TE Vfgh Erkenntnis 2021/10/5 E3584/2021

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Veröffentlicht am 05.10.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2, Art3
AVG §68 Abs1
AsylG 2005 §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55 Abs1a
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch Zurückweisung eines Antrags betreffend den Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan wegen entschiedener Sache; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 Asylgesetz 2005), gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Aussprüche, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und keine Frist zur freiwilligen Ausreise bestehe, abgewiesen wird, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1995 geborener Staatsangehöriger von Afghanistan, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt. Er stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 28. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 23. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 6. September 2018 als unbegründet ab. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Beschwerdeführer gemäß Art144 B-VG Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof.

3. Am 3. Oktober 2018 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab er an, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlimmert habe. Wie sich aus den UNHCR-Richtlinien 2018 ergebe, sei eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar. Seine bereits im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgründe halte er aufrecht.

4. Mit Erkenntnis vom 26. Februar 2019, E4264/2019, hob der Verfassungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. September 2018 bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie der daran anknüpfenden Spruchpunkte auf. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtete – wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

5. Mit Bescheid vom 4. März 2019 wies das BFA den Folgeantrag des Beschwerdeführers vom 3. Oktober 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück; erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005; erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG; stellte fest, dass die Abschiebung gemäß §46 FPG nach Afghanistan zulässig sei; und sprach aus, dass gemäß §55 Abs1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

6. Im fortgesetzten Beschwerdeverfahren gegen den Bescheid des BFA vom 23. November 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. Juli 2021 die Beschwerde gegen den Bescheid betreffend die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels, die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise als unbegründet ab. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe.

Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom heutigen Tag (VfGH 5.10.2021, E3301/2021) hob der Verfassungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. Juli 2021 auf, weil der Beschwerdeführer durch diese Entscheidung in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK verletzt worden ist.

7. Im Beschwerdeverfahren gegen den Bescheid des BFA vom 4. März 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht mit angefochtenem Erkenntnis vom 6. August 2021 die Beschwerde gemäß §68 AVG, §10 Abs1 Z3 und §57 AsylG 2005, §9 BFA-VG, §§52 und 55 FPG als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe bloß die bereits im Erstverfahren geltend gemachten Fluchtgründe wiederholt. Zur Frage, ob auch in Bezug auf den Folgeantrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus keine entscheidungswesentliche Änderung des Sachverhalts eingetreten ist, hält das Bundesverwaltungsgericht Folgendes fest:

"

Insoweit der neuerliche Antrag des BF unter dem Blickwinkel des Refoulementschutzes (§8 AsylG 2005) zu betrachten ist, ist auszuführen, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis vom 20.07.2021 unter anderem davon ausging, dass es dem BF möglich sei, in der Stadt Mazar-e Sharif zu leben, ohne Gefahr zu laufen, in seinen in Art2 EMRK und Art3 EMRK gewährleisteten Rechten verletzt zu werden.

Vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen zu den Verhältnissen im Herkunftsstaat kann nicht angenommen werden, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten wären, wonach der BF im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in einem vergleichsweise sicheren urbanen Gebiet, wie der Stadt Mazar-e Sharif, in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Auch in Bezug auf die individuellen Umstände des BF ist keine entscheidungswesentliche Änderung eingetreten, handelt es sich doch bei ihm um einen volljährigen, gesunden, arbeitsfähigen Mann, welcher über Schulbildung sowie über Berufserfahrung verfügt und den überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht hat. Es ist sohin nach wie vor davon auszugehen, dass er ohne Unterstützung seiner Familie in der Lage ist, in der Stadt Mazar-e Sharif seine Existenz zu sichern. Dem BF ist es sohin aufgrund der bereits dargelegten und den Feststellungen zugrunde gelegten persönlichen Umständen nach wie vor möglich und zumutbar, sich in der Stadt Mazar-e Sharif neu anzusiedeln, ohne einer Gefährdung iSd Art2 oder Art3 EMRK ausgesetzt zu sein."

8. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt unter anderem vor, dass sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan zuletzt derart verschlechtert habe, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan dem realen Risiko einer Verletzung seiner durch Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und der Aussprüche, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und keine Frist zur freiwilligen Ausreise bestehe, begründet.

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Entscheidung vom heutigen Tag (VfGH 5.10.2021, E3301/2021) im Parallelverfahren zum Erstantrag des Beschwerdeführers ausgesprochen, dass auf Grundlage des Länderinformationsblattes vom 11. Juni 2021 sowie der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021 – dh bereits auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes – von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt (VfGH 30.9.2021, E3445/2021; zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

1.2. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers in Afghanistan ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Zurückweisung des Antrages hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 Asylgesetz 2005), gegen die Erlassung einer neuerlichen Rückkehrentscheidung sowie gegen die Aussprüche, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und keine Frist zur freiwilligen Ausreise bestehe, bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist insoweit aufzuheben.

2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen die Aussprüche, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan zulässig sei und keine Frist zur freiwilligen Ausreise bestehe, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben, sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, res iudicata, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3584.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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