TE Lvwg Erkenntnis 2021/11/29 VGW-101/092/13628/2021

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Veröffentlicht am 29.11.2021
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Entscheidungsdatum

29.11.2021

Index

82/05 Lebensmittelrecht
E3R E15202000
E3R E13301400
E3R E15203000

Norm

LMSVG §4 Abs1
LMSVG §5 Abs2
LMSVG §39 Abs1 Z11
32011R1169 Verbraucherinformation Lebensmittel Art. 8 Abs1
32013R0609 Lebensmittel für besondere Gruppen Art. 2 Abs2 litg

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien erkennt durch seinen Richter Mag. Dr. Gerhard Kienast über die Beschwerde der A. GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Landeshauptmanns des Landes Wien vom 10.8.2021, Zl. MA 59-…-2021-2, betreffend eine Maßnahme nach § 39 Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz (LMSVG)

zu Recht:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine (ordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang:

Am 17.11.2020 nahm der belangte Landeshauptmann bei der Firma B. AG eine Probe vom Produkt C. und übermittelte diese der AGES – Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH.

Die AGES kam in ihrem Gutachten (ohne Datum) zum Ergebnis, das Produkt C. erfülle aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung und Zweckbestimmung die Anforderungen der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 vom 12.6.2013 nicht.

Mit E-Mail vom 21.1.2021 übermittelte der belangte Landeshauptmann der Beschwerdeführerin das Gutachten und eine Ergänzende Mitteilung der AGES sowie sein Schreiben vom selben Tag betreffend Maßnahmen gemäß § 39 LMSVG und trug deren Umsetzung bis spätestens 3.5.2021 auf.

Mit Schreiben vom 3.5.2021 informierte die Beschwerdeführerin den belangten Landeshauptmann davon, dass sie der Maßnahme nicht nachkommen werde.

Mit Schreiben vom 6.5.2021 teilte der belangte Landeshauptmann der Beschwerdeführerin mit, dass ein Bescheidverfahren eingeleitet werde und die Beschwerdeführerin im Rahmen der Beweisaufnahme schriftlich binnen vier Wochen ausführlich Stellung nehmen könne.

Mit Schreiben vom 2.6.2021 legt die Beschwerdeführerin dem belangten Landeshauptmann eine Rechtfertigung für das gegenständliche Produkt vor.

In einem daraufhin erstatteten Gutachten (ohne Datum) blieb die AGES inhaltlich bei ihrem Gutachten vom Jänner 2021.

Mit Bescheid vom 10.8.2021 ordnete der belangte Landeshauptmann Maßnahmen gemäß § 39 Abs. 1 Z 11 LMSVG an und adressierte diesen Bescheid an Herrn „Mag. D. E.“ (einen für die Rechtsvertreterin einschreitenden Rechtsanwalt).

Mit Schriftsatz vom 7.9.2021 zog die Beschwerdeführerin (frist- und formgerecht) den Bescheid des belangten Landeshauptmanns vom 10.8.2021 in Beschwerde.

Mit Note vom 15.9.2021 legte der belangte Landeshauptmann dem Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde samt bezughabendem Verwaltungsakt vor, wo sie am 16.9.2021 einlangte.

Mit Schriftsatz vom 19.10.2021 beantragte die Beschwerdeführerin die Einholung eines „nicht amtlichen Sachverständigengutachtens aus dem Bereich der diätetischen Lebensmittel“.

 

Mit Schriftsatz vom 21.10.2021 erstattete die Beschwerdeführerin eine Äußerung und beantragte, das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des EuGH über den Vorlageantrag des OLG Düsseldorf zu unterbrechen.

Am 5.11.2021 fand vor dem erkennenden Verwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in der die Beschwerdeführerin eine „Scientific Opinion“ der EFSA vom 7.7.2021 vorlegte. Eine mündliche Entscheidungsverkündung erfolgte wegen der komplexen Rechtslage nicht.

II. Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:

1.   Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin lässt für sich in einem Lohnauftragsverfahren von der F. GmbH in G., H.-Straße, das Produkt C. herstellen und verpacken. Vom Standort G. werden der Pharmagroßhandel, Apotheken und einige ausgewählte Arztordination in Österreich mit diesem Produkt beliefert.

Das Produkt C. ist als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) gekennzeichnet. Auf der Packung findet sich unter anderem der Aufdruck „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zum Diätmanagement bei Darmbeschwerden nach einer Darmspiegelung“.

C. wird ausschließlich nach einer Darmspiegelung von Ärzten empfohlen. In Vorbereitung einer Darmspiegelung müssen Patienten medikamentös eine Darmreinigung durchführen, bei der die natürliche Darmflora massiv geschädigt und dezimiert wird. Bis zu 97% der Darmbakterien werden dabei ausgespült. Die Darmspiegelung dient im Wesentlichen der Darmkrebsfrüherkennung; sie wird entweder in Krankenhäusern oder im Facharztbereich durchgeführt; sie ist ein ambulanter Eingriff. Bei dieser Darmspiegelung wird auch die Darmschleimhaut gereizt; dies kann auch zu lokalen Entzündungsreaktionen führen. Nach dem Eingriff wird der Patient nach Hause geschickt; einige Tage danach wird der Befund besprochen.

Ein Großteil der Patienten hat nach der Darmspiegelung vorübergehende Darmbeschwerden (Durchfall, Verstopfung, Blähungen, Bauchschmerzen, unregelmäßiger Stuhlgang). Diese Darmbeschwerden sind ursächlich darauf zurückzuführen, dass sich im Darm die Darmflora nach der Darmspiegelung wieder regenerieren muss. Die Dauer dieser Darmbeschwerden ist unterschiedlich; sie können von wenigen Tagen bis zu Wochen dauern. In dieser Regenerationsphase ist der Darm anfällig für Schadkeime (z.B. schädliche Bakterien); diese würden dann die Regeneration weiter verzögern. Es kann sogar in Extremfällen zu Fehlbesiedelungen kommen, was wiederum eine Antibiotikatherapie erforderlich macht.

C. führt dem Darm acht klassische Vertreter nützlicher Darmbakterien zu und zusätzlich mit Curcumin und Piperin zwei pflanzliche Wirkstoffe, die bei einer zeitnahen Einnahme nach einer Darmspiegelung die Ansiedlung der Bakterien begünstigen und einer möglichen Fehlbesiedelung vorbeugen. Nach wissenschaftlichen Studien verkürzt die Einnahme von Darmbakterien in verkapselter Form nach einer Darmspiegelung die Regenerationszeit und die Zeitspanne der oben angeführten Darmbeschwerden.

C. besteht aus acht natürlichen, im Darm vorkommenden Bakterien in gefriergetrockneter Zubereitung. Dies sind lebensfähige Bakterien, die in magensaftresistenten Kapseln abgefüllt sind und sich in weiterer Folge im Darm ansiedeln und vermehren und dann die Darmflora wieder auffüllen, die nach einer Darmspiegelung schwer in Mitleidenschaft gezogen ist. Des weiteren befindet sich in den Kapseln Curcumin; das ist der Wirkstoff aus der Gelbwurz; Curcumin dient dazu, die Ansiedlung der Bakterien zu erleichtern und das Bakterienspectrum in Richtung der günstigen Darmbakterien zu beeinflussen. Ein weiterer Inhaltsstoff ist Piperin aus dem schwarzen Pfeffer; dieser Stoff hat unter anderem pilzabtötende Eigenschaften. Dieser Stoff unterstützt mit Curcumin die Ansiedlung der mit C. zugeführten Bakterien.

Es ist nicht möglich, die normale Ernährung der Patientengruppe des gegenständlichen Produkts so zu ändern, dass standardisiert die genannten zehn Inhaltsstoffe eingenommen werden. Auch die Zuführung dieser zehn Inhaltsstoffe zu unterschiedlichen Zeitpunkten würden nicht denselben diätetischen Effekt zeitigen.

