TE Bvwg Beschluss 2021/10/7 W131 2179479-1

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Veröffentlicht am 07.10.2021
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Entscheidungsdatum

07.10.2021

Norm

VwGG §25a Abs2 Z1
VwGG §30 Abs2

Spruch



W131 2179479-1/47E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. GRASBÖCK über den Antrag von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, der gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.06.2021, XXXX , betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG, erhobenen außerordentlichen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl):

Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antrag stattgegeben.


Text


BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1.       Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 07.06.2021, XXXX , wies das Bundesverwaltungsgericht eine gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 17.11.2017 erhobene Beschwerde ab und sprach aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Gegen diese Entscheidung erhob die revisionswerbende Partei mit Schriftsatz vom 28.09.2021 eine außerordentliche Revision.

2.       Zum Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung führte die revisionswerbende Partei Folgendes an:

„Gem. § 30 Abs. 2 VwGG hat bis zur Vorlage das Verwaltungsgericht, ab Vorlage der Revision der VwGH auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.

Die gegenständliche Entscheidung des BVwG ist in Rechtskraft erwachsen und einem Vollzug zugänglich. Ihre Umsetzung – konkret die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan – würde jedenfalls unverhältnismäßig in dessen Rechtsposition eingreifen, da der Rechtsschutz nicht mehr effektiv wäre.

Wie oben umfassend ausgeführt, droht dem Revisionswerber im Falle einer Rückkehr jedenfalls unmittelbar die Verletzung seiner in Art. 2 und Art. 3 EMRK geschützten Rechte, was durch das BVwG völlig verkannt wurde. Eine Neuansiedlung des BF in Afghanistan ist dem Revisionswerber vor dem Hintergrund der persönlichen und objektiven Umstände entgegen der Ansicht des BVwG nicht möglich und zumutbar, dies selbst in XXXX oder auf einem anderen Ort in Afghanistan.

Das UNHCR geht in der aktuellen Stellungnahme vom 20. August 2021 u.a. vom Folgenden aus:

„(…). Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. (…).

Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern.3 UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung (…).

Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren (…). Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind. (…).

Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage (…) fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann. (…).“

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen bringen laufend aktuelle Berichte zu der Lage in Afghanistan, die jedenfalls darauf hindeuten, dass dem Revisionswerber – u.a. auch wegen seiner Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Hazara – im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr droht, in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK verletzt zu werden:

• https://www.hrw.org/de/news/2021/08/16/afghanistan-gefaehrdete-zivilistinnen-brauchen-evakuierung-und-schutz ;

• https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/afghanistan-taliban-hebeln-menschenrechte-aus ;

• https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/08/afghanistan-taliban-responsible-for-brutal-massacre-of-hazara-men-new-investigation/ ,

• https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/afghanistan-neuste-entwicklungen/ticker

Ebenso diverse Medien beschäftigen sich nach wie vor mit Afghanistan, so berichtet Der Spiegel vom 24. September 2021 Folgendes:

„(…). Seit mehreren Wochen sind die radikalislamischen Taliban in Afghanistan wieder an der Macht – und beteuern, die Menschenrechte zu achten. Langsam wird deutlich, wie sie das meinen. Ein Gründungsmitglied der Taliban hat nun etwa in einem Interview angekündigt, es werde weiterhin Exekutionen und Handamputationen als Bestrafung geben. Möglicherweise aber nicht mehr in der Öffentlichkeit. (…).

Heute ist Turabi für Gefängnisse verantwortlich. Das Mitglied der Übergangsregierung der Taliban steht außerdem auf einer Uno-Sanktionsliste. »Das Abschneiden der Hände ist sehr wichtig für die Sicherheit«, sagte Turabi. Die Taliban würden aber noch Strategien entwickeln, wie es ausgeführt werden solle. (…).“

Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der ICC seine Ermittlungen in Bezug auf Afghanistan wieder aufnimmt, und zwar in Bezug auf Gräueltaten von der Taliban oder dem IS:

“(…). I have therefore decided to focus my Office's investigations in Afghanistan on crimes allegedly committed by the Taliban and the Islamic State – Khorasan Province ("IS-K") and to deprioritise other aspects of this investigation. The gravity, scale and continuing nature of alleged crimes by the Taliban and the Islamic State, which include allegations of indiscriminate attacks on civilians, targeted extrajudicial executions, persecution of women and girls, crimes against children and other crimes affecting the civilian population at large, demand focus and proper resources from my Office, if we are to construct credible cases capable of being proved beyond reasonable doubt in the courtroom. (…).”

Vor dem Hintergrund der bisherigen „Erfahrungen“ mit der Taliban erscheint es somit als lebensfremd zu erwarten, dass es zu einer signifikanten Veränderung in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte durch die islamistische Organisation kommen wird.

Ebenfalls weitere Medienberichte beschreiben die gegenwärtige Situation sowohl in Hinblick auf die Sicherheits- und Menschenrechtslage als auch bezüglich der (Un)Möglichkeit der Versorgung der afghanischen Bevölkerung mehr als dramatisch:

• Die Presse, 25. September 2021: https://www.diepresse.com/6039003/uno-warnt-vor-verscharfung-der-humanitaren-krise-in-afghanistan;

• Süddeutsche Zeitung, 21. September 2021: https://www.sueddeutsche.de/politik/taliban-afghanistan-1.5416397;

• Die Presse, 15. September 2021: https://www.diepresse.com/6034349/afghanistan-treibt-auf-eine-katastrophe-zu;

• Die Zeit, 10. September 2021: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/afghanistan-proteste-taliban-kritiker-journalisten-gewalt-evakuierung;

• Der Spiegel, 5. September 2021: https://www.spiegel.de/ausland/taliban-al-qaida-und-is-us-general-warnt-vor-buergerkrieg-in-afghanistan-a-095079e9-6326-4c99-b61d-f1cb7b1b3718;

• bbc news, 20. August 2021: https://www.bbc.com/news/world-asia-58277463 .

