtens durch den Antragsteller als Reaktion auf ein vom Verwaltungsgericht eingeholtes Gutachten im Rahmen des Parteiengehörs nicht entgegen; Verlängerung der Beschwerdefrist und der Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung dient Konzentration des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde

Spruch

§46 des Bundesgesetzes vom 17. Mai 1990 über die Beratung, Betreuung und besondere Hilfe für behinderte Menschen (Bundesbehindertengesetz – BBG), BGBl Nr 283/1990, idF BGBl I Nr 57/2015 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu den Zahlen E471/2020 ua mehrere auf Art144 B-VG gestützte Beschwerden anhängig, denen folgende Sachverhalte zugrunde liegen:

1.1. Der Beschwerdeführer in dem zu E471/2020 protokollierten Verfahren stellte am 2. Mai 2017 beim Sozialministeriumservice einen Antrag auf Gewährung eines Behindertenpasses, welcher am 17. August 2017 nach Einholung mehrerer Sachverständigengutachten mit der Feststellung eines Gesamtgrades der Behinderung von 60 vH befristet bis zum 31. Juli 2020 ausgestellt wurde.

1.1.1. Gegen diese Erledigung erhob der Beschwerdeführer am 4. Oktober 2017 Beschwerde, beantragte die – unbefristete – Feststellung eines höheren Grades der Behinderung und brachte auf das Wesentliche zusammengefasst vor, er erachte sich wegen des in §46 Bundesbehindertengesetz (BBG) vorgesehenen Neuerungsverbotes und wegen des als Bescheid geltenden Behindertenpasses, der entgegen den §§58 ff. AVG nicht begründet werden müsse, in seinen Rechten verletzt. Der Beschwerdeführer habe einen formularmäßig gestalteten Antrag gestellt und die eingeholten Sachverständigengutachten erst mit der Zustellung des Behindertenpasses erhalten, weshalb er im erstinstanzlichen Verfahren nicht zum festgestellten Grad der Behinderung und zur Befristung habe Stellung nehmen können; das Neuerungsverbot hindere ihn aber daran, im Beschwerdeverfahren mit Bestimmungen der Einschätzungsverordnung zu argumentieren, weil dazu im Behördenverfahren kein Vorbringen erstattet worden sei. Ohne Neuerungsverbot könnten neue Ausführungen gemacht und neue Unterlagen vorgelegt werden.

1.1.2. Nach Vorlage der Beschwerde durch das Sozialministeriumservice an das Bundesverwaltungsgericht legte der Beschwerdeführer im August 2018 ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vor.

1.1.3. In der Folge holte das Bundesverwaltungsgericht weitere medizinische Sachverständigengutachten ein, gewährte Parteiengehör zu diesen Gutachten und führte eine mündliche Verhandlung durch.

1.1.4. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 30. September 2019, L517 2185541-1/43E, schriftlich ausgefertigt am 29. Jänner 2020, wies das Bundesverwaltungsgericht die erhobene Beschwerde als unbegründet ab und stellte fest, dass der Gesamtgrad der Behinderung 60 vH betrage. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht ua aus, dass der (zuletzt bestellte) Sachverständige in einem im Mai 2019 erstellten Gesamtgutachten abschließend zum Ergebnis gekommen sei, dass ein Grad der Behinderung von 60 vH vorliege. Der Beschwerdeführer habe in seiner Stellungnahme und in der mündlichen Verhandlung nichts vorgebracht, was die Tauglichkeit des befassten Sachverständigen oder dessen Beurteilung und Feststellungen in Zweifel zu ziehen vermocht habe. Der Beschwerdeführer habe weder Ungereimtheiten noch Widersprüche im Sachverständigenbeweis aufzeigen können, noch sei er den Ausführungen des Sachverständigen auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.

1.2. Beim Verfassungsgerichtshof ist des Weiteren zu E1551/2020 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. April 2020, W266 2163477-2/7E, anhängig, mit welchem die Beschwerde gegen die Abweisung eines Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß den §§40 ff. BBG abgewiesen wurde.

1.2.1. Das Bundesverwaltungsgericht holte im Beschwerdeverfahren ein Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin ein, das dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme binnen zwei Wochen übermittelt wurde. Der Beschwerdeführer gab dazu keine Äußerung ab. Das Bundesverwaltungsgericht führte in diesem Zusammenhang im Rahmen seiner Beweiswürdigung im angefochtenen Erkenntnis unter anderem aus, dass der Beschwerdeführer, "dem es im Übrigen freigestanden wäre, durch Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl die getroffene Einschätzung des herangezogenen Sachverständigen zu entkräften, […] dem gegenständlichen Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten" ist.