2.   Beweiswürdigung:

Die Feststellungen gründen einerseits in den ihm Verwaltungsakt einliegenden Unterlagen, andererseits (und insbesondere die Feststellungen zur Wirkung von C.) in den Aussagen des Herrn Dr. K. in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Verwaltungsgericht, an deren Richtigkeit zu zweifeln für das erkennende Verwaltungsgericht kein Anlass besteht. Auch der belangte Landeshauptmann ist in der mündlichen Verhandlung den Ausführungen des Dr. K. nicht entgegengetreten.

Da der Sachverhalt somit hinsichtlich Zusammensetzung und Wirkungsweise des Produkts C. unstrittig erscheint, war – wie von der Beschwerdeführerin beantragt – die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht erforderlich. Die Frage, ob C. als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zu qualifizieren ist, ist wiederum eine Rechtsfrage, zu deren Beantwortung ein Sachverständiger nicht berufen ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Der bekämpfte Bescheid ist zwar ausdrücklich an „Herrn Mag. E.“ adressiert und auch im Spruch des Bescheids ist der Name der Beschwerdeführerin nicht genannt, dennoch ist er als an die Beschwerdeführerin gerichtet anzusehen:

An die Bezeichnung des Bescheidadressaten sind nämlich insofern keine strengen Anforderungen zu stellen, als es für die Gültigkeit des Bescheids hinreicht, dass der Adressat der Erledigung insgesamt eindeutig entnommen werden kann (z.B. VwGH 16.10.2003, 2003/07/0088). Diesem Erfordernis ist daher bei schriftlichen Ausfertigungen Rechnung getragen, wenn aus der Zusammenschau von Adressierung, Spruch, Begründung und Zustellverfügung im Zusammenhang mit den anzuwendenden Rechtsvorschriften eindeutig erkennbar ist, welchem individuell bestimmten Rechtsträger gegenüber die Behörde den Bescheide lassen wollte (z.B. VwGH 29.1.2004, 2003/07/0048). Dies ist insbesondere bei Betrachtung der Begründungsausführungen des Bescheids eindeutig die Beschwerdeführerin.

3.2. Entgegen der Ansicht des belangten Magistrats (Bescheid, Seite 2) wird C. nicht von der Beschwerdeführerin, sondern von der F. GmbH ihn G., H.-Straße, in Verkehr gebracht, denn C. wurde von dieser Gesellschaft als Erzeugerbetrieb ausgeliefert (z.B. 27.3.2019, Ra 2017/10/0147). Tatort eines verbotenen Inverkehrbringens wäre damit G..

Allerdings ist nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011, betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel, für die Information über ein Lebensmittel der Lebensmittelunternehmer verantwortlich, unter dessen Namen oder Firma das Lebensmittel vermarktet wird. Dies ist vorliegend die Beschwerdeführerin. Da die Beschwerdeführerin in Wien ihren Unternehmenssitz hat, war – entgegen ihrer Auffassung – der belangte Landeshauptmann zuständig, die bekämpfte Maßnahme nach § 39 Abs. 1 Z 11 LMSVG an die Beschwerdeführerin zu richten, weil nur sie die Möglichkeit hat, in Befolgung einer angeordneten Maßnahme die Kennzeichnung anzupassen.

3.3. Der belangte Landeshauptmann stützt seine Maßnahme nach § 39 Abs. 1 Z 11 LMSVG darauf, dass C. als Lebensmittel entgegen dem Verbot nach § 5 Abs. 2 LMSVG mit zur Irreführung geeigneten Informationen in Verkehr gebracht worden sei. C. sei nämlich als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gekennzeichnet, obwohl dieses Produkt nicht der Definition des Art. 2 Abs. 2 lit. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 vom 12.6.2013 entspreche.

Da diese Verordnung in der Anlage (nämlich in Teil 1 Z 30) des LMSVG genannt ist, hat der Landeshauptmann sie gemäß § 4 Abs. 1 LMSVG im Rahmen dieses Bundesgesetzes zu vollziehen.

