TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/30 W251 2216621-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

30.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W251 2216621-1/14E

W251 2216622-1/14E

W251 2216618-1/16E
W251 2216619-1/14E

Schriftliche Ausfertigung des am 24.03.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , 2) XXXX , geb. XXXX , 3) XXXX , geb. XXXX und 4) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.02.2019, 1) Zl. 1127648009-161180970, 2) Zl. 1127647709-161180953, 3) Zl. 1127647208-161180961 und 4) Zl. 1166521008-171018959, nach Durchführung einer Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Drittbeschwerdeführer, allesamt Staatsangehörige Afghanistans, reisten in das Bundesgebiet ein und stellten am 26.08.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin nach traditionell-islamischem Ritus verheiratet. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben zwei leibliche Söhne, den Drittbeschwerdeführer sowie den bereits in Österreich geborenen Viertbeschwerdeführer.

2. Die niederschriftlichen Erstbefragungen des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fanden am 26.08.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.

Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinem Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, er habe gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin die Heimat verlassen, weil die Familie der Zweitbeschwerdeführerin seinen Heiratsantrag abgelehnt habe. Die Zweitbeschwerdeführerin sei von ihm schwanger geworden, sie seien dann vor der Familie der Zweitbeschwerdeführerin geflüchtet. Im Iran habe er sich nach islamischem Ritus mit der Zweitbeschwerdeführerin vermählen lassen.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihrem Fluchtgrund befragt an, an der Universität in Kabul den Erstbeschwerdeführer kennengelernt und dann von diesem schwanger geworden zu sein. Sie habe dann – bevor ihre Familie von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangte - gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer Afghanistan verlassen und habe sich dann im Iran mit dem Erstbeschwerdeführer trauen lassen. Sie sei vor ihrer Familie geflüchtet.

3. Der Viertbeschwerdeführer wurde am XXXX in Österreich geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin stellte als gesetzliche Vertreterin für den Viertbeschwerdeführer am 28.08.2017 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

4. Am 11.01.2019 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge Bundesamt) niederschriftlich zu ihren Fluchtgründen und den Fluchtgründen des Dritt- und Viertbeschwerdeführers einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass er während seines Studiums in Kabul die Zweitbeschwerdeführerin kennengelernt habe. Als diese dann von ihm schwanger wurde, habe er gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin Afghanistan verlassen. Die beiden Brüder der Zweitbeschwerdeführerin seien Polizisten, diese würden den Erstbeschwerdeführer finden und töten.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zusammengefasst an, dass ihr Vater in Afghanistan sehr streng und brutal gewesen sei. Dieser habe die Zweitbeschwerdeführerin sowie deren Geschwister misshandelt und geschlagen. Während ihres Studiums in Kabul habe sie den Erstbeschwerdeführer kennengelernt und sei von diesem schwanger geworden. Wenn die Familie der Zweitbeschwerdeführerin von ihrer Schwangerschaft erfahren hätte, hätte diese die Zweitbeschwerdeführerin getötet. Folglich seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin aus Afghanistan ausgereist.

Hinsichtlich des Dritt- und Viertbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

5. Das Bundesamt wies die Anträge der Erst- bis Viertbeschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Es bestehe zudem kein schutzwürdiges Privatleben der Beschwerdeführer in Österreich welches einen Verbleib im Bundesgebiet rechtfertigen würde.

6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass die vom Bundesamt beigezogenen Länderfeststellungen mangelhaft seien, auch die Beweiswürdigung und die darauf gegründeten Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates seien mangelhaft. Dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin drohe in Afghanistan sehr wohl Verfolgung aufgrund der unzulässigen Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin vom Erstbeschwerdeführer.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Den Beschwerdeführern wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide (Zuerkennung des Status von Asylberechtigten) wurden abgewiesen.