1.3. Beim Verfassungsgerichtshof ist ferner zu E2527/2020 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Juni 2020, W166 2225385-1/13E, anhängig, mit welchem die Beschwerde gegen die Abweisung eines Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß den §§40 ff. BBG abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung der belangten Verwaltungsbehörde bestätigt wurde.

1.3.1. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus, dass zwei gemeinsam mit einer Stellungnahme zu einem "Aktengutachten" vorgelegte Beweismittel, nämlich eine "internistische Stellungnahme" und ein orthopädisches Gutachten, unter die Neuerungsbeschränkung des §46 BBG fielen und deshalb nicht zu berücksichtigen gewesen wären. Aus diesem Grund hätten auch die "damit erstmals ins Treffen geführten Kopfschmerzattacken […] nicht mehr berücksichtigt werden" können.

1.4. Beim Verfassungsgerichtshof ist schließlich zu E4035/2020 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Oktober 2020, W261 2227299-1/20E, anhängig, mit welchem die Beschwerde gegen die Abweisung eines Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß den §§40 ff. BBG abgewiesen wurde.

1.4.1. Der Beschwerdeführer beantragte die Ausstellung eines Behindertenpasses auf Grund seiner Beeinträchtigungen in Folge einer Plexusparese. Erst nach Einlangen der Bescheidbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht legte der Beschwerdeführer auch medizinische Befunde hinsichtlich psychischer Leiden vor. Das Bundesverwaltungsgericht hielt im Rahmen der Begründung seines Erkenntnisses fest, dass das Neuerungsverbot des §46 BBG einer Berücksichtigung dieser psychischen Leiden entgegenstehe.

2. Bei der Behandlung der gegen diese Entscheidungen gerichteten Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §46 Bundesbehindertengesetz, BGBl 283/1990, idF BGBl I 57/2015 entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am 17. Juni 2021 beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"4.1. Hinsichtlich Art136 Abs2 B-VG

4.1.1. Nach Art136 Abs2 dritter Satz B-VG können durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind oder soweit das in Art136 Abs2 erster Satz B-VG genannte Bundesgesetz, welches das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen einheitlich regelt (das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz [VwGVG]), dazu ermächtigt. Nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers (siehe ErlRV 1618 BlgNR 24. GP, 18 f.) und dem Wortlaut des Art136 Abs2 B-VG entspricht das Kriterium, dass durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden können, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind, jenem des Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG (vgl VfSlg 19.921/2014, 19.922/2014, 19.969/2015, 20.139/2017). Vom Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz abweichende Regelungen dürfen daher nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes 'unerlässlich' sind (vgl zu Art11 Abs2 B-VG die Rechtsprechung beginnend mit VfSlg 8945/1980). Die 'Unerlässlichkeit' einer abweichenden Regelung in einem Materiengesetz kann sich dabei aus 'besonderen Umständen' oder aus dem Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften ergeben (vgl VfSlg 19.787/2013 mwN). Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen nur dann zulässig, wenn sie nicht anderen Verfahrensbestimmungen, etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechen (vgl VfSlg 15.218/1988, 17.340/2004, 20.239/2018); in dieser Hinsicht hat die durch Art136 Abs2 letzter Satz B-VG geschaffene Rechtslage auch nichts geändert (vgl VfSlg 19.922/2014, 19.969/2015).

4.1.2. Der Verfassungsgerichtshof geht vorläufig davon aus, dass das VwGVG die Zulässigkeit des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweise durch den Beschwerdeführer sowohl in einer Bescheidbeschwerde als auch noch im anschließenden Beschwerdeverfahren vorsieht (vgl §10 VwGVG), ohne den Bundes- oder Landesgesetzgeber zu abweichenden Regelungen zu ermächtigen. Demgegenüber scheint §46 BBG das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht auszuschließen.

4.1.3. Der Verfassungsgerichtshof vermag nun vorderhand nicht zu erkennen, aus welchem Grund das Neuerungsverbot des §46 BBG, das eine vom VwGVG abweichende Anordnung sein dürfte, zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich sein sollte.

4.1.4. Der Verfassungsgerichtshof vermag ferner vorläufig nicht zu erkennen, aus welchem Grund die Beschwerdefrist nach §46 erster Satz BBG mit sechs Wochen und die Frist zur Beschwerdevorentscheidung nach §46 zweiter Satz BBG mit zwölf Wochen, die ohne Ermächtigung im VwGVG von §7 Abs4 bzw §14 Abs1 leg. cit. abweichen dürften, zur Regelung des G[e]genstandes unerlässlich sein sollten.

4.1.5. Der Verfassungsgerichtshof hegt somit das Bedenken, dass §46 BBG Art136 Abs2 B-VG widerspricht.

4.1.6. Im Zuge des Gesetzesprüfungsverfahrens wird insbesondere zu prüfen sein, welche Bedeutung §41 Abs2 BBG in diesem Zusammenhang hat, der nach Ablauf eines Jahres seit Rechtskraft der letzten Entscheidung – jedenfalls – eine neuerliche Antragstellung zulassen dürfte.