Nach der Definition des Art. 2 Abs. 2 lit. g der Verordnung Nr. 609/2013 sind „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ „unter ärztlicher Aufsicht zu verwendende Lebensmittel zum Diätmanagement vom Patienten“ (einschließlich Säuglingen), „die in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert werden; sie sind zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung vom Patienten bestimmt“, und zwar einerseits „von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte“ oder – andererseits – „von Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf“, und „für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht.“

Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke konstituieren somit folgende Definitionsmerkmale:

?    Lebensmittel, die in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert werden

?    Verwendung unter ärztlicher Aufsicht

?    Bestimmung zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten im Rahmen eines Diätmanagements

?    Patienten müssen

?    eine eingeschränkte, behinderte oder gestörte Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte oder

?    einen sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf

haben.

?             Änderung der normalen Ernährung allein reicht nicht aus.

3.3.1. Dass C. ein Lebensmittel ist, das in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert und unter ärztlicher Aufsicht verwendet wird, ist nicht zweifelhaft und wird auch vom belangten Landeshauptmann nicht bestritten.

3.3.2. C. ist ein (iSd Art. 2 Abs. 1 der Delegierten Verordnung [EU] 2016/128 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 609/2013) „diätetisch unvollständiges Lebensmittel“ mit einer „für bestimmte Beschwerden spezifischen angepassten Nährstoffformulierung, die sich nicht für die Verwendung als einzige Nahrungsquelle eignet“. Es trägt den iSd Art 5 Abs. 2 lit e der Verordnung Nr. 609/2013 zwingenden Hinweis „Zum Diätmanagement bei Darmbeschwerden nach einer Darmspiegelung“. „Diätmanagement“ bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich (sinngemäß) die „Handhabung der Ernährung“ (was sich auch aus der Formulierung der englischen Verordnungsfassung „for the dietary management of“ ableiten lässt, weil ja im Englischen „to manage“ handhaben oder auch bewerkstelligen bedeutet). Das Nichtvorliegen dieses Definitionsmerkmals wird der Beschwerdeführerin vom belangten Landeshauptmann auch nicht vorgeworfen. Wie der Hinweis auf C. zutreffend klargelegt, dient dieses Produkt dem Diätmanagement bei Darmbeschwerden nach einer Darmspieglung. Auch dies ist unstrittig.

3.3.3. Die vom Produkt C. angesprochenen Patienten haben einen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf (iSd 2. Alternative des Art. 2 Abs. 2 lit. g der Verordnung 609/2013). Durch die am Patienten vorgenommene Darmspiegelung wurde ja der Großteil der Darmbakterien aus dem Darm herausgespült, sodass ein Bedarf nach diesen Bakterien besteht.

Darmbakterien unterfallen dabei dem Nährstoffbegriff, wie ihn der Codex Alimentarius, Guidelines on Nutrition Labelling, CAC/GL 2 - 1985 der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen in dessen Punkt 2.5 definiert. Danach ist ein Nährstoff „jede Substanz“, „bei deren Fehlen charakteristische biochemische oder physiologische Veränderungen auftreten können“. Dies ist gerade beim Fehlen der Darmbakterien der Fall.

Die AGES zieht zwar auch – zutreffend – für die Einstufung eines Stoffes als Nährstoff die Nährstoffdefinition des Codex Alimentarius heran, begründet dann jedoch das Nichtvorliegen eines Näherstoffs damit, dass „ein Mangel an Bakterienstämmen und schon gar nicht an Pflanzenextrakten – wie Pfeffer und Gelbwurz (Curcuma) – […] aus h.o. ernährungswissenschaftlicher Sicht nicht nachzuvollziehen“ sei. Dem steht schon vordergründig die Feststellung des erkennenden Verwaltungsgerichts entgegen, das bei Darmspiegelungen der Großteil der Darmbakterien aus dem Darm entfernt werden.

Dass Bakterien unter den Begriff der Nährstoffe fallen, lässt sich auch aus der von der Beschwerdeführerin vorgelegten „Scientific Opinion“ der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vom 7.7.2021 ableiten.