12. Mit Schreiben vom 07.04.2021 beantragten die Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des am 24.03.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben zwei leibliche Söhne, den Drittbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt sowie den Viertbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 Erstbefragung = EB S. 1, niederschriftliche Einvernahme = EV S. 1; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 EB S. 1, EV S. 1 f; Verwaltungsakt des Drittbeschwerdeführers – BF 3 EB S. 1, EV S. 1; Verwaltungsakt des Viertbeschwerdeführers – BF 4 AS 9, EV, S. 1; Verhandlungsprotokoll vom 24.03.2021 = VP S. 9, 21).

Die Beschwerdeführer wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni im Dorf XXXX in Afghanistan geboren und ist dort im Haus seines Vaters aufgewachsen. Neben seinen Eltern hat der Erstbeschwerdeführer noch zwei Brüder und vier Schwestern. Er hat zwölf Jahre lang eine Schule besucht und anschließend ein Universitätsstudium in Kabul begonnen. Während seines Studiums hat der Erstbeschwerdeführer als Parkwächter gearbeitet (BF 1 EB S. 1 f, EV S. 6 VP S. 15).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Kabul in Afghanistan geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat vier Brüder und drei Schwestern. Die Zweitbeschwerdeführerin hat in Kabul zwölf Jahre lang eine Schule besucht und anschließend ein Universitätsstudium begonnen, während ihrer Schulzeit hat diese auch Teppiche geknüpft und einen Kurs als Schneiderin belegt (BF 2 EB S. 1, EV S. 6, VP S. 23, 25).

1.1.4. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan nach traditionell-islamischem Ritus vor einem Mullah geheiratet. Die Hochzeit zwischen dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin wurde von den Eltern der Beschwerdeführer auch akzeptiert (BF1 EV S. 5; BF 2 EV S. 5 f VP S. 10, 13, 19, 21, 31).

1.1.5. Der Drittbeschwerdeführer wurde nach der Hochzeit des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan geboren und ist dort – bis zu seiner Ausreise nach Europa – aufgewachsen (VP S. 19, 25; BF 1 u. BF 2 EB S. 3).

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Drittbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist. Der Viertbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer stellten am 26.08.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Für den Viertbeschwerdeführer wurde am 28.08.2017 durch die als gesetzliche Vertreterin befugte Zweitbeschwerdeführerin gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz gestellt (BF1 – BF3 EB S. 1; BF4 AS 82)

1.1.6. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers lebt in Pakistan, er verfügt über keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan. Zwischen dem Erstbeschwerdeführer und seiner in Pakistan lebenden Kernfamilie besteht kein intensives Kontaktverhältnis. Der letztmalige telefonische Kontakt zu seiner Familie fand sechs Monate vor der mündlichen Verhandlung statt. Weitere Familienangehörige oder Kontaktpersonen hat der Erstbeschwerdeführer in Afghanistan nicht (VP S. 14).

Die finanzielle Situation der Familie des Erstbeschwerdeführers in Afghanistan war ursprünglich gut, diese besaßen bis zu deren Ausreise nach Pakistan in deren Herkunftsprovinz Ghazni ein Eigentumshaus, ein Geschäftslokal sowie landwirtschaftliche Grundstücke (BF 1 EV S. 7; VP. S. 14, 15).

1.1.7. Die Eltern, die Geschwister sowie der Onkel väterlicherseits und die Tanten mütterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin leben weiterhin in Kabul in Afghanistan. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zudem auch Cousins in Afghanistan. Die Zweitbeschwerdeführerin steht mit ihrer in Kabul lebenden Kernfamilie weiterhin in Kontakt.

Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin verfügt in Kabul über ein Eigentumshaus sowie über landwirtschaftliche Grundstücke in der Provinz Bamiyan (VP S. 26).

1.1.8. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig (VP S. 7). Der Drittbeschwerdeführer leidet – ob seines Alters von sechs Jahren – an Sprachproblemen (VP S. 29).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin führten in Afghanistan keine außereheliche Beziehung. Diese wurden nicht verdächtigt eine außereheliche Beziehung geführt oder gegen die Scharia verstoßen zu haben.

Der Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind eheliche Kinder. Diese werden in Afghanistan nicht verdächtigt uneheliche Kinder zu sein.

Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin war mit der Beziehung und Heirat zwischen dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin und mit der Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin vom Erstbeschwerdeführer einverstanden.

1.2.2. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde weder ihrem Cousin versprochen noch wurde diese von ihrer Familie zwangsverlobt.

1.2.3. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurde in Afghanistan nicht körperlich angegriffen, sie werden auch nicht von der Familie der Zweitbeschwerdeführerin bedroht oder gesucht.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.4. Die Beschwerdeführer hatten in Afghanistan keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.

Die Beschwerdeführer sind aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara weder Angriffen in die körperliche Unversehrtheit noch Diskriminierungen ausgesetzt.

1.2.5. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

1.2.6. Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie verfügt – unter Berücksichtigung ihres nahezu fünfjährigen Aufenthaltes in Österreich – nur über geringe Deutschkenntnisse, kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie ist überwiegend an ihrem Mann, der Kindererziehung sowie an der Haushaltsführung orientiert.

Die Zweitbeschwerdeführerin führt in Österreich keine derartige („westliche“) Lebensweise oder hat eine solche verinnerlicht, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in urbanen Zentren in Afghanistan, nämlich in der Hauptstadt Kabul, darstellt.

1.2.7. Dem Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es möglich, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Der Drittbeschwerdeführer wurde als eheliches Kind geboren.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn dem Dritt- bzw. dem Viertbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden den Dritt- und Viertbeschwerdeführer in Kabul in die Schule schicken und diesen eine Schulbildung ermöglichen. Dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer droht in Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt Kabul kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Sicherheitslage.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können in der Stadt Kabul ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer sind mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können für ihr Auskommen und Fortkommen selber sorgen.

Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin somit möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer ist es möglich, in der Stadt Kabul eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Schule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen.

Dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer droht in der Stadt Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht diesen dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe, Entführungen oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände.

Der Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind noch unmündige Minderjährige. Diese können ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage derzeit nicht möglich, den notwendigen Lebensunterhalt für den Dritt- und Viertbeschwerdeführer in der Stadt Kabul ausreichend sicher zu stellen.

Es ist dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer somit nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Drittbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 26.08.2016 durchgehend in Österreich auf. Der Viertbeschwerdeführer wurde bereits in Österreich geboren.

Die Beschwerdeführer haben in Österreich keine Verwandten, haben jedoch freundschaftliche Kontakte knüpfen können (VP S. 17, 28). Es bestehen jedoch keine Abhängigkeiten zu diesen.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

1.4.1. Der Erstbeschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer hat Deutsch- und Integrationskurse besucht und die Deutschprüfung des ÖIF für die Stufe B1 am 04.02.2020 bestanden. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse um in grundlegenden Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren (Urkundenvorlage in der OZ 9, VP, S. 16)

Der Erstbeschwerdeführer hat neben dem Besuch eines Fitnesscenters auch an einem Schwimmkurs teilgenommen (Urkundenvorlage in der OZ 9; AS 47).

Der Erstbeschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung, er arbeitet jedoch fallweise im Rahmen von Dienstleistungschecks für private Arbeitgeber (Verhandlungsvorbereitung grüne Mappe; VP S. 16).

Der Erstbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.2. Die Zweitbeschwerdeführerin:

Die Zweitbeschwerdeführerin hat Deutsch- und Integrationskurse besucht und die Deutschprüfung des ÖIF für die Stufe A2 am 08.02.2020 bestanden. Sie verfügt über geringe Deutschkenntnisse (Urkundenvorlage in der OZ 9; AS 26)

Die Zweitbeschwerdeführerin geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (VP, S. 27).