4.2. Hinsichtlich des Rechtsstaatsgebotes

4.2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung zum rechtsstaatlichen Prinzip ausgesprochen hat, müssen Rechtsschutzeinrichtungen ihrer Zweckbestimmung nach ein bestimmtes Mindestmaß an faktischer Effizienz für den Rechtsschutzwerber aufweisen, worunter insbesondere die Erlangung einer Entscheidung rechtsrichtigen Inhalts zu verstehen ist. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Position des Rechtsschutzwerbers, sondern auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfes der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist (vgl VfSlg 11.196/1986, 12.409/1990, 13.003/1992, 14.374/1995, 16.994/2003, 19.921/2014, 20.239/2018; VfGH 6.10.2020, G178/2020).

4.2.2. §46 BBG dürfte das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel jedenfalls ab der Vorlage der Bescheidbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ausschließen. Dieses Neuerungsverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfte in Widerspruch zum Gebot der faktischen Effizienz der Rechtsschutzeinrichtungen stehen.

So scheint diese Bestimmung beispielsweise nicht auszuschließen, dass das Bundesverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren weitere (neue) Sachverständigengutachten einholt. Nach herrschender Meinung dürfte ein (selbst nicht sachverständiger) Beschwerdeführer einem vom Verwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten (im Allgemeinen) nur 'auf gleicher fachlicher Ebene', also durch Vorlage eines weiteren Sachverständigengutachtens, entgegentreten können (so hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer des zu E471/2020 protokollierten Anlassverfahrens idS auch entgegengehalten, dass er den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten sei). §46 letzter Satz BBG dürfte die Beibringung solcher neuer Sachverständigengutachten durch den Beschwerdeführer aber ausschließen und damit dem Gebot der Effizienz der Rechtsschutzeinrichtungen widersprechen.

Nach dem Wortlaut des §46 dritter Satz BBG und nach den Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung dürfte das Neuerungsverbot erst ab der Vorlage einer Beschwerde durch die belangte Verwaltungsbehörde an das Bundesverwaltungsgericht zum Tragen kommen, sodass der Beschwerdeführer sowohl in der Bescheidbeschwerde als auch noch während der Zeitphase bis zur allfälligen Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen können dürfte. Ob die belangte Behörde aber die ihr zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung eingeräumte Frist von zwölf Wochen (§46 zweiter Satz BBG) ausschöpft oder ob sie etwa eine Beschwerde sogleich nach deren Einlangen dem Bundesverwaltungsgericht vorlegt, dürfte im Ermessen der belangten Behörde liegen (vgl zB VfSlg 19.921/2014, VwSlg 19.118 A/2015, ferner VfGH 6.10.2020, G178/2020). Damit dürfte aber die Frage der (Dauer der) Zulässigkeit der Vorlage neuer Tatsachen und Beweismittel von Umständen abhängen, die aus der Sicht eines Beschwerdeführers nicht absehbar sein dürften (vgl VfGH 6.10.2020, G178/2020). Diese Unwägbarkeit, die in §46 dritter Satz BBG grundgelegt sein dürfte, dürfte ebenfalls in Widerspruch zum Gebot eines Mindestmaßes faktischer Effizienz des Rechtsschutzes stehen."

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird (ohne die Hervorhebungen im Original):

"1. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art136 Abs2 B-VG

Der Verfassungsgerichtshof hegt das Bedenken, dass §46 erster und zweiter Satz BBG, der abweichend von den Vorschriften des VwGVG eine Beschwerdefrist von sechs Wochen sowie eine Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung von zwölf Wochen vorsieht, dem Art136 Abs2 B-VG widerspreche, da vorläufig nicht zu erkennen sei, aus welchem Grund die Beschwerdefrist und die Frist zur Beschwerdevorentscheidung zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich sei.

Der Verfassungsgerichtshof geht zudem vorläufig davon aus, dass §46 dritter Satz BBG ein Neuerungsverbot vorsieht, und vermag vorderhand nicht zu erkennen, aus welchem Grund dieses Neuerungsverbot zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich sein sollte. Aus diesem Grund hegt der Verfassungsgerichtshof die Bedenken, dass auch §46 dritter Satz BBG dem Art136 Abs2 B-VG widerspreche.

