TE Vwgh Erkenntnis 2021/11/18 Ro 2020/22/0015

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Veröffentlicht am 18.11.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
E3L E02100000
E3L E05100000
E3L E19100000
E3L E19104000
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ARB1/80 Art13
EURallg
NAG 2005 §20 Abs4
NAG 2005 §41a Abs6
NAG 2005 §45 Abs1
NAG 2005 §45 Abs9
VwGG §13 Abs1 Z1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art9 Abs1 litc
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art9 Abs2
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art9 Abs5
32004L0038 Unionsbürger-RL Art16 Abs4
62009CJ0162 Taous Lassal VORAB
62009CJ0325 Dias VORAB
62013CJ0138 Dogan VORAB
62014CJ0561 Genc VORAB
62015CJ0652 Tekdemir VORAB
62017CJ0123 Yön VORAB
62018CJ0089 A VORAB
62020CJ0379 Udlændingenævnet VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom 2. September 2020, LVwG-750900/2/MZ/AO, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck; mitbeteiligte Partei: O Y, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Dem Mitbeteiligten, einem türkischen Staatsangehörigen, wurde erstmals am 5. Juni 1997 eine Aufenthaltsberechtigung in Österreich erteilt. Am 18. November 2002 erhielt er eine unbefristete Niederlassungsbewilligung, die (schließlich) als Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) weiter galt.

2        Am 31. August 2019 stellte der Mitbeteiligte einen Antrag auf Feststellung seiner Berechtigung zum unbefristeten Aufenthalt in Österreich, in eventu auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 41a Abs. 6 NAG. Der Mitbeteiligte gab an, sich länger als ein Jahr in der Türkei aufgehalten zu haben und im Juli 2019 nach Österreich zurückgekehrt zu sein. Auf Grund der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) sei § 20 Abs. 4 NAG auf ihn aber nicht anzuwenden.

3        Mit Bescheid vom 24. Juni 2020 wies die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck (belangte Behörde) den Feststellungsantrag des Mitbeteiligten ab (Spruchpunkt I.), stellte fest, dass der unbefristete Aufenthaltstitel des Mitbeteiligten mit Ablauf des 23. Juli 2017 erloschen sei (Spruchpunkt II.), und wies den Eventualantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zurück (Spruchpunkt III.).

In ihrer Begründung zu den Spruchpunkten I. und II. ging die belangte Behörde davon aus, dass Art. 6 und 13 ARB 1/80 nicht anzuwenden seien, weil der Mitbeteiligte keine mindestens einjährige durchgehende Beschäftigung nachgewiesen und seinen Aufenthalt nicht mit der Absicht der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit begründet habe. Sein Aufenthaltstitel sei daher gemäß § 20 Abs. 4 NAG mit Ablauf des 23. Juli 2017 erloschen. Im Fall der Anwendung der Stillhalteklausel würde § 20 Abs. 4 NAG zwar eine neue Beschränkung darstellen, jedoch wäre es aufgrund Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommens (ZP), der eine günstigere Behandlung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern verbiete, geboten, § 10 Abs. 3 Z 5 NAG analog anzuwenden, weshalb der Aufenthaltstitel des Mitbeteiligten ein Jahr später, nämlich mit 23. Juli 2018, gegenstandslos geworden wäre. Die Zurückweisung des Eventualantrages begründete die belangte Behörde mit der (trotz Erteilung eines Verbesserungsauftrages) unterbliebenen persönlichen Antragstellung des Mitbeteiligten.

4        In der dagegen erhobenen Beschwerde führte der Mitbeteiligte im Wesentlichen aus, er falle entgegen der Rechtsansicht der belangten Behörde in den Anwendungsbereich des ARB 1/80, weil er mit Erwerbsausübungsabsicht nach Österreich eingereist sei. Das zeige sich auch daran, dass er bereits wenige Wochen nach seiner Einreise eine Arbeit gefunden und über fast zwei Jahrzehnte regelmäßig und durchgehend gearbeitet habe.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 2. September 2020 gab das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich der Beschwerde des Mitbeteiligten statt und stellte fest, dass er aufgrund des am 18. November 2002 erteilten (näher bezeichneten) unbefristeten Aufenthaltstitels - trotz seines Aufenthaltes in der Türkei von 23. Juli 2016 bis 31. Juli 2019 - zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sei. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für zulässig erklärt.