Sie ist keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgegangen und ist kein Mitglied in einem Verein (VP S. 26 f).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.3. Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer:

Der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer besuchen den Kindergarten (Urkundenvorlage in der OZ 9; VP, S. 16 f, 26 f)

Der Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind in Österreich aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 16.12.2020 (LIB)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (EASO)

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Frauen in urbanen Zentren)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Anzahl der Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Kinderarbeit und Ausbeutung)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Kinderehen und Zwangsehen)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Sicherheitslage für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Zugang zu Lebensmitteln)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Sexueller Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Erpresserische Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Erpresserische Entführungen von Kindern)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Kinderschutzprogramme)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder)

-        Analyse der Staatendokumentation, Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan vom 25.06.2020 (Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen)

1.5.1. Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

1.5.2. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

1.5.3. COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf., einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

1.5.4. Aktuelle Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tageslöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

1.5.5. Medizinische Versorgung:

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 23.1.).

1.5.6. Religion:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

1.5.7. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).

1.5.8. Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).

1.5.9. Frauen

Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt (Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 - S. 10).

Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung – diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten „Manteau shalwar“ tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten (Frauen in urbanen Zentren, S. 2).

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an.

Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten (Frauen in urbanen Zentren, S. 22). In urbanen Zentren werden zudem vermehrt Freizeitangebote speziell für Frauen angeboten (Frauen in urbanen Zentren, S. 29 ff). Im Jahr 2017 machten Frauen 29% der Erwerbsbevölkerung in Afghanistan aus (Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen, S. 15).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB Kapitel 17).

1.5.10. Kinder

Die Stadt Kabul hat über vier Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl für die Stadt Herat beträgt 507.000 Einwohner, für die Stadt Mazar-e Sharif 428.000 Einwohner. In der Provinz Kabul sind ca. 41% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 24% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 18% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Herat sind ca. 49% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 20% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 15% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 13% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Balkh (Hauptstadt Mazar-e Sharif) sind ca. 44% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 22% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 17% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.05.2019 betreffend die Anzahl der Kinder).

Sicherheitslage für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif

Im Jahr 2018 waren 28% aller zivilen Opfer Kinder (3.062 Opfer – 927 Tote und 2.135 Verletzte), davon waren 71% Buben und 27% Mädchen. 39% der Opfer unter Kinder gehen auf Bodeneinsätze zurück, 17% auf improvisierte Bomben (Nicht-Selbstmord), 16% auf Luftangriffe, 14% auf explosive Kampfmittelrückstände, 9% auf Selbstmord- und komplexe Angriffe und 3% auf die Taliban (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 09.05.2019 betreffend Sicherheitslage für Kinder, S. 26 f). Die Sicherheitslage in den einzelnen Polizeidistrikten Kabuls hängt davon ab, ob es sich um Wohngebiete oder um Distrikte mit Regierungsstandorten, Sicherheitseinrichtungen (Militärakademie), ausländischen Organisationen oder um Gebiete an wichtigen Infiltrationswegen der Aufständischen oder der Autobahn handelt. In Distrikten mit wichtigen Einrichtungen ist die Präsenz der Sicherheitskräfte entsprechend hoch. Reine Wohngebiete sind relativ sicher. Die allgemeine Kriminalität ist in vielen Distrikten Kabuls hoch (Sicherheitslage für Kinder, S. 29 ff). In Kabul und Herat kam es zu Angriffen auf Ausbildungseinrichtungen und Schülerinnen (Sicherheitslage für Kinder, S. 36, 40).

Im Jahr 2018 gab es 492 Opfer (150 Tote und 342 Verletzte) durch explosive Kampfmittelrückstände im gesamten Staatsgebiet Afghanistans, was einer Abnahme an Opfern um 23% gegenüber dem Jahr 2017 entspricht. Der Rückgang geht auf Faktoren wie der Bergung von explosiven Kampfmittelrückständen auf Schlachtfeldern, kombiniert mit Aufklärungsprogrammen und der Markierung von vermuteten Gefahrenbereichen zurück. Kinder wurden überproportional Opfer von explosiven Kampfrückständen. Im Jahr 2018 machten sie 87% aller Opfer aus (136 Tote und 290 Verletzte) (Sicherheitslage für Kinder, S. 3). Die meisten Opfer von explosiven Kampfmittelrückständen im Jahr 2018 sind in Afghanistan auf kürzlich stattfind

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten