TE Vwgh Erkenntnis 2021/10/20 Ra 2021/20/0309

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Veröffentlicht am 20.10.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §10 Abs1
AVG §10 Abs2
AVG §13 Abs3
AVG §37
AVG §63 Abs1
B-VG Art131 Abs1
B-VG Art133 Abs6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §7
VwGVG 2014 §9 Abs1 Z1
VwRallg

Beachte


Serie (erledigt im gleichen Sinn):
Ra 2021/19/0307 E 17.12.2021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des J S in L, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Jänner 2021, W242 2216745-1/14E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der im Oktober 1996 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste gemeinsam mit seinen Eltern und vier Geschwistern unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte - wie auch seine Verwandten - am 16. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 15. Februar 2019 ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Mit Schreiben vom 27. März 2019 legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bundesverwaltungsgericht den den Revisionswerber betreffenden Verwaltungsakt vor. Die Behörde ging davon aus, dass der Revisionswerber gegen den Bescheid vom 15. Februar 2019 - wie auch dessen Verwandte gegen die sie betreffenden Bescheide - Beschwerde erhoben hatte.

4        Das Bundesverwaltungsgericht führte eine Verhandlung durch, zu der auch der Revisionswerber vorgeladen worden war. Darin erklärte der die Verhandlung leitende Richter, der Revisionswerber sei ausschließlich deswegen zur Verhandlung geladen worden, um abklären zu können, ob die Voraussetzungen „für das Familienverfahren“ vorlägen. Der bei der Verhandlung anwesende Vertreter des Revisionswerbers gab dazu an, er habe sich schon bei der Vorbereitung (auf die Verhandlung) gedacht, dass „das kein zusammenhängendes Verfahren“ sei. Er höre „das“ (erkennbar bezog sich der Vertreter auf die Frage des Richters, warum der Vertreter davon ausgehe, es handle sich um ein Familienverfahren im Sinn des § 34 Asyl 2005) zum ersten Mal.

5        Das Verwaltungsgericht wies mit Beschluss vom 22. Jänner 2021 die „vorgelegte Beschwerde“ wegen Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zurück. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Verwaltungsakt des Revisionswerbers mit einer Beschwerdeschrift vorgelegt worden sei, mit der ausschließlich der im Verfahren der Mutter des Revisionswerbers ergangene Bescheid angefochten worden sei. Gegen jenen Bescheid, der im den Revisionswerber betreffenden Asylverfahren ergangen sei, sei keine „eigene“ Beschwerde eingebracht worden. In den Beschwerdeausführungen werde immer nur der an die Mutter gerichtete Bescheid erwähnt. Zwar werde an manchen Stellen inhaltlich auf die gesamte Familie Bezug genommen. Es sei aber lediglich darauf hingewiesen worden, dass es sich um ein Familienverfahren im Sinn des § 34 AsylG 2005 handle. Der Revisionswerber sei im Zeitpunkt der Antragstellung bereits volljährig gewesen. Die Bestimmungen, die auf das Familienverfahren abstellen, seien daher in seinem Fall nicht anzuwenden. Da eine vom Revisionswerber erhobene Beschwerde nicht vorliege, sei das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung über eine solche nicht zuständig. Mit seiner Spruchformulierung, die „vorgelegte Beschwerde“ werde zurückgewiesen, brachte das Bundesverwaltungsgericht in diesem Sinn zum Ausdruck, dass es mit seiner Entscheidung endgültig ablehnte, eine dem Revisionswerber zurechenbare Beschwerde in inhaltliche Behandlung zu nehmen.

7        Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass es sich auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und eine ohnehin klare Rechtslage habe stützen können.

8        Der Revisionswerber erhob gegen diesen Beschluss Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung derselben mit Beschluss vom 8. Juni 2021, E 763-764/2021-7, ablehnte und sie über gesonderten Antrag mit Beschluss vom 9. August 2021, E 763-764/2021-10, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

9        Nach Vorlage der Revision sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht wurde vom Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

11       Der Revisionswerber macht - mit näherer Begründung - zur Zulässigkeit der Revision geltend, aus dem in Rede stehenden Schriftsatz ergebe sich, dass (auch) er Beschwerde erhoben habe, wobei er zweifelsfrei den gegenüber ihm erlassenen Bescheid bekämpft habe.

12       Die Revision ist aufgrund dieses Vorbringens zulässig. Sie ist auch begründet.

13       Festzuhalten ist eingangs zur Frage der Legitimation, Revision erheben zu dürfen, dass nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur vor dem 1. Jänner 2014 geltenden Rechtslage des VwGG demjenigen, der behauptete, die belangte Behörde habe eine Berufung unrichtigerweise nicht ihm, sondern einer anderen Person zugerechnet und deshalb zurückgewiesen, das Recht zustand, gegen diesen Bescheid Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zu erheben (vgl. VwGH 13.12.2000, 2000/03/0336, mwN). Diese Rechtsprechung ist auch auf die seit dem 1. Jänner 2014 geltende Rechtslage des VwGG in Bezug auf die Anfechtung von Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu übertragen, weil die insofern maßgeblichen Bestimmungen keine Änderung erfahren haben (vgl. etwa in diesem Sinn die Zulässigkeit einer solchen Revisionslegitimation voraussetzend VwGH 29.9.2016, Ra 2016/05/0044, 0045).

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kann die in vertretbarer Weise vorgenommene fallbezogene Auslegung von Parteierklärungen nicht erfolgreich mit Revision bekämpft werden. Einer vertretbaren Auslegung kommt keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu. Die Auslegung einer Erklärung im Einzelfall ist nur dann erfolgreich mit Revision bekämpfbar, wenn dem Verwaltungsgericht eine krasse Fehlbeurteilung im Sinn einer unvertretbaren Rechtsansicht unterlaufen ist (vgl. etwa VwGH 28.4.2021, Ra 2019/04/0138, mwN).