6        Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde: Der Mitbeteiligte sei seit 1994 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und verfüge, nachdem ihm erstmals am 5. Juni 1997 eine Aufenthaltsberechtigung in Österreich ausgestellt worden sei, seit 18. November 2002 über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung. Seit dem 15. Juni 1998 sei er in Österreich bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt gewesen, wobei die längste durchgehende Beschäftigung acht Monate angedauert habe. Der Mitbeteiligte habe immer die Absicht gehabt, in Österreich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Von 23. Juli 2016 bis 31. Juli 2019 habe er sich in der Türkei aufgehalten, seitdem sei er wieder in Österreich aufhältig. Am 4. Februar 2020 habe er neuerlich eine Beschäftigung aufgenommen.

7        In rechtlicher Hinsicht hielt das Verwaltungsgericht fest, dem Mitbeteiligten komme aufgrund seiner Erwerbsabsicht die Stillhalteklausel des Art. 41 ZP und des Art. 13 ARB 1/80 zugute. Zwar gelte die dem Mitbeteiligten im Jahr 2002 erteilte Niederlassungsbewilligung als Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ (gemäß § 45 NAG), die Heranziehung des „abstrakt als Erlöschenstatbestand in Betracht“ kommenden § 20 Abs. 4 NAG sei im konkreten Fall auf Grund der Stillhalteklausel aber ausgeschlossen, weil es sich dabei - so das Verwaltungsgericht unter Verweis auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - um eine neue Beschränkung handle. Der (mehr als dreijährige) Aufenthalt des Mitbeteiligten in der Türkei bewirke somit kein Erlöschen des Aufenthaltstitels.

Entgegen der Ansicht der belangten Behörde sei auch § 10 Abs. 3 Z 5 NAG nicht analog auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Zwar ordne Art. 59 ZP ein Verbot der Besserstellung türkischer Staatsangehöriger gegenüber Unionsbürgern an. Eine derartige unzulässige Besserstellung erfordere aber eine Vergleichbarkeit der Situation für Unionsbürger mit jener für türkische Staatsangehörige. Fallbezogen liege eine solche Besserstellung nicht vor, weil Unionsbürger - im Unterschied zu türkischen Staatsangehörigen - auf Grund der Freizügigkeit auch im Fall der Gegenstandslosigkeit (der Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts) berechtigt seien, neuerlich einen Aufenthalt in Österreich zu begründen. Somit sei eine Schlechterstellung von Unionsbürgern gegenüber türkischen Staatsangehörigen durch das Aufrechtbleiben des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ (bei türkischen Staatsangehörigen) nicht erkennbar. Vielmehr werde dadurch nur eine mit der Stillhalteklausel in Konflikt stehende Verschlechterung der Rechtsstellung des Mitbeteiligten verhindert.

8        Die Revision sei zulässig, weil zur Frage der Gegenstandslosigkeit eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ wegen Abwesenheit vom Bundesgebiet bei gleichzeitiger Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des ARB 1/80 bisher keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes existiere.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des Bundesministers für Inneres.

Der Mitbeteiligte erstattete eine Äußerung, in der er die Zurückweisung bzw. in eventu die Abweisung der Revision beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10       Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision vor, es liege zwar (näher zitierte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum (Nicht)Erlöschen des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ bei Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 vor. Diese Rechtsprechung könne aber nicht mehr herangezogen werden, weil sich die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) seither maßgeblich weiterentwickelt habe (Hinweis insbesondere auf EuGH 7.11.2013, Demir, C-225/12). Demnach sei eine neue Beschränkung ua. dann nicht verboten, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet sei, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe. Ob § 20 Abs. 4 NAG diesen Kriterien genüge, sei in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes noch nicht beantwortet worden. Zudem fehle es an höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, wie sich Art. 59 ZP auf einen Fall wie den vorliegenden auswirke bzw. ob § 10 Abs. 3 Z 5 NAG insoweit analog anzuwenden sei.

Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.

11       Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lauten auszugsweise:

Ungültigkeit und Gegenstandslosigkeit von Aufenthaltstiteln und Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts

§ 10. [...]

(3) Aufenthaltstitel und Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts werden gegenstandslos, wenn

[...]

5.   die Abwesenheitsdauer des Fremden, dem eine Bescheinigung des Daueraufenthalts oder eine Daueraufenthaltskarte ausgestellt wurde, vom Bundesgebiet mehr als zwei aufeinander folgende Jahre beträgt;

[...]

Gültigkeitsdauer von Aufenthaltstiteln

§ 20. [...]

(3) Inhaber eines Aufenthaltstitels ‚Daueraufenthalt - EU‘ (§ 45) sind in Österreich - unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesen Aufenthaltstiteln entsprechenden Dokuments - unbefristet niedergelassen. Dieses Dokument ist für einen Zeitraum von fünf Jahren auszustellen und, soweit keine Maßnahmen nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 durchsetzbar sind, abweichend von § 24 auch nach Ablauf auf Antrag zu verlängern.

(4) Ein Aufenthaltstitel nach Abs. 3 erlischt, wenn sich der Fremde länger als zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhält. Aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, wie einer schwerwiegenden Erkrankung, der Erfüllung einer sozialen Verpflichtung oder der Leistung eines der allgemeinen Wehrpflicht oder dem Zivildienst vergleichbaren Dienstes, kann sich der Fremde bis zu 24 Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhalten, wenn er dies der Behörde vorher mitgeteilt hat. Liegt ein berechtigtes Interesse des Fremden vor, hat die Behörde auf Antrag festzustellen, dass der Aufenthaltstitel nicht erloschen ist. Der Nachweis des Aufenthalts im EWR-Gebiet obliegt dem Fremden.

[...]“

12       Gemäß Art. 59 ZP darf in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen der Türkei (und damit türkischen Staatsangehörigen) keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander auf Grund des EGV einräumen (somit als Unionsbürgern). In Kapitel I des Titels 2 des ZP enthält dieses auch Regeln betreffend die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl. dazu auch VwGH 23.2.2021, Ro 2019/22/0007, Rn. 8).

Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auch türkischen Staatsangehörigen zugutekommt, die nicht bereits (legal) in den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates integriert sind; allerdings muss die Absicht zu einer solchen Integration in den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates bestehen (vgl. etwa VwGH 20.4.2021, Ra 2020/21/0505, Rn. 10, mwN).

14       Ausgehend von der unbestritten gebliebenen Feststellung des Verwaltungsgerichtes, wonach der Mitbeteiligte von Anfang an die Absicht gehabt habe, sich in den österreichischen Arbeitsmarkt zu integrieren, ist das Verwaltungsgericht zutreffend von der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auf den Mitbeteiligten ausgegangen.

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat - worauf das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis auch hinweist - in mehreren Entscheidungen im Jahr 2012 das in § 20 Abs. 4 NAG normierte Erlöschen des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ als neue Beschränkung für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 qualifiziert, die auf Grund der Stillhalteklausel auf die dortigen Beschwerdeführer nicht anzuwenden gewesen wäre (siehe VwGH 26.1.2012, 2008/21/0304; 21.2.2012, 2011/23/0671; 26.6.2012, 2009/22/0307; das vom Mitbeteiligten in seiner Äußerung ins Treffen geführte Erkenntnis VwGH 19.5.2014, Ro 2014/09/0016, verweist zwar im Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung der Stillhalteklausel auf das hg. Erkenntnis 2008/21/0304, enthält aber keine Aussage zur hier gegenständlichen Frage der Maßgeblichkeit der Stillhalteklausel für § 20 Abs. 4 NAG).

16       Der EuGH hat in der Folge allerdings wiederholt festgehalten, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 galten, verboten ist, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Zieles zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (siehe EuGH 7.11.2013, Demir, C-225/12, Rn. 40; 10.7.2014, Dogan, C-138/13, Rn. 37; 12.4.2016, Genc, C-561/14, Rn. 51; 29.3.2017, Tekdemir, C-652/15, Rn. 33; 7.8.2018, Yön, C-123/17, Rn. 72; 10.7.2019, A, C-89/18, Rn. 31; 3.10.2019, A ua., C-70/18, Rn. 44; 2.9.2021, B, C-379/20, Rn. 23). Eine Berücksichtigung dieser Kriterien im Zusammenhang mit der Regelung des § 20 Abs. 4 NAG ist in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bislang noch nicht erfolgt.

