TE Vwgh Erkenntnis 2021/11/17 Ra 2020/08/0062

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Veröffentlicht am 17.11.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze
68/02 Sonstiges Sozialrecht

Norm

AlVG 1977
AlVG 1977 §10
AlVG 1977 §10 Abs1
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §9
AlVG 1977 §9 Abs1
AMFG
AMFG §4 Abs1 Z1
AMSG 1994 §32 Abs2 Z5
AMSG 1994 §32 Abs4
AMSG 1994 §32 Abs5
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie die Hofräte Mag. Stickler, Mag. Tolar und Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des Arbeitsmarktservice Wien Wagramer Straße in 1220 Wien, Wagramerstraße 224c, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Februar 2020, W238 2223613-1/3E, betreffend Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Wagramer Straße; mitbeteiligte Partei: S A, in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 6. Mai 2019 sprach die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Wagramer Straße (AMS) aus, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 AlVG den Anspruch auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 1. April 2019 bis zum 12. Mai 2019 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 4. Juli 2019 ab. Der Mitbeteiligte habe eine Bewerbung auf ihm zugewiesene Stellen unterlassen.

2        Mit dem in Revision gezogenen - nach einem Vorlageantrag des Mitbeteiligten ergangenen - Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Mitbeteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge und behob die Beschwerdevorentscheidung des AMS ersatzlos. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

3        Das BVwG stellte fest, das AMS habe dem in Bezug von Arbeitslosengeld stehenden Mitbeteiligten ein Stellenangebot übermittelt. Darin sei mitgeteilt worden, dass das AMS „im Zuge einer schriftlichen Vorauswahl“ sechs Hilfsköche für ein befristetes Dienstverhältnis suche und der Mitbeteiligte aufgefordert werde, eine Bewerbung für diese Stellen samt vollständiger Bewerbungsunterlagen an das AMS per E-Mail oder per Post zu übermitteln. Weiters habe das Stellenangebot Angaben über die Anforderungen der angebotenen Beschäftigung sowie zum Mindestentgelt enthalten. Aus dem Stellenangebot seien aber der potentielle Arbeitgeber und der Arbeitsort nicht hervorgegangen. Der Mitbeteiligte sei der Aufforderung des AMS nicht nachgekommen und habe sich für die Stellen nicht beworben.

4        In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, die Verpflichtung eines Arbeitslosen, sich in Bezug auf ein konkretes Arbeitsangebot arbeitswillig zu zeigen, setze ausreichende Informationen über die Arbeitsgelegenheit - insbesondere die Bekanntgabe des Namens des potentiellen Arbeitgebers und des Arbeitsortes - voraus. Widrigenfalls scheide, wie sich aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. September 2008, 2007/08/0187, ergebe, eine Sanktionierung des Verhaltens des Arbeitslosen nach § 10 AlVG aus. Das Stellenangebot des AMS habe die erforderlichen Informationen über den Arbeitgeber nicht enthalten. Auch die Ausführungen des AMS, dem Mitbeteiligten sei in einem Begleitschreiben mitgeteilt worden, dass der zuständige Mitarbeiter des AMS für Fragen zur Verfügung stehe, weshalb es dem Mitbeteiligten möglich gewesen wäre, den Namen des Arbeitgebers beim AMS in Erfahrung zu bringen, führe zu keinem anderen Ergebnis. Der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei nämlich eine „generelle Verpflichtung“ einer arbeitslosen Person, selbst Erkundigungen hinsichtlich des Namens eines in einem Stellenangebot nicht genannten Arbeitgebers anzustellen, nicht zu entnehmen.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des AMS. Nach Einleitung des Vorverfahrens hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6        Das AMS macht zur Zulässigkeit seiner Revision zusammengefasst geltend, es entspreche der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass Arbeitslose zu einer Teilnahme an einem Vorauswahlverfahren verpflichtet seien. Dies habe der Verwaltungsgerichtshof auch in Fällen bejaht, in denen im Vermittlungsvorschlag der potentielle Dienstgeber nicht genannt worden sei (Hinweis auf VwGH 19.7.2013, 2012/08/0176; 4.9.2013, 2013/08/0101).

7        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

8        Nach § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer unter anderem bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen.

9        Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen - bzw. unter näher umschriebenen Voraussetzungen acht Wochen - den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

10       § 9 Abs. 1 und § 10 Abs. 1 AlVG sind Ausdruck des dem gesamten Arbeitslosenversicherungsrecht zu Grunde liegenden Gesetzeszweckes, den arbeitslos gewordenen Versicherten, der trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keinerlei Beschäftigung gefunden hat, möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/08/0036, mwN).