15       Bei der Auslegung von Parteianbringen kommt es auf das aus diesen erkennbare und erschließbare Ziel des Einschreiters an; Parteierklärungen und damit auch Anbringen sind ausschließlich nach ihrem objektiven Erklärungswert auszulegen. Dem Geist des AVG ist ein übertriebener Formalismus fremd, weswegen auch bei der Auslegung von Parteianbringen im Sinn des § 13 AVG kein streng formalistischer Maßstab anzulegen ist. Wenn sich der Inhalt eines von einer Partei gestellten Anbringens als unklar erweist, ist die Behörde entsprechend den ihr gemäß § 37 in Verbindung mit § 39 AVG obliegenden Aufgaben verpflichtet, den Antragsteller zu einer Präzisierung seines Begehrens aufzufordern (vgl. etwa VwGH 2.10.2019, Ra 2019/12/0040, mwN).

16       Bei dieser Beurteilung kommt es darauf an, wie die Erklärung unter Berücksichtigung der konkreten gesetzlichen Regelung, des Verfahrenszweckes und der der Behörde vorliegenden Aktenlage objektiv verstanden werden muss. Im Zweifel muss davon ausgegangen werden, dass eine Partei nicht einen von vornherein sinnlosen Antrag stellt (vgl. auch dazu VwGH Ra 2019/12/0040, mwN).

17       Das Verwaltungsgericht ist immer dann, wenn nicht eindeutig klar ist, wem ein Rechtsmittel zuzurechnen ist, verpflichtet, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wer Rechtsmittelwerber ist. Hat das Verwaltungsgericht jedoch keine diesbezüglichen Zweifel, hat es weder weitere Ermittlungen im Sinn des § 37 AVG noch ein Verbesserungsverfahren nach § 13 Abs. 3 AVG durchzuführen. Rechtsmitteln ist im Zweifel eine Deutung zu geben, die dem darin zum Ausdruck kommenden Rechtsschutzbedürfnis soweit wie möglich entgegen kommt (vgl. VwGH 29.5.2019, Ra 2018/06/0179, mwN).

18       Im hier in Rede stehenden Schriftsatz wird (auch) der Revisionswerber ausdrücklich als Beschwerdeführer benannt. Jene Aktenzahl, unter der sein Verfahren beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl registriert ist und die sich auch am an ihn gerichteten Bescheid findet, wird ausdrücklich im Zusammenhang mit seiner Eigenschaft als Beschwerdeführer angeführt. Der Schriftsatz wurde vom bevollmächtigten Vertreter ausdrücklich (auch) namens des Revisionswerbers eingebracht, als Beschwerde bezeichnet und gezeichnet. Im Beschwerdeschriftsatz finden sich inhaltliche Ausführungen, die auf alle im Schreiben angeführten Beschwerdeführer, somit auch den Revisionswerber, Bezug nehmen. Dem Beschwerdeschriftsatz wurde (auch) eine vom Revisionswerber unterzeichnete Vollmacht angeschlossen, nach deren Inhalt der Vertreter bevollmächtigt wurde, den Revisionswerber im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu vertreten, und die Vollmacht (erst) mit der Übermittlung des das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beendenden Erkenntnisses oder Beschlusses erlöschen soll.

19       Vor diesem Hintergrund besteht nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes kein Zweifel, dass mit dem fraglichen, für mehrere Personen gemeinsam abgefassten Schriftsatz des bevollmächtigten Vertreters (auch) für den Revisionswerber gegen den in seinem Verfahren erlassenen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben wurde. Auf die vom Bundesverwaltungsgericht ins Treffen geführten Umstände, dass in diesem Schriftsatz in den weiteren Ausführungen regelmäßig (allerdings auch insofern erkennbar bloß stellvertretend für sämtliche an alle als Beschwerdeführer bezeichneten Personen ergangenen Bescheide) nur der Bescheid der Mutter genannt und auf das - im Fall des Revisionswerbers aber nicht anwendbare - Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 hingewiesen wurde, kommt es in Anbetracht des Gesagten nicht entscheidungswesentlich an (vgl. etwa VwGH 2.5.2018, Ra 2017/02/0254, wonach selbst das gänzliche Fehlen der Anführung der Geschäftszahl, wenn keine sonstigen Zweifel darüber bestehen, welchen Bescheid der Beschwerdeführer bekämpfen wollte, nicht zur Zurückweisung berechtigt).

20       Selbst wenn Zweifel an der Zurechenbarkeit der Beschwerde (auch) an den Revisionswerber berechtigt gewesen wären, wäre das Bundesverwaltungsgericht verpflichtet gewesen, sich Klarheit darüber, ob mit den fraglichen Ausführungen (auch) eine Anfechtung des an den Revisionswerber ergangenen Bescheides beabsichtigt gewesen wäre, zu verschaffen. Das Bundesverwaltungsgericht ist dem aber nur mangelhaft nachgekommen, weil es im Rahmen der von ihm durchgeführten Verhandlung lediglich die Frage einer Klärung zugeführt hatte, ob in Bezug auf den Revisionswerber die Vorschriften des asylrechtlichen Familienverfahrens zur Anwendung zu gelangen hätten.

21       Indem das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeschriftsatz eine Bedeutung beigemessen hat, die mit dem damit zweifelsfrei erkennbar verfolgten Ziel nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, hat es seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Der angefochtene Beschluss war daher aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

22       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

23       Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. Oktober 2021

Schlagworte

Individuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Vertretungsbefugnis Inhalt Umfang Rechtsmittel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200309.L00

Im RIS seit

30.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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