17       Der EuGH hat - auch unter Verweis auf die aus verschiedenen Rechtsakten ableitbare Bedeutung von Integrationsmaßnahmen im Rahmen des Unionsrechts - anerkannt, dass das Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration von Drittstaatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses (im Hinblick auf Art. 13 ARB 1/80 und somit zur Rechtfertigung einer neuen Beschränkung) darstellen kann (siehe EuGH C-561/14, Rn. 55 f; C-89/18, Rn. 34; C-379/20, Rn. 26; vgl. weiters - im Zusammenhang mit der Förderung der Integration - EuGH C-138/13, Rn. 38).

18       Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind ua. die Modalitäten der Umsetzung einer (dort als zur Zielerreichung geeignet angesehenen) Verpflichtung zu berücksichtigen (vgl. EuGH C-652/15, Rn. 43). Weiters hat es der EuGH in einem Fall als maßgeblich erachtet, dass Ausnahmen von einer - zur Erreichung des Ziels der erfolgreichen Integration vorgesehenen - Maßnahme und eine individuelle Prüfung im Einzelfall vorgesehen waren (EuGH C-379/20, Rn. 31 ff). Bereits mehrfach hat der EuGH schließlich festgehalten, dass die Prüfung, ob die Einzelheiten der Umsetzung einer neuen beschränkenden Maßnahme über das zur Erreichung des damit verfolgten Zieles Erforderliche hinausgehen, Sache des vorlegenden Gerichts sei (vgl. - im Zusammenhang mit der dem Ziel einer wirksamen Steuerung und Kontrolle der Migrationsströme dienenden Verpflichtung, vor der Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates ein Visum einzuholen - EuGH C-123/17, Rn. 89; so - im Zusammenhang mit einer altersmäßigen Vorgabe für die Familienzusammenführung - letztlich auch EuGH C-379/20, Rn. 35).

19       Die im vorliegenden Fall in Rede stehende Beschränkung des § 20 Abs. 4 NAG wurde in Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (insbesondere ihres Art. 9 Abs. 1 lit. c und Abs. 2) eingeführt (vgl. die Erläuterungen in RV 952 BlgNR 22. GP 129). Die Richtlinie 2003/109/EG verfolgt das Ziel der Integration von Drittstaatsangehörigen, die langfristig in den Mitgliedstaaten ansässig sind (vgl. etwa die Erwägungsgründe 4 und 12). In Erwägungsgrund 6 dieser Richtlinie wird dazu wie folgt ausgeführt:

„Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. Eine gewisse Flexibilität sollte vorgesehen werden, damit Umstände berücksichtigt werden können, die eine Person veranlassen können, das Land zeitweilig zu verlassen.“

20       Dementsprechend sieht Art. 9 Abs. 1 lit. c der Richtlinie 2003/109/EG vor, dass die (nach einem fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt erworbene) Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten verloren geht, wenn sich der Drittstaatsangehörige während eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der Gemeinschaft aufgehalten hat (wobei Art. 9 Abs. 2 leg. cit. den Mitgliedstaaten erlaubt, Ausnahmen vorzusehen). Eine derart lange Abwesenheit unterbricht somit die (in Erwägungsgrund 6 für die Erlangung der bevorzugten Rechtsstellung als maßgeblich erachtete) „Verwurzelung“ des Drittstaatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat.

21       Eine damit vergleichbare Regelung findet sich in Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Danach führt eine zwei aufeinander folgende Jahre überschreitende Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat zum Verlust des (nach fünf Jahren erworbenen) Rechts auf Daueraufenthalt. Der EuGH hat dazu festgehalten, diese Regelung sei dadurch gerechtfertigt, dass nach einer solchen Abwesenheit die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat gelockert sei (vgl. EuGH 7.10.2010, Lassal, C-162/09, Rn. 55; 21.7.2011, Dias, C-325/09, Rn. 59).

