TE Vwgh Erkenntnis 2021/10/20 Ra 2021/20/0329

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Veröffentlicht am 20.10.2021
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Index

E6J
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
AsylG 2005 §22 Abs10
BFA-VG 2014 §22
BFA-VG 2014 §22 Abs1
BFA-VG 2014 §22 Abs2
BFA-VG 2014 §22 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §28 Abs3
62016CJ0348 Sacko VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des G S in K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juli 2021, W235 2126212-3/5E, betreffend Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, der ursprünglich nach Deutschland zu seinem dort lebenden Bruder gelangen wollte, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in Österreich am 10. September 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er brachte vor, sein Arbeitgeber in Afghanistan gehöre „zu Arbakian - regionale Zivilpolizei von Tagab“. Der Arbeitgeber sei „von den Amerikanern“ durch die Erteilung von Aufträgen finanziell unterstützt worden. Deshalb habe es eine Feindschaft zwischen den Taliban und seinem Arbeitgeber gegeben. Die Taliban hätten auch den Revisionswerber, dem sie vorgeworfen hätten, für die Amerikaner zu arbeiten, bedroht und dahingehend verwarnt, dass er seine Tätigkeit nicht weiter ausüben dürfe. Sie hätten auch vor seinem Fahrzeug Minen verlegt und versucht, ihn umzubringen.

2        Der Antrag blieb erfolglos. Er wurde im Instanzenzug vom Bundesverwaltungsgericht, das das Vorbringen als nicht den Tatsachen entsprechend einstufte, im Oktober 2020 abgewiesen. Es wurde unter einem gegen den Revisionswerber eine Rückentscheidung erlassen (sowie weitere nach dem Gesetz vorgesehene Aussprüche getätigt).

3        Der Revisionswerber war zwischenzeitig straffällig geworden und im Jänner 2019 vom Landesgericht Klagenfurt wegen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt nachgesehen, rechtskräftig verurteilt worden.

4        Der Revisionswerber stellte am 9. November 2020 in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 17. Juni 2021 wurde er gemäß der Dublin III-Verordnung nach Österreich überstellt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hielt in einem Aktenvermerk vom 18. Juni 2021 fest, dass, weil Österreich für die Behandlung des in Deutschland gestellten Antrages zuständig sei, der Antrag nun auch in Österreich als gestellt gelte.

5        In der Erstbefragung führte der Revisionswerber aus, dass er alle Fluchtgründe, die er bereits im Jahr 2014 angegeben habe, aufrecht halte. Diese Gründe lägen immer noch vor. Er könne aus diesen Gründen nicht nach Afghanistan zurückkehren. Er werde dort getötet werden.

6        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte dem Revisionswerber mit Verfahrensanordnung vom 21. Juni 2021 zur Kenntnis, dass beabsichtigt sei, den von ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sowie den faktischen Abschiebeschutz aufzuheben.

7        Mit Schreiben vom selben Tag übersendete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Revisionswerber einen (187 Seiten umfassenden) Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan, das am Deckblatt den Vermerk trägt „Generiert am: 21.06.2021, Version 4“ (aus dem Inhalt ergibt sich, dass die zeitlich zuletzt erfolgten Änderungen am 11. Juni 2021 erfolgt waren), mit dem Hinweis, dass es dem Revisionswerber freistehe, sich bis zu seiner Einvernahme schriftlich oder auch im Rahmen der Vernehmung mündlich zu äußern.

8        Der Revisionswerber wurde am 1. Juli 2021 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vernommen. Der Revisionswerber gab über Befragen, ob neue Beweismittel oder Dokumente vorlägen, an, es gäbe Videos, über die sein in Afghanistan lebender Cousin verfüge. Dieser habe dem Revisionswerber gesagt, dass er nicht zurückkommen solle. Die Videos habe ihm der Cousin noch nicht geschickt. Die Kontaktaufnahme mit dem Cousin sei schwierig, weil „dort“ das Internet nicht funktioniere. Auf dem Video seien seine Feinde zu sehen, wie sie nach dem Revisionswerber gesucht und nach ihm gefragt hätten. Seine Feinde, die Zadran, gehörten zu den Taliban.