1.2. Das System der Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte unterscheidet sich von jenem zur Regelung des Verwaltungsverfahrens. Die Gesetzgebungskompetenz für das Verfahren der Verwaltungsgerichte kommt nach Art10 Abs1 Z1 B-VG allein dem Bund zu (AB 1771 BlgNR 24. GP 5). Nach Art136 Abs2 Satz 1 B-VG wird das Verfahren der Verwaltungsgerichte – mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen – durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt. Es besteht also ein verfassungsrechtliches Kodifikationsgebot (s F. Herbst, Das Verfahren der Verwaltungsgerichte, ZVR, 2012, 433 [434]), dem der Bundesgesetzgeber im VwGVG nachgekommen ist (ErlRV 2009 BlgNR 24. GP 2).

Das bedeutet, dass – anders als im System der Gesetzgebungskompetenz für das Verwaltungsverfahren, wo der Materiengesetzgeber in Ausübung seiner Adhäsionskompetenz jedenfalls Regelungen treffen darf, soweit der Bundesgesetzgeber von seiner Bedarfskompetenz nach Art11 Abs2 B-VG nicht Gebrauch gemacht hat (s bereits VfSlg 3061/1956; vgl auch VfSlg 16.285/2001 zu subsidiären Bestimmungen des AVG) – das verwaltungsgerichtliche Verfahren des VwGVG ergänzende Regelungen verfassungsrechtlich nur unter den Voraussetzungen des Art136 Abs2 B-VG zulässig sind (vgl zu alledem ua VfSlg 19.905/2014, Rn. 59 f).

Gemäß Art136 Abs2 letzter Satz B-VG können durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind oder soweit das im ersten Satz genannte besondere Bundesgesetz dazu ermächtigt. Der erste Tatbestand orientiert sich an Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG (RV 1618 BlgNR 24. GP 19). Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind abweichende Regelungen von den Verwaltungsverfahrensgesetzen nur dann iSd. Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG 'erforderlich', wenn sie zur Regelung des Gegenstandes 'unerlässlich' sind (VfSlg 17.340/2004). Dieser Maßstab ist auch auf den ersten Tatbestand des Art136 Abs2 dritter Satz B-VG anwendbar.

1.3. Vorauszuschicken ist, dass mit dem BBG die bestmögliche Teilnahme behinderter oder von konkreter Behinderung bedrohter Menschen am gesellschaftlichen Leben gesichert werden soll. Diesem Ziel dient auch die Ausstellung des Behindertenpasses.

Denn mit der Ausstellung des Behindertenpasses – sowie mit der Vornahme allfälliger weiterer Zusatzeintragungen – werden Menschen mit Behinderungen Vorteile eingeräumt, die wiederum deren Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe fördern sollen.

Zu diesen mit der Ausstellung eines Behindertenpasses verbundenen Vorteilen können exemplarisch zählen:

- Pauschalierter Steuerfreibetrag ab einem festgestellten Grad der Behinderung von 25%,

- Parkausweis gemäß §29b StVO ('kostenloses Parken'),

- Befreiung von der motorbezogenen Versicherungssteuer,

- Befreiung von der Normverbrauchsabgabe (NoVA),

- gratis Autobahnvignette,

- Mautermäßigungen,

- kostenlose Zurverfügungstellung des Euro-Key (Schlüssel der zB WC-Anlagen öffnet, die Menschen mit Behinderungen vorbehalten sind),

- Fahrpreisermäßigungen bei der ÖBB und den jeweiligen Verkehrsverbünden,

- Preisermäßigungen bei diversen Unternehmen, wie insbesondere Freizeit- und Kultureinrichtungen,

- Anknüpfungspunkt für Leistungen aus landesgesetzlichen Materiengesetzen (wie etwa Behindertengesetz, Teilhabegesetz, Chancengleichheitsgesetz).

1.4. Zu §46 erster Satz BBG (Verlängerung der Beschwerdefrist)

1.4.1. Gemäß §46 erster Satz BBG beträgt die Beschwerdefrist – abweichend von den Vorschriften des VwGVG – sechs Wochen. Wie bereits dargelegt, lag dieser Regelung ausweislich der Erläuterungen der Gedanke zugrunde, dass die sechswöchige Frist einerseits den besonderen Bedürfnissen der speziellen Normadressaten des BBG sowie der erhöhten 'Klientenfreundlichkeit' dienen sollte; andererseits wurde dabei auch der Umstand berücksichtigt, dass die Normadressaten des BBG zumeist nicht rechtsfreundlich vertreten sind (vgl ErlRV 649 BlgNR 22. GP 29). Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung der Beschwerdefrist damit auf den regelmäßig und typischerweise vom Regelungsgegenstand erfassten, speziellen Normadressatenkreis sowie auf die bisherigen Erfahrungen aus der Praxis abgestellt und aus diesen Gründen eine Frist von sechs Wochen als erforderlich erachtet.

1.4.2. Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass die Regelung des §46 erster Satz BBG zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich ist.

