TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/29 E1703/2020

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Veröffentlicht am 29.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; keine Heranziehung aktueller Länderberichte

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,? bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1992 geborener Staatsangehöriger Afghanistans, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er stammt aus dem Ort Mala Afzal Khil in der Provinz Kapisa. Er stellte am 23. Juni 2015 nach Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 24. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 18. März 2020 als unbegründet ab. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen dahin, dass zwar nicht verkannt werde, dass die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers zu den volatilen Gegenden Afghanistans zähle, weswegen eine Rückkehr dorthin nicht möglich sei. Ihm stehe aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw Schutzalternative in Bezug auf die Städte Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung, auch wenn er dort noch nie gelebt habe. Es werde nicht verkannt, dass auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif die Situation nach wie vor angespannt sei; dennoch habe die afghanische Regierung die Kontrolle über Herat und Mazar-e Sharif sowie größere Transitrouten. Sowohl Herat als auch Mazar-e Sharif seien mit dem Flugzeug sicher zu erreichen. Außergewöhnliche Gründe, die seiner Rückkehr nach Herat und Mazar-e Sharif entgegenstünden, hätten nicht festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, arbeitsfähiger, junger erwachsener Mann mit Schulbildung und jahrelanger Berufserfahrung als Dachdecker, Maurer und Autoverkäufer. Er würde im Falle einer Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif nicht Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung oder Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw existenzbedrohende Situation zu geraten. Er sei in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden und am Erwerbsleben teilzunehmen. Es werde dabei berücksichtigt, dass er bei einer Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif beim Aufbau einer Existenzgrundlage nicht von Familienangehörigen oder sonstigen Personen unterstützt werden könne; er habe aber die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, und verfüge über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit. Zudem sei er mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, dass die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl etwa VfSlg 19.466/2011; VfGH 12.12.2019, E3350/2019; 5.3.2020, E394/2020; 21.9.2020, E4673/2019). Vor diesem Hintergrund kommt den vom Bundesverwaltungsgericht angestellten Ermittlungen bzw getroffenen Feststellungen in Bezug auf die Situation im Herkunftsstaat besondere Bedeutung zu.

3.2. Das angefochtene Erkenntnis enthält aber keine hinreichend aktuellen Länderberichte. Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in Herat und Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei, überwiegend auf Länderberichte aus dem Jahr 2018. Insbesondere in Bezug auf die Sicherheitslage in den Provinzen Kapisa, Herat und Balkh (bzw der Stadt Mazar-e Sharif) sowie hinsichtlich der Grundversorgung und Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt und der Arbeitslosigkeit, der medizinischen Versorgung und der Situation von Rückkehrern finden sich hauptsächlich Informationen aus den Jahren 2017 und 2018. Feststellungen zur Grundversorgung in den Städten Herat und Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternativen fehlen gänzlich. Aktuelleren Datums sind nur die abgedruckten Kurzinformationen aus dem Jahr 2019, die jedoch hauptsächlich Feststellungen bezüglich politischer Ereignisse, ziviler Opfer sowie Anschlägen in Kabul treffen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht daher in seiner rechtlichen Beurteilung ausführt, dass es dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Versorgungslage möglich und zumutbar sei, sich in Herat oder Mazar-e Sharif anzusiedeln, weil der Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung und Erwerbsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen grundsätzlich gegeben sei und die Provinzen als relativ friedlich gewertet würden, lassen sich diese Annahmen aus den zitierten Länderfeststellungen nicht ableiten.

3.3. Daran vermag auch die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach im Hinblick auf die älteren Berichte zur Lage im Herkunftsstaat auszuführen sei, "[…] dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung von anderen[,] dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert [...]" hätten, nichts zu ändern, denn der Inhalt dieses Materials wurde im angefochtenen Erkenntnis nicht offengelegt (vgl auch VfSlg 19.642/2012; VfGH 22.9.2016, E1641/2016 ua).

3.4. Aus diesem Grund ist dem Verfassungsgerichtshof eine nachprüfende Kontrolle des angefochtenen Erkenntnisses in den relevanten Fragen nicht möglich.

3.5. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Zulässigerklärung der Rückkehrentscheidung bzw der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise bezieht, ist es daher mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

4. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

5. Demgemäß ist von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – abzusehen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E1703.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.12.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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