9        Am 1. Juli 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den gegenüber dem Revisionswerber mündlich verkündeten Bescheid, womit der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben wurde. Die Behörde führte - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - aus, die allgemeine Lage im Herkunftsstaat habe sich nicht entscheidungswesentlich geändert. Bereits im ersten Verfahren sei dargelegt worden, dass dem Revisionswerber im Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland „keine Verletzung [seiner] Integrität“ drohe. Da sich seit der letzten Entscheidung weder die allgemeine Lage im Herkunftsstaat noch die persönlichen Verhältnisse des Revisionswerbers geändert hätten, werde eine Abschiebung zu keiner Bedrohung der in § 12a Abs. 2 AsylG 2005 genannten Menschenrechte führen. Erkennbar stellte die Behörde dabei auf die in der Niederschrift über die Beurkundung der mündlichen Verkündung des Bescheides wiedergegebenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan ab, wobei dort einleitend ausgeführt wurde, die Feststellungen seien durch die Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl „zusammengestellt“ worden und entsprächen „dem Stand vom 01.07.2021“. Aus dem Inhalt ergibt sich, dass es sich um einen Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan handelte, wobei die zeitlich zuletzt erfolgten Änderungen mit 11. Juni 2021 ausgewiesen werden.

10       Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte in der Folge dem Bundesverwaltungsgericht die Verwaltungsakten vor, was gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 als vom Revisionswerber an dieses Gericht erhobene Beschwerde galt.

11       Das Bundesverwaltungsgericht sprach mit Beschluss vom 13. Juli 2021 aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 22 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) rechtmäßig sei (erkennbar brachte das Bundesverwaltungsgericht damit zum Ausdruck, dass die - vom Gesetz fingierte - Beschwerde des Revisionswerbers abgewiesen und somit der - von Gesetzes wegen - einer Anfechtung unterzogene Bescheid bestätigt wurde; vgl. zu einem gleichartig formulierten Spruch VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0010, Rn. 31). Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

12       In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass dem Vorbringen, wonach ein Video als neues Beweismittel vorliege, kein glaubhafter Kern zukomme. Abgesehen von diesem als unglaubwürdig eingestuften Vorbringen - so das Verwaltungsgericht weiter - habe sich der Revisionswerber ausschließlich auf jene Fluchtgründe bezogen, die er bereits im früheren Verfahren geltend gemacht habe. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass dem Revisionswerber im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden drohe. Selbst wenn er aufgrund der Sicherheitslage nicht in sein Heimatdorf oder in seinen Heimatdistrikt zurückkehren könne, stehe ihm jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung. Er werde dort nicht in eine ausweglose Lage oder in eine existenzbedrohende Situation geraten. Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des Antragstellers seien gegenüber den im rechtskräftig negativ abgeschlossenen Vorverfahren getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sei zu entnehmen, dass die Lage im Herkunftsstaat seit der Entscheidung über den letzten Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht (teilweise wiederholend) aus, die Erwägungen, dass dem Revisionswerber im Fall der Rückkehr nach Afghanistan kein ernsthafter Schaden drohe, gründeten sich auf die Ausführungen im Bescheid, dass die Lage im Herkunftsstaat seit der Entscheidung über den letzten Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Der Revisionswerber sei „den Länderfeststellungen im mündlich verkündeten Bescheid nicht substanziiert entgegengetreten bzw. hat sich diesbezüglich lediglich dahingehend geäußert, dass es in Afghanistan fast jeden Tag Anschläge gebe und er persönliche Feinde habe“.

13       In der rechtlichen Beurteilung stellte das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, dass eine Änderung des maßgeblichen Sachverhalts nicht vorliege, weshalb der Folgeantrag sowohl in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein werde. Da im über den ersten Antrag ergangenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts festgehalten worden sei, dass der Revisionswerber „in den Städten Herat und Mazar-e Sharif (alternativ auch Kabul)“ keine Verletzung (insbesondere) der durch Art. 2 und Art. 3 EMRK geschützten Rechte erleiden würde und ihm dort die Ansiedelung auch zumutbar wäre, im nunmehrigen Verfahren keine Risken für den Revisionswerber hervorgekommen oder behauptet worden seien und „keine erheblichen in der Person des Antragstellers liegende neuen Sachverhaltselemente bekannt geworden“ seien, stelle die Abschiebung des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat für ihn keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention dar und der Eingriff in allfällig bestehende Rechte nach Art. 8 EMRK sei gerechtfertigt. Es bestehe für ihn als Zivilperson auch keine ernsthafte Bedrohung seines Lebens und seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.

14       Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass es mit seiner Entscheidung nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei.