1.5. Zu §46 zweiter Satz BBG (Verlängerung der Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung)

1.5.1. Vorauszuschicken ist, dass die Beschwerdevorentscheidung an sich bereits vorrangig dem Ziel der Verfahrensökonomie und der Entlastung der Verwaltungsgerichte dient: denn durch die Möglichkeit, über eine Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung zu entscheiden, kann im Sinne der Verfahrensökonomie jene Behörde, die bereits mit der Angelegenheit befasst war, die Entscheidung noch einmal überprüfen und allfällige Fehler korrigieren (vgl Leeb, Verfahrensökonomie und VwGVG, ZVG [2015] 221 f). Zudem erhält die Behörde somit eine 'zweite Chance' zur Erledigung der Sache auf Verwaltungsebene, die zugleich zur Entlastung der Verwaltungsgerichte führen soll (vgl Fister in Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren² [2018] §14 VwGVG Anm. 1).

1.5.2. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung hat die Erfahrung aus der Praxis gezeigt, dass im konkreten Regelungsgegenstand – der Ausstellung von Behindertenpässen – mit der im VwGVG vorgesehenen Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung nicht das Auslangen gefunden werden konnte (vgl 527 BlgNR 25. GP Vorblatt WFA 3, wonach 'sich die für Beschwerdevorentscheidungen vorgesehene zweimonatige Entscheidungsfrist für diese Verfahren als zu kurz erwiesen [hat], da meist neue Sachverständigengutachten benötigt werden'). Durch die Verlängerung der Beschwerdevorentscheidungsfrist sollte gewährleistet werden, dass die Behörde, die als Serviceeinrichtung von vornherein dem betroffenen Personenkreis näher ist, auch eine fundierte Entscheidung treffen kann und dass Menschen mit Behinderung durch eine insgesamt zu erwartende kürzere Verfahrensdauer schneller zu ihrem Recht kommen (vgl ErlRV 527 BlgNR 25. GP 5).

1.5.3. In Verfahren betreffend die Ausstellung eines Behindertenpasses sind regelmäßig medizinische Sachverständige beizuziehen. Dies ergibt sich zum einen aus §1 Abs5 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, zum anderen aus dem Regelungsgegenstand, der regelmäßig eine Beurteilung von medizinischen Fragestellungen erfordert. Auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zu entnehmen, dass es in den verfahrensgegenständlichen Ausgangsverfahren regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens bedarf, in dem unter anderem die dauernde Gesundheitsschädigung in nachvollziehbarer Weise dargestellt wird (vgl für viele VwGH 1.3.2016, Ro 2014/11/0024, mwN). Die Anzahl der jährlich erforderlichen Sachverständigengutachten, die aus den Geschäftsberichten des Sozialministeriumsservice hervorgeht, belegt die (kontinuierlich) hohe Anzahl an erforderlichen Sachverständigengutachten im Bereich des BBG (2020: 40.742 Sachverständigengutachten; 2019: 44.494 Sachverständigengutachten; 2018: 41.214 Sachverständigengutachten; 2017: 42.313 Sachverständigengutachten).

Werden nun zusätzliche Organe in ein behördliches Verfahren eingebunden, so nimmt dies stets zusätzliche Zeit in Anspruch. Dies gilt insbesondere für amtliche Sachverständige, bei denen – wie die Praxis zeigte – faktisch ein Mangel besteht und eine dadurch bedingte permanente Auslastung der Sachverständigen gegeben ist.

1.5.4. Der Gesetzgeber hielt es daher für erforderlich, im konkreten Regelungsgegenstand eine verlängerte Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung einzuräumen, um der Behörde die notwendige Zeit zunächst für die Bestellung eines Sachverständigen und sodann für die Auseinandersetzung mit dem (zusätzlichen) Gutachten einzuräumen.

Die Bundesregierung geht somit davon aus, dass die Regelung des §46 zweiter Satz BBG zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich ist.

1.6. Zu §46 dritter Satz BBG (Neuerungsverbot)

1.6.1. §46 dritter Satz BBG sieht vor, dass in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden können, und wurde gemeinsam mit der Regelung des zweiten Satzes betreffend die Verlängerung der Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung erlassen. Aus den Erläuterungen zur zugrundeliegenden Regierungsvorlage folgt, dass der Gesetzgeber zwischen der Schaffung großzügigerer Möglichkeiten der Erlassung von Beschwerdevorentscheidungen einerseits und der Beschränkung neuer Tatsachen und Beweise im verwaltungsgerichtlichen Verfahren andererseits einen unmittelbaren Zusammenhang gesehen hat (arg. 'im Gegenzug' in ErlRV 527 BlgNR 25. GP 5).