11       Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es, um sich in Bezug auf eine von der regionalen Geschäftsstelle des AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen, grundsätzlich einerseits eines auf die Erlangung dieses Arbeitsplatzes ausgerichteten, unverzüglich zu entfaltenden aktiven Handelns der bzw. des Arbeitslosen und andererseits auch der Unterlassung jedes Verhaltens, welches objektiv geeignet ist, das Zustandekommen des konkret angebotenen Beschäftigungsverhältnisses zu verhindern bedarf. Das Nichtzustandekommen eines die Arbeitslosigkeit beendenden zumutbaren Beschäftigungsverhältnisses kann vom Arbeitslosen - abgesehen vom Fall der ausdrücklichen Weigerung, eine angebotene Beschäftigung anzunehmen - somit auf zwei Wegen verschuldet, die Annahme der Beschäftigung also auf zwei Wegen vereitelt werden: Nämlich dadurch, dass der Arbeitslose ein auf die Erlangung des Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln erst gar nicht entfaltet (etwa durch Unterlassen der Vereinbarung eines Vorstellungstermins oder Nichtantritt der Arbeit), oder dadurch, dass er den Erfolg seiner (nach außen zu Tage getretenen) Bemühungen durch ein Verhalten, welches nach allgemeiner Erfahrung geeignet ist, den potentiellen Dienstgeber von der Einstellung des Arbeitslosen abzubringen, zunichtemacht (vgl. VwGH 29.6.2021, Ra 2020/08/0026, mwN).

12       Gemäß § 32 Abs. 2 Z 5 und Abs. 5 AMSG iVm. § 4 Abs. 1 Z 1 AMFG gehört auch die Arbeitsvermittlung zu den Aufgaben des AMS. Aus dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 AMSG ergibt sich, dass auch die Vorauswahl von Bewerbern vom AMS für potentielle Arbeitgeber angeboten werden kann. Hierbei wird das AMS für das jeweilige Unternehmen im Rahmen der Vorschriften der §§ 2 bis 7 AMFG als Dienstleister tätig und unterliegt somit im Wesentlichen denselben Rechtsvorschriften wie private Arbeitsvermittlungsunternehmen. Davon zu unterscheiden ist die Beratungstätigkeit des AMS für den Arbeitslosen, insbesondere im Rahmen der Aufgaben des AMS nach dem AlVG (vgl. VwGH 24.7.2013, 2011/08/0209, mwN). Es entspricht dem folgend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass dem Verhalten einer arbeitslosen Person im Rahmen eines - vom AMS durchgeführten - Vorauswahlverfahrens nach §§ 9 und 10 AlVG grundsätzlich die gleiche Bedeutung zuzumessen ist wie jenem im Rahmen einer Vorstellung unmittelbar beim potentiellen Dienstgeber (vgl. VwGH 2.4.2008, 2007/08/0008).

13       Die Weigerung, an einem Vorauswahlverfahren teilzunehmen, insbesondere nach Aufforderung durch das AMS in diesem Verfahren eine Bewerbung abzugeben, oder in weiterer Folge die Vereitelung des Zustandekommens des Beschäftigungsverhältnisses kann somit nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG zum Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe führen. Diese Rechtsfolge hat der Verwaltungsgerichtshof - wie die Revision zutreffend darlegt - auch in Fällen bejaht, in denen in der Aufforderung des AMS zur Teilnahme an einem Vorauswahlverfahren (zunächst) der Name des potentiellen Dienstgebers nicht genannt worden war (vgl. VwGH 19.7.2013, 2012/08/0176; 4.9.2013, 2013/08/0101; 25.5.2005, 2004/08/0237).