22       Ausgehend davon, dass auch auf unionsrechtlicher Ebene an eine längere Abwesenheit die Folge des Entzugs einer besonders begünstigten Rechtsstellung geknüpft und somit die abträgliche Wirkung einer derartigen Unterbrechung des Aufenthaltes für die Integration anerkannt wird, bestehen seitens des Verwaltungsgerichtshofes keine Zweifel, dass mit einer Regelung wie der in § 20 Abs. 4 NAG vorgesehenen (wonach ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ in der Regel im Fall einer länger als ein Jahr andauernden Abwesenheit vom EWR-Gebiet erlischt) das Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration von Drittstaatsangehörigen in geeigneter Weise verfolgt wird.

23       Zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist insbesondere auf die (in Umsetzung von Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2003/109/EG) im NAG vorgesehene vereinfachte Möglichkeit der Wiedererlangung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ hinzuweisen. Gemäß § 41a Abs. 6 NAG ist Drittstaatsangehörigen, die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 1 NAG verfügt haben und dieser (zB) gemäß § 20 Abs. 4 NAG erloschen ist, ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG erfüllen. Liegen die Voraussetzungen des § 41a Abs. 6 NAG vor, verkürzt sich wiederum die für die (neuerliche) Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ geltende Frist einer ununterbrochenen tatsächlichen Niederlassung von fünf Jahren auf 30 Monate (§ 45 Abs. 9 NAG). Es ist daher im Fall des Verlustes des eine unbefristete Niederlassung ermöglichenden Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ infolge einer längeren Abwesenheit nicht nur Vorsorge dafür getragen, dass der Drittstaatsangehörige (bei Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen) einen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigenden (befristeten) Aufenthaltstitel erhält, sondern er erlangt auch nach kürzerer Aufenthaltsdauer einen erneuten Zugang zu der durch den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ eingeräumten bevorzugten Rechtsstellung.

24       Da für ehemalige Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ somit eine vereinfachte und beschleunigte Wiedererlangung des verlorenen Aufenthaltsstatus vorgesehen ist und die mit dem Erlöschen des Aufenthaltstitels eingetretenen Konsequenzen dadurch abgefedert werden, vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht zu sehen, dass die mit dem Erlöschen des Aufenthaltstitels einhergehende neue Beschränkung über das zur Erreichung des Ziels der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration Erforderliche hinausgeht. Der Verwaltungsgerichtshof erachtet daher die in der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 ARB 1/80 aufgestellten Kriterien für die Zulässigkeit einer neuen Beschränkung als erfüllt, weshalb die Regelung des § 20 Abs. 4 NAG auf den Mitbeteiligten anzuwenden gewesen wäre.

25       Daran ändert auch der Verweis des Mitbeteiligten in seiner Äußerung auf das im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erstattete Vorbringen, wonach er sich aus wichtigen familiären Gründen in der Türkei aufgehalten habe, nichts, zumal der Gesetzgeber auch für solche Fälle Vorsorge getroffen und - in Ausnützung des in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG eingeräumten Spielraums - den Zeitraum der (für das Bestehen des Aufenthaltstitels gleichsam unschädlichen) Abwesenheitsdauer aus (deklarativ aufgezählten) besonders berücksichtigungswürdigen Gründen (wie etwa der Erfüllung sozialer Verpflichtungen) von zwölf auf 24 Monate erstreckt hat.

26       Da der Verwaltungsgerichtshof mit der Prüfung des § 20 Abs. 4 NAG anhand der dargestellten Kriterien der Rechtsansicht des EuGH Rechnung trägt, bedurfte es ungeachtet der in Rn. 15 zitierten hg. Erkenntnisse keiner Befassung eines verstärkten Senates wegen Abgehen von einer früheren Rechtsprechung (vgl. VwGH 9.9.2020, Ra 2017/22/0021, Pkt. 7, mwN).

27       Das angefochtene Erkenntnis war somit bereits aus dem dargestellten Grund wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 18. November 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62009CJ0162 Taous Lassal VORAB
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Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang, partielle Nichtanwendung von innerstaatlichem Recht EURallg1 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020220015.J00

Im RIS seit

27.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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