Der Gesetzgeber ging dabei davon aus, dass sich das Ziel der Verfahrensbeschleunigung und -effizienz nicht allein durch die Verlängerung der Beschwerdevorentscheidung erreichen ließe:

Wie bereits unter Punkt 1.5. geschildert, ist der Bedarf an Sachverständigen in Verfahren nach dem BBG regelmäßig sehr hoch. Dem Vorblatt zur zugrundeliegenden Regierungsvorlage ist zu entnehmen, dass 'sich in der Praxis gezeigt [hat], dass neu vorgelegte medizinische Befunde häufig einen zeitnahen Abschluss der Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wesentlich erschweren. Es soll daher eine auf das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht begrenzte Neuerungsbeschränkung geschaffen werden […]' (ErlRV 527 BlgNR 25. GP Vorblatt WFA 3).

Nach der Intention des Gesetzgebers soll diese 'begrenzte Neuerungsbeschränkung' somit – zusätzlich zu und in Kombination mit der in §46 zweiter Satz normierten längeren Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung – der Verfahrensbeschleunigung dienen und zur Effizienz des Verfahrens beitragen (vgl auch VfSlg 20.193/2017 zum verfahrensbeschleunigenden Aspekt des in §20 Abs1 des BFA-Verfahrensgesetzes, BGBl I Nr 87/2012, enthaltenen bedingten Neuerungsverbots). Die Verfahrensbeschleunigung soll zweckmäßigerweise sämtliche Stadien des Beschwerdeverfahrens erfassen (vgl auch VfSlg 20.193/2017, Rz. 64).

1.6.2. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Praxis sowie zum Zweck der Schaffung eines verbesserten Zusammenspiels zwischen dem behördlichen und dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, wodurch gesamthaft das Ziel der Verfahrensbeschleunigung erreicht werden soll, hat der Gesetzgeber das beschränkte Neuerungsverbot des §46 dritter Satz für erforderlich erachtet.

Die Bundesregierung geht somit davon aus, dass die Regelung des §46 dritter Satz BBG zur Regelung des Gegenstandes unerlässlich ist.

1.7. Die Bundesregierung vertritt daher die Ansicht, dass §46 BBG dem Art136 Abs2 B-VG nicht widerspricht.

2. Zu den Bedenken im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hegt vorläufig das Bedenken, dass §46 dritter Satz BBG in Widerspruch zum Gebot der faktischen Effizienz der Rechtsschutzeinrichtungen stehe, da dieser das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel jedenfalls ab der Vorlage der Bescheidbeschwerde an das BVwG ausschließen dürfte. Ob die belangte Behörde aber die ihr zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung eingeräumte Frist von zwölf Wochen ausschöpft oder ob sie etwa eine Beschwerde sogleich nach deren Einlangen dem BVwG vorlegt, dürfte nach vorläufiger Auffassung des Verfassungsgerichtshofes im Ermessen der belangten Behörde liegen, wodurch die Frage der Dauer der Zulässigkeit der Vorlage neuer Tatsachen und Beweismittel von Umständen abhänge, die aus Sicht eines Beschwerdeführers nicht absehbar sein dürften.

Auch scheine die Bestimmung nicht auszuschließen, dass das BVwG im Beschwerdeverfahren weitere (neue) Sachverständigengutachten einhole; einem solchen könnte der Antragsteller sodann bloß 'auf gleicher fachlicher Ebene', also durch Vorlage eines weiteren Sachverständigengutachtens entgegentreten. §46 dritter Satz BBG scheine dabei aber die Beibringung neuer Sachverständigengutachten durch den Antragsteller selbst auszuschließen.

2.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes müssen Rechtsschutzeinrichtungen ein bestimmtes Mindestmaß an Effizienz aufweisen (stRsp. seit VfSlg 11.196/1986). Das aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw aus Art18 B-VG abgeleitete Mindestmaß an faktischer Effizienz des Rechtsschutzes bedeutet, dass einem Rechtsschutzsuchenden effiziente Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen müssen, damit er nicht generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung belastet wird, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Der Verfassungsgerichtshof hat daher etwa den generellen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Berufung (VfSlg 17.340/2004, 19.921/2014), zu kurze Rechtsmittelfristen (vgl VfSlg 16.751/2002, 20.040/2016) oder auch zu hohe Gebühren für die Einbringung von Rechtsmitteln als verfassungswidrig erkannt (vgl VfSlg 18.248/2007).

2.3. Einleitend hält die Bundesregierung fest, dass sie – wie auch der Verfassungsgerichtshof – im Folgenden davon ausgeht, dass die Einschränkung des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweismittel erst ab der Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zum Tragen kommt, sodass ein Antragsteller sowohl in der Bescheidbeschwerde als auch noch während der Zeitphase bis Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen kann (in diesem Sinne auch die Gesetzesmaterialien, vgl AB RV 564 BlgNR 25. GP 2).