15       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Revision, die das Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt hat. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

16       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

17       Zur Zulässigkeit der Revision wird geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe keine aktuellen Länderinformationen herangezogen und die jüngsten Veränderungen (gemeint: in Afghanistan) gänzlich ignoriert. Aus aktuellen Berichten ergebe sich, dass die Übernahme dieses Landes durch die Taliban bevorstehe. Im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht hätten auch in den ehemals sicheren Gebieten, wie etwa in Herat und Mazar-e Sharif, Kämpfe begonnen. Hätte das Bundesverwaltungsgericht die Informationen aus den aktuellen Berichten berücksichtigt, wäre es zum Ergebnis gekommen, dass eine Neubeurteilung der Lage „im ordentlichen Verfahren“ erfolgen müsse. Daher hätte die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nicht bestätigt werden dürfen.

18       Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

19       § 12a Abs. 2 und § 22 Abs. 10 AsylG 2005 lauten:

„Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen

§ 12a. (1) ...

(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1.   gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2.   der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3.   die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) ...

...

Entscheidungen

§ 22. ...

(10) Entscheidungen des Bundesamtes über die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 ergehen mündlich in Bescheidform. Die Beurkundung gemäß § 62 Abs. 2 AVG gilt auch als schriftliche Ausfertigung gemäß § 62 Abs. 3 AVG. Die Verwaltungsakten sind dem Bundesverwaltungsgericht unverzüglich zur Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG zu übermitteln. Diese gilt als Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht; dies ist in der Rechtsmittelbelehrung anzugeben. Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG mit Beschluss zu entscheiden.

...“

20       § 22 BFA-VG hat folgenden Wortlaut:

„Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes

§ 22. (1) Eine Entscheidung des Bundesamtes, mit der der faktische Abschiebeschutz eines Fremden aufgehoben wurde (§ 12a Abs. 2 AsylG 2005), ist vom Bundesverwaltungsgericht unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen. Das Verfahren ist ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. § 20 gilt sinngemäß. § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG ist nicht anzuwenden.

(2) Die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 und eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG sind mit der Erlassung der Entscheidung gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durchsetzbar. Mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung umsetzenden Abschiebung gemäß § 46 FPG ist bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuzuwarten. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt unverzüglich vom Einlangen der Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung und von der im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 getroffenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes zu verständigen.

(3) Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 hat das Bundesverwaltungsgericht binnen acht Wochen zu entscheiden.“

21       Zunächst kann betreffend die Kriterien für diese vom Bundesverwaltungsgericht vorzunehmende Prüfung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Dezember 2018, Ra 2018/19/0010, verwiesen werden.

22       Hervorzuheben ist im vorliegenden Zusammenhang, dass § 22 Abs. 1 BFA-VG unionsrechtskonform so zu verstehen ist, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar ohne Verhandlung entscheiden kann, diese Norm aber kein „Verhandlungsverbot“ statuiert, sondern dem Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit offen lässt, erforderlichenfalls eine Verhandlung durchzuführen, zumal der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Rechtsprechung betont hat, dass der nationale Gesetzgeber das Gericht nicht daran hindern darf, eine Anhörung anzuordnen, wenn es die bei der persönlichen Anhörung des Fremden im erstinstanzlichen Verfahren erlangten Informationen für unzureichend hält und deshalb eine solche Anhörung als erforderlich ansieht, um eine umfassende, sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckende ex nunc-Prüfung vorzunehmen (vgl. VwGH Ra 2018/19/0010, Rn. 34).

23       Weiters ist für den vorliegenden Fall als maßgeblich anzusehen, dass nach der Rechtsprechung der Gesetzgeber - auch wenn es dem Bundesverwaltungsgericht nicht untersagt ist, eine Verhandlung durchzuführen oder sonst ergänzende Ermittlungen vorzunehmen - mit den in § 22 Abs. 1 und Abs. 3 BFA-VG enthaltenen Anordnungen, wonach über die vom Gesetz fingierte Beschwerde ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden ist, eine auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG gestützte Zurückverweisung nicht ergehen darf und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes binnen acht Wochen zu ergehen hat, vor Augen hatte, dass im Rahmen der bei der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes vorzunehmenden Grobprüfung die Ergänzung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht die Ausnahme bleiben soll. Aus den Bestimmungen des § 22 AsylG 2005 und § 22 BFA-VG ergibt sich das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, dass die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht in erster Linie anhand des Ergebnisses der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bis dahin vorgenommenen Ermittlungen zu erfolgen hat. Lässt dieses Ermittlungsergebnis aber die einwandfreie Beurteilung im Rahmen der Grobprüfung nicht zu, sondern bedarf es dafür erheblicher ergänzender Ermittlungen, kann diese von der Behörde zu vertretende Mangelhaftigkeit nicht zum Nachteil des Fremden ausschlagen (vgl. VwGH Ra 2018/19/0010, Rn. 38).

