TE Vfgh Erkenntnis 2021/10/5 E2996/2021

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Veröffentlicht am 05.10.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AVG §68
AsylG 2005 §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §53, §55 Abs1a
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung eines Antrags betreffend den Status eines subsidiär Schutzberechtigten und das Einreiseverbot wegen entschiedener Sache; mangelhafte Auseinandersetzung mit der sich äußerst rasch ändernden Situation betreffend die kriegerische Auseinandersetzung im Herkunftsstaat Afghanistan, zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung und ihren Truppen; mangelhafte Prüfung der laufenden Entwicklung bei extremer Volatilität der Sicherheitslage; mangelhafte Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt und Beschwerde

1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er stammt aus der Provinz Kunduz.

2. Am 23. November 2015 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 16. August 2016 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen diesen eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. September 2019 als unbegründet ab. Mit Bescheid vom 28. August 2019 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erneut eine Rückehrentscheidung in Verbindung mit einem auf acht Jahre befristeten Einreiseverbot, das durch die Beschwerdevorentscheidung vom 15. Oktober 2019 auf sechs Jahre verkürzt wurde. Ansonsten wurde die dagegen erhobene Beschwerde abgewiesen.

3. Am 20. Februar 2020 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 10. Juni 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück.

Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 2. Juli 2021 als unbegründet abgewiesen, im Wesentlichen mit der Begründung, dass seit dem Abschluss des ersten Verfahrens keine relevante Änderung des Sachverhaltes eingetreten sei. Seiner Entscheidung zur Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten legt das Bundesverwaltungsgericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der zuletzt am 1. April 2021 aktualisierten Fassung zugrunde und hält darauf gestützt fest, dass sich der Beschwerdeführer nicht auf die schlechte Sicherheitslage berufen könne, weil das Ausmaß an Gewalt noch kein derart hohes Niveau erreicht habe, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr eine reale Gefahr einer Verletzung seiner durch Art2 oder 3 EMRK gewährleisteten Rechte drohe.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend führt die Beschwerde ua aus, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung, den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, auf veraltete Länderberichte gestützt und damit sein Erkenntnis mit Willkür belastet habe.

5. Der Verfassungsgerichtshof führte zu dieser Beschwerde im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG kein weiteres Verfahren durch.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Auch wenn die Behörde einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurückweist, hat das über die dagegen erhobene Beschwerde entscheidende Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des Asylwerbers dahingehend zu prüfen, ob ein erstmals vorgebrachter Fluchtgrund, soweit er sachverhaltsändernde Elemente enthält, einen glaubhaften Kern aufweist und ob er im Lichte der Art2 und 3 EMRK einer Rückführung aktuell entgegensteht (vgl zB VfGH 28.11.2019, E2006/2019 ua; 8.6.2020, E2751/2019 jeweils mwN).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinem Erkenntnis vom 2. Juli 2021 das Länderinformationsblatt in der am 1. April 2021 aktualisierten Fassung zugrunde und führt aus, dass die im angeführten Länderbericht dargestellte Sicherheitslage einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht entgegenstehe.

2.3. Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass zum Entscheidungszeitpunkt aktuellere Informationen zu Afghanistan wie insbesondere das Länderinformationsblatt in der Fassung vom 11. Juni 2021 vorgelegen sind und verkennt damit seine aus Art2 und 3 EMRK folgende Verpflichtung zu beurteilen, ob für den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung der genannten Grundrechte, insbesondere eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bestehen würde (siehe VfGH 24.9.2021, E3047/2021):

Auf Grund der im Zeitpunkt seiner Entscheidung verfügbaren Länderinformationen, insbesondere des Länderinformationsblattes vom 11. Juni 2021, war für das Bundesverwaltungsgericht mit diesem Zeitpunkt erkennbar, dass auf Grund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan die Gefahr einer das ganze Land betreffenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und Regierungstruppen und damit eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes für Angehörige der Zivilbevölkerung wie dem Beschwerdeführer gegeben war. So wird etwa im Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert hat. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, […] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [hat], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen, die Taliban "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert".

Auch auf Grund der breiten medialen Berichterstattung über die Entwicklungen in Afghanistan, die für das Bundesverwaltungsgericht als notorisch gelten können (vgl VfGH 23.2.2015, E882/2014), musste das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan als extrem volatil einzustufen ist (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

Vor diesem Hintergrund war das Bundesverwaltungsgericht damit verpflichtet, das Vorliegen einer realen Gefahr einer Verletzung des Art2 oder 3 EMRK bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers angesichts der sich nahezu täglich ändernden Situation in der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung und ihren Truppen eingehend auch im Hinblick auf die laufende Entwicklung zu prüfen (vgl EGMR 23.3.2016 [GK], Fall F.G., Appl 43.611/11 [Z114, 116]). Dieser Verpflichtung genügt das Bundesverwaltungsgericht in dieser besonderen, durch eine extreme Volatilität auf Grund einer sich äußerst rasch verändernden Sicherheitslage gekennzeichneten Situation nicht, wenn es sich auf veraltete Länderinformationen stützt und momentbezogen eine kriegerische Auseinandersetzung im Herkunftsstaat verneint, ohne die ernsthafte Bedrohung durch eine nachvollziehbar befürchtete, landesweit bereits teilweise tatsächlich eingetretene und möglicherweise auch unmittelbar bevorstehende weitere wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage mit in den Blick zu nehmen.

3. Indem das Bundesverwaltungsgericht die bereits zum Entscheidungszeitpunkt veröffentlichten aktuelleren Länderinformationen nicht berücksichtigt und daher von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, ohne dabei der sich rasch ändernden, durch sich intensivierende kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und afghanischen Regierungstruppen gekennzeichneten Sicherheitslage, wie sie aus der aktuellen Berichtslage ersichtlich war, Rechnung zu tragen, hat es sein Erkenntnis – soweit es sich auf die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache bezieht – mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen (also hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, res iudicata, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E2996.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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