2.4. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die in Prüfung stehende Bestimmung zu keinem generellen Ausschluss von neuen Beweismitteln oder Tatsachen führt, sondern lediglich eine 'begrenzte Neuerungsbeschränkung' (vgl ErlRV 527 BlgNR 25. GP 5) darstellt. Die in Prüfung gezogene Bestimmung schmälert nicht die (unbegrenzte) Beschwerdemöglichkeit des Antragstellers, die in ihrem inhaltlichen Vorbringen nicht beschränkt ist. Neuerungen, die bereits in der Beschwerde vorgebracht werden, sind daher von vornherein von der Regelung des §46 dritter Satz BBG nicht erfasst und können und müssen auch vom BVwG noch berücksichtigt werden. Nach der Intention des Gesetzgebers (arg. 'begrenzte Neuerungsbeschränkung' in ErlRV 527 BlgNR 25. GP 5) wäre somit auch eine verwaltungsgerichtliche Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten eines Beschwerdeführers – soweit sich diese thematisch innerhalb des Beschwerdevorbringens bewegen – weiterhin zulässig.

2.5. Zudem ist durch §41 Abs2 BBG gewährleistet, dass Sachverhaltsänderungen (offenkundige Änderungen einer Funktionsbeeinträchtigung) jedenfalls einem neuen Antrag zugänglich sind und der Unzulässigkeitsgrund einer res  iudicata darauf nicht zur Anwendung gelangt.

2.6. Mit der 'begrenzten Neuerungsbeschränkung' soll erreicht werden, dass der Schwerpunkt der Tatsachenermittlung – aus den bereits dargelegten Gründen – beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen liegt. Im Zusammenhang mit Asylverfahren hat der Verfassungsgerichtshof eine solche Konzentration des Ermittlungsverfahrens bei der Asylbehörde im Erkenntnis VfSlg 13.838/1994 für zulässig erachtet.

Aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum rechtsstaatlichen Prinzip lässt sich zudem kein Grundsatz ableiten, wonach gegen jede behördliche oder gerichtliche Entscheidung ein unbeschränktes Rechtsmittel zur Verfügung stehen müsse. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert, dass ein Verfahren in der Weise gestaltet sein muss, dass es gewährleistet, letztlich zu einem rechtlich richtigen Ergebnis zu führen. Beschränkungen, die bloß dazu führen, die Parteien zu einer Mitwirkung an der raschen Sachverhaltsermittlung zu verhalten, stehen im Allgemeinen der Effektivität des Rechtsschutzes nicht entgegen. Voraussetzung ist aber die Gewähr, dass die Partei im Verfahren tatsächlich die Möglichkeit, am Verfahren mitzuwirken und ihr Vorbringen umfangreich und rechtzeitig zu erstatten, effektiv wahrnehmen kann (vgl VfSlg 17.340/2004).

2.7. Vor dem Hintergrund der vollumfänglichen Beschwerdemöglichkeit, der um 50% verlängerten Beschwerdefrist sowie der jederzeit möglichen Antragstellung gemäß §41 Abs2 BBG bei einer Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung kann die Bundesregierung daher kein grundsätzliches Bedenken gegen ein auf das im verwaltungsgerichtliche Verfahren beschränktes Neuerungsverbot erblicken."

5. Die in den zu E1551/2020, zu E2527/2020 und zu E4035/2020 protokollierten Anlassfällen jeweils beschwerdeführenden Parteien haben als beteiligte Parteien Äußerungen erstattet, in denen den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes im Ergebnis beigetreten wird.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. Die §§40 bis 47 des Bundesgesetzes vom 17. Mai 1990 über die Beratung, Betreuung und besondere Hilfe für behinderte Menschen (Bundesbehindertengesetz – BBG), BGBl 283/1990, idF BGBl 314/1994 (§43), BGBl I 150/2002 (§40), BGBl I 66/2014 (§§41, 45), BGBl I 57/2015 (§46) und BGBl I 120/2016 (§42) lauten (die in Prüfung gezogene Bestimmung ist hervorgehoben):

"ABSCHNITT VI

BEHINDERTENPASS

§40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl Nr 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im §40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl Nr 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß §8 Abs5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl Nr 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl II Nr 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des §40 Abs2 vorliegt.

(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.

(3) Entspricht ein Behindertenpasswerber oder der Inhaber eines Behindertenpasses ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung nicht, verweigert er eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche ärztliche Untersuchung oder weigert er sich, die zur Durchführung des Verfahrens unerlässlichen Angaben zu machen, ist das Verfahren einzustellen. Er ist nachweislich auf die Folgen seines Verhaltens hinzuweisen.

§42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familiennamen, das Geburtsdatum[,] eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

(2) Der Behindertenpaß ist unbefristet auszustellen, wenn keine Änderung in den Voraussetzungen zu erwarten ist.