14       In seinem Erkenntnis vom 11. September 2008, 2007/08/0187, auf das sich das BVwG beruft, hat der Verwaltungsgerichtshof mit Bezug auf ein vom AMS durchgeführtes Vorauswahlverfahren ausgeführt, dass ein Verlangen des AMS, sich um eine Stelle „blind“, d.h. ohne Kenntnis des potentiellen Arbeitgebers, zu bewerben, keine Namhaftmachung einer konkreten Arbeitsgelegenheit im Sinn des § 9 Abs. 1 AlVG darstelle und für den Fall der Weigerung daher auch nicht nach § 10 AlVG sanktioniert werden könne. Dennoch hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Verfahren, obwohl der Name des potentiellen Dienstgebers in der Aufforderung, sich für eine Stelle zu bewerben, nicht angegeben gewesen war, den Ausspruch eines Anspruchsverlustes nach § 10 AlVG mit dem Hinweis darauf bestätigt, dass der Arbeitslose im Zuge der Kontaktaufnahme mit dem AMS ohnehin den potentiellen Arbeitgeber in Erfahrung gebracht habe. Dazu wurde darauf verwiesen, dass das Gesetz eine arbeitslose Person zwar nicht dazu verpflichte, eine unzumutbare Beschäftigung im Sinn der näheren Bestimmungen des § 9 AlVG anzunehmen; das Gesetz verlange aber nicht, dass alle Einzelheiten, die für die Zumutbarkeit einer Beschäftigung von Bedeutung sein könnten, für die arbeitslose Person schon in einer frühesten Stufe der Bewerbung erkennbar sein müssen. Eine arbeitslose Person sei nur insoweit und ab jenem Zeitpunkt zu keinen Bewerbungsschritten (mehr) verpflichtet (und das AMS zum Verlangen nach solchen Schritten nicht berechtigt), in dem solche Umstände einer Beschäftigung zutage träten, welche diese als für eine arbeitslose Person unzumutbar erscheinen ließen. Bei dieser Sachlage sei der Arbeitslose daher verpflichtet gewesen, den ihm vom AMS bezeichneten ersten Schritt zu einer Bewerbung zu setzen und das gewünschte Bewerbungsschreiben für Zwecke einer Vorauswahl in Form eines Lebenslaufes abzugeben; mit einem solchen Schritt sei nämlich für die arbeitslose Person keine weitere besondere Verpflichtung verbunden, insbesondere nicht jene, in weiterer Folge auch eine Beschäftigung anzunehmen, die sich als für sie unzumutbar herausstelle.

15       Entgegen den Ausführungen des BVwG ergibt sich daraus nicht, dass eine arbeitslose Person eine Einladung des AMS zur Teilnahme an einem Vorauswahlverfahren mangels Bekanntgabe des potentiellen Dienstgebers in der Einladung ignorieren dürfte. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 25. Mai 2005, 2004/08/0237, mit Bezug auf ein Vorauswahlverfahren ausgeführt hat, umfasst die Verpflichtung des Arbeitslosen nach der oben dargestellten Rechtsprechung (Rn. 11), ein aktives Handeln zur Erlangung eines Arbeitsplatzes zu setzen, jeden Schritt, der zu Erlangung einer Arbeitsstelle führt. Daher ist eine arbeitslose Person im Zuge eines vom AMS durchgeführten Vorauswahlverfahrens jedenfalls zum ersten Schritt im Auswahlprozess, nämlich nach Aufforderung zur Abgabe einer Bewerbung an das AMS selbst dann verpflichtet, wenn in der Stellenbeschreibung (zunächst) der Name des potentiellen Dienstgebers und der Arbeitsort nicht genannt wurden (vgl. nochmals VwGH 19.7.2013, 2012/08/0176).

16       Das Gesetz verpflichtet eine arbeitslose Person nämlich zwar nicht dazu, eine unzumutbare Beschäftigung im Sinn der näheren Bestimmungen des § 9 AlVG anzunehmen. Nicht erforderlich ist aber, dass alle Einzelheiten, die für die Zumutbarkeit einer Beschäftigung von Bedeutung sein können, für die arbeitslose Person schon in einer frühesten Stufe der Bewerbung erkennbar sein müssen. Vielmehr ist es auch Aufgabe der Arbeitssuchenden, im Zuge der Kontaktaufnahme mit einem potentiellen Arbeitgeber bzw. mit dessen Vertreter oder im Zuge eines Vorauswahlverfahrens mit dem AMS in einer geeigneten (dh. nicht unqualifizierten und im Ergebnis als Vereitelungshandlung anzusehenden) Weise jene Informationen zu erfragen, die zur Beurteilung von persönlicher Eignung und Zumutbarkeit unerlässlich sind. Eine arbeitslose Person ist nur insoweit und ab jenem Zeitpunkt zu keinen Bewerbungsschritten (mehr) verpflichtet (und das AMS zum Verlangen nach solchen Schritten nicht berechtigt), in dem solche Umstände einer Beschäftigung zutage treten, welche diese als für eine arbeitslose Person unzumutbar erscheinen lassen (vgl. VwGH 15.10.2014, 2013/08/0248; 16.11.2011, 2008/08/0240).

17       Mit seiner Ansicht, eine Sanktionierung des Verhaltens des Mitbeteiligten nach § 10 AlVG scheide aus, weil in der Einladung zur Teilnahme am Vorauswahlverfahren der Name des potentiellen Arbeitgebers und der Arbeitsort nicht genannt worden seien, hat das BVwG daher die Rechtslage verkannt.

18       Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am 17. November 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080062.L00

Im RIS seit

13.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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