24       Das Bundesverwaltungsgericht hat sich bei seiner Beurteilung, ob eine Rückführung des Revisionswerbers nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung (u.a.) von Art. 2 oder Art 3 EMRK bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, in Bezug auf die Lage in diesem Staat allein auf die Feststellungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gestützt. Ausgehend davon hat es das Vorliegen einer solchen Gefahr und die Notwendigkeit der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrages auch in Bezug auf das Begehren des Revisionswerbers, ihm subsidiären Schutz zu gewähren, verneint, weil es seit Abschluss des ersten Asylverfahrens keine entscheidungswesentlichen Veränderungen in diesem Land gegeben habe.

25       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat (auch) das Bundesverwaltungsgericht der Beurteilung der Lage im Herkunftsstaat die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. etwa VwGH 12.5.2021, Ra 2020/18/0275, mwN).

26       Das ist auch im Verfahren über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes zu beachten, weil sich - worauf bereits oben hingewiesen wurde - auch in diesem Verfahren die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung zu beziehen hat. Dass die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht in erster Linie anhand des Ergebnisses der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bis dahin vorgenommenen Ermittlungen zu erfolgen hat, bedeutet nicht, dass sich das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung selbst dann allein auf die Feststellungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl stützen dürfte, wenn sich diese als unrichtig, unvollständig oder überholt darstellen. Ob insoweit die Ergänzung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhalts vom Bundesverwaltungsgericht durchzuführen ist oder die Notwendigkeit erheblicher ergänzender Erhebungen dazu führt, dass im Rahmen der im Verfahren betreffend Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes vorzunehmenden Grobprüfung eine einwandfreie Beurteilung nicht (mehr) möglich und infolgedessen der (von Gesetzes wegen in Beschwerde gezogene) Bescheid (ersatzlos) aufzuheben ist, ist letztlich anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

27       Der Revisionswerber verweist hinsichtlich der Sicherheitslage in Afghanistan darauf, dass im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht bereits - diesem Gericht auch zugängliche - Informationen vorgelegen seien, anhand derer das Verwaltungsgericht, hätte es diese berücksichtigt, von zu dieser Zeit in Afghanistan instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen hätte ausgehen müssen, sodass auch die zeitlich nicht lange zurückliegende - sich insgesamt auf dem Stand vom 11. Juni 2021 befindende (und somit im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts etwa einen Monat alte) - Berichtslage, die das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl für seine Entscheidung herangezogen hatte, ihre Aktualität in für die Entscheidung maßgeblichen Teilen bereits verloren gehabt habe. Der Revisionswerber vermag in diesem Zusammenhang aufzuzeigen, dass die Berücksichtigung der in den von ihm zitierten Berichten enthaltenen (neueren) Informationen - etwa betreffend (beginnende) Kampfhandlungen nächst den vom Bundesverwaltungsgericht als sicher bezeichneten Städten - zur Abstandnahme von der Zurückweisung des Folgeantrages, zumindest in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz, führen könnte. Ausgehend davon wird in der Revision auch hinreichend dargetan, dass das Verwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren schon im Hinblick auf die - für die Zulässigkeit der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes wesentliche - Beurteilung der Frage, ob es im Zeitpunkt seiner Entscheidung (allenfalls: weiterhin) auf der Hand gelegen sei, dass der Antrag auf internationalen Schutz (insgesamt) zurückgewiesen werden würde, zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, wenn es bei seiner Entscheidung aktuellere Berichte einbezogen hätte.

28       Da das Bundesverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage davon ausgegangen ist, es sei im vorliegenden Fall ausreichend, die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgenommenen Erwägungen bloß anhand des von dieser Behörde festgestellten Sachverhalts prüfen, war der angefochtene Beschluss wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

29       Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014

Wien, am 20. Oktober 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62016CJ0348 Sacko VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200329.L00

Im RIS seit

17.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

30.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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