§43. (1) Treten Änderungen ein, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen diese zu berichtigen oder erforderlichenfalls einen neuen Behindertenpaß auszustellen. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist der Behindertenpaß einzuziehen.

(2) Der Besitzer des Behindertenpasses ist verpflichtet, dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen binnen vier Wochen jede Änderung anzuzeigen, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, und über Aufforderung dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen den Behindertenpaß vorzulegen.

§44. (1) Ein Behindertenpaß ist ungültig, wenn die behördlichen Eintragungen, Unterschriften oder Stempel unkenntlich geworden sind, das Lichtbild fehlt oder den Besitzer nicht mehr einwandfrei erkennen läßt oder Beschädigungen oder Merkmale seine Vollständigkeit, Einheit oder Echtheit in Frage stellen.

(2) Wenn der Behindertenpaß gemäß Abs1 ungültig ist oder der Verlust des Behindertenpasses glaubhaft gemacht wurde, ist ein neuer Behindertenpaß auszustellen.

§45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§41 Abs3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

(5) Die im §10 Abs1 Z6 des Bundesbehindertengesetzes genannte Vereinigung entsendet die Vertreterin oder den Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung. Hinsichtlich der Aufteilung des Nominierungsrechtes auf gleichartige Vereinigungen ist §10 Abs2 des Bundesbehindertengesetzes anzuwenden. Für jede Vertreterin und jeden Vertreter ist jeweils auch die erforderliche Anzahl von Ersatzmitgliedern zu entsenden.

(6) Reisekosten, die einem behinderten Menschen dadurch erwachsen, dass er im Zusammenhang mit einem Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses einer Ladung des Sozialministeriumservice Folge leistet, sind in dem im §49 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 angeführten Umfang zu ersetzen. Der Ersatz der Reisekosten entfällt, wenn die Fahrtstrecke (Straßenkilometer) zwischen dem Wohnort und dem Ort der Untersuchung 50 km (einfache Strecke) nicht übersteigt.

§46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl I Nr 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.

§47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach §40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen."

2. Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl II 495/2013, idF BGBl II 263/2016 lautet auszugsweise folgendermaßen:

"Aufgrund der §§42 und 47 des Bundesbehindertengesetzes, BGBl Nr 283/1990, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I Nr 71/2013, sowie aufgrund des §29b Abs1 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl Nr 159, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I Nr 39/2013, wird verordnet:

[…]

§1. (1) Der Behindertenpass wird als Karte aus Polyvinylchlorid hergestellt und hat nach Form und Inhalt dem Muster der Anlage A zu entsprechen. Seine Gesamtabmessungen haben 53,98 mm in der Höhe und 85,60 mm in der Breite zu betragen.

(2) Der Behindertenpass hat auf der Vorderseite zu enthalten:

1. die Bezeichnung 'Behindertenpass' in deutscher, englischer und französischer Sprache;

2. den Familien- oder Nachnamen, Vorname(n), akademischen Grad oder Standesbezeichnung des Menschen mit Behinderung;

3. das Geburtsdatum;

4. den Verfahrensordnungsbegriff;

5. den Grad der Behinderung oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit;

6. das Antragsdatum;

7. das Ausstellungsdatum;

8. die ausstellende Behörde;

9. eine allfällige Befristung;

10. eine Braillezeile mit dem Ausdruck 'Behindertenpass';

11. ein Hologramm in Form des Bundeswappens mit dem Schriftzug 'Sozialministeriumservice' im Hintergrund;

12. das Logo des Sozialministeriumservice;

13. einen QR-Code, mit dem auf der Homepage des Sozialministeriumservice nähere Informationen zum Behindertenpass und den einzelnen Zusatzeintragungen abgerufen werden können sowie

14. ein der Bestimmung des §4 der Passgesetz-Durchführungsverordnung, BGBl II Nr 223/2006, entsprechendes Lichtbild.

(3) Die äußeren Merkmale des Trägermaterials des Behindertenpasses haben der ISO/IEC-Norm 7810 zu entsprechen. Das Trägermaterial hat folgende Fälschungssicherheitsmerkmale zu enthalten:

1. Hologramm in Form des Bundeswappens mit dem Schriftzug 'Sozialministeriumservice' im Hintergrund;

2. UV-Lack;

3. Brailleschrift;

4. Guillochenraster und

5. Mikroschrift auf der Rückseite.

Der Behindertenpass darf nur von einem vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz bestimmten Dienstleister hergestellt werden.

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

1. die Art der Behinderung, etwa dass der Inhaber/die Inhaberin des Passes

a) überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist;

diese Eintragung ist vorzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine diagnosebezogene Mindesteinstufung im Sinne des §4a Abs1 bis 3 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG),

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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