Das erkennende Verwaltungsgericht sieht sich auch nicht veranlasst, dass Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des EuGH über den Vorlageantrag des OLG Düsseldorf zu unterbrechen. Da nämlich gegenständlich auch bereits aufgrund des engen Ernährungsbegriffs ein Ernährungsbedarf besteht (und eine unmittelbare Kausalität zwischen den Beschwerden des Patienten und dem Nährstoffbedarf vorliegt), stellt sich im hier gegenständlichen Verfahren die Vorlagefrage nicht.

3.3.4. Auch das letzte Definitionsmerkmal liegt vor; dies ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip: Kann der Nährstoffbedarf durch Modifizierung der normalen Ernährung gestillt werden, verhindert dies die Qualifizierung eines Produkts als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Dabei zählen zur normalen Ernährung auch Nahrungsergänzungsmittel.

Das Gutachten der AGES, auf dem der bekämpfte Bescheid aufbaut, sieht zunächst zutreffend, dass die Modifizierung der normalen Ernährung für den Patienten praktikabel und auch zumutbar sein muss und dass die Beantwortung dieser Frage einzelfallabhängig ist. Dabei ist freilich bei der Einzelfallabhängigkeit nicht auf jeden einzelnen Patienten, sondern auf das konkrete Produkt abzustellen.

Auch wenn jeder der einzelnen zehn Inhaltsstoffe des Produkts C. ein Nahrungsergänzungsmittel sein kann, so erscheint es dem erkennenden Verwaltungsgericht nicht praktikabel, diese zehn Inhaltsstoffe einzeln als Nahrungsergänzungsmittel zuzuführen, denn – worauf der Beschwerdeführer unter Zitierung eines Urteils des deutschen BGH vom 30.10.2011 zu Recht hinweist – unter einer normalen Ernährung ist eine Ernährung zu verstehen, die insbesondere hinsichtlich der Art und der Eigenschaft der verzehrten Lebensmittel sowie des Umfangs und der Dauer des Verzehrs im Rahmen der üblichen Ernährungsgewohnheiten des betreffenden Patientenkreises liegt. Müsste der Patient diese zehn Inhaltsstoffe einzelnen zuführen (unabhängig davon, dass sie – soweit zu sehen – in dieser Form gar nicht erhältlich sind), würde der Rahmen dessen, was als normale Ernährung zu verstehen ist, überbordet.

3.3.5. Da somit hinsichtlich des Produkts C. alle Definitionsmerkmale eines Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke iSd Art. 2 Abs. 2 lit. g der Verordnung Nr. 609/2013 vorliegen, ist die Kennzeichnung des Produkts C. nicht zu beanstanden.

Entgegen der Ansicht des belangten Landeshauptmanns handelt es sich bei dem Produkt C. auch nicht um ein Nahrungsergänzungsmittel; dem steht sein diätetischer Zweck, nämlich die Verwendung zum Diätmanagement bei Darmbeschwerden nach einer Darmspiegelung, entgegen.

3.4. Die ordentliche Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Der Frage, ob konkret das Produkt C. als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zu qualifizieren ist, kommt keine über den konkreten (C. betreffenden) Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu, weshalb eine Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung nicht vorliegt (vgl. für viele VwGH 15.9.2021, Ra 2021/01/0210, mwN). Die Rechtsfrage konnte zudem nach den in Betracht kommenden klaren und eindeutigen Normen gelöst werden; nach der Rechtsprechung des VwGH liegt in derartigen Fällen gleichfalls keine Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG vor, und zwar selbst dann nicht, wenn zu einer der anzuwendenden Normen noch keine Rechtsprechung des VwGH ergangen ist (vgl. VwGH 13.7.2020, Ro 2020/02/0001; VwGH 26.1.2021, Ra 2020/02/0253, 0254, beide mwN).

Schlagworte

Lebensmittel für besondere Medizinische Zwecke; Nahrungsergänzungsmittel; Lebensmittel, die in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert werden; unter Aufsicht zu verwendende Lebensmittel zum Diätmanagement von Personen; Diätmanagement; medizinisch bedingter Nährstoffbedarf

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.101.092.13628.2021

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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