Ungeachtet der weiterhin äußerst volatilen und vollkommen unübersichtlichen Sicherheitslage im gesamten Gebiet Afghanistans ist es dort zu einer signifikanten Verschlechterung der Versorgungslage, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden und ein Einkommen zu erwirtschaften, gekommen. An dieser Stelle sei nochmals hervorgehoben, dass es sich beim Revisionswerber um den Angehörigen der Volksgruppe der Hazara handelt.

Schließlich würde die Abschiebung des Revisionswerbers unverhältnismäßig in sein nach Art. 8 EMRK geschütztes Familien- bzw. Privatleben eingreifen. Der Revisionswerber hat sich während seines fünfeinhalbjährigen Aufenthaltes in Österreich hervorragend integriert, so kann er sowohl Deutschkenntnisse auf dem B1-Niveau als auch ehrenamtliche Tätigkeit vorweisen. Daneben brachte der Revisionswerber Einstellungszusagen in Vorlage, sodass von einer zeitnahen und nachhaltigen Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen ist.

Nicht zuletzt würde die Abschiebung des Revisionswerbers deshalb in sein jedenfalls Privatleben i.S.d. Art. 8 EMRK unverhältnismäßig eingreifen, da er in Österreich eine längere Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen führt. Auch dieser Umstand ist seitens des BVwG zur Gänze unberücksichtigt geblieben. So wurde die Lebensgefährtin des Revisionswerbers nicht einmal einvernommen oder aber die Auswirkungen der drohenden Abschiebung und damit Trennung auf die betreffenden Personen dargelegt und berücksichtigt worden. Das BVwG hat die Interessenabwägung i.S.d. Art. 8 EMRK im konkreten Fall in unvertretbarer Weise und zum Nachteil des Revisionswerbers vorgenommen.

Eine Abschiebung des Revisionswerbers würde somit auch eine Verletzung des Rechts nach Art. 8 EMRK bedeuten.

Trotz des Bestehens eines öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen muss die Interessenabwägung auf Grund der drohenden, gravierenden Rechtsnachteile vorliegend zu Gunsten des Revisionswerbers ausgehen.“

3.       Die im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht belangte Behörde äußerte sich, trotz ihr dazu eingeräumter Möglichkeit, zum Aufschiebungsantrag nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen, Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung:

0. Die vom Revisionswerber für va September 2021 laut Medienberichten dargestellte extrem lebensumstandsmäßig schlechte und sehr volatile Situation in Afghanistan ist iSv VfGH v 24.09.2021, E 3047/2021 ab September 2021 bei insoweit geänderter Sachlage zwischenzeitig notorisch, wird hiermit insoweit festgestellt und wurde vom BFA im Aufschiebungsverfahren auch nicht bestritten, mag diese Situation zum Zeitpunkt der Erkenntniserlassung durch das BVwG auch nicht vorhersehbar gewesen sein, zumal dies ausweislich der notorischen medialen Berichterstattung offenbar nicht einmal zB der weithin dem Namen nach bekannte Nachrichtendienst/Geheimdienst CIA in zeitlicher Hinsicht im Juni 2021 vorhergesehen hat.

1.       Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG hat bis zur Vorlage der Revision das Verwaltungsgericht, ab Vorlage der Revision der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses oder mit der Ausübung der durch das angefochtene Erkenntnis eingeräumten Berechtigung für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre. Die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bedarf nur dann einer Begründung, wenn durch sie Interessen anderer Parteien berührt werden.

2.       Gemäß § 30a Abs. 3 VwGG hat das Verwaltungsgericht über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung unverzüglich mit Beschluss zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht ist sowohl bei einer ordentlichen Revision als auch im Fall einer außerordentlichen Revision bis zur Vorlage der Revision an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung über einen Antrag auf aufschiebende Wirkung der Revision zuständig und zur Entscheidung verpflichtet (zuletzt VwGH 05.11.2019, Ra 2019/20/0470, Rz. 11, m.w.N.).

3.       Gegenständlich ist kein – auch – zwingendes öffentliches Interesse ersichtlich, dass der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Revision entgegenstünde.

4.       Nun mag der Revisionswerber nach dem Erkenntnis des BVwG allenfalls vor diesem Beschluss als unrechtmäßig in Österreich aufhältig bewertet werden können, falls man insoweit die Entwicklungen in Afghanistan seit dem Entscheidungszeitpunkt des BVwG außer Acht lassen würde, woran anschließend typischer Weise mit dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens argumentiert werden kann (vgl. etwa VwGH 30.05.2019, Ra 2019/22/0104, m.w.N.). Jedoch ist auf Folgendes hinzuweisen: Der Revisionswerber hat in seinem Antrag insbesondere mit dem Verweis auf die derzeitige Sicherheitslage in Afghanistan aufgrund der Machtübernahme der Taliban und der damit verbundenen derzeit aufgrund des Umbruchs nicht beurteilbaren und sich rasant ändernden/verschlechternden Entwicklung der Sicherheitslage auf Nachteile hingewiesen, die mit dem sofortigen Vollzug des Abschiebetitels verbunden wären. Bei Abwägung der rechtserheblichen gegenläufigen Interessen miteinander, ist fallbezogen für den Revisionswerber jedenfalls aber bereits alleine im Hinblick auf die angeordnete Außerlandesbringung mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden (dazu etwa VwGH 18.01.2019, Ra 2018/14/0325, m.w.N. und VwGH 11.10.2019, Ra 2019/01/0368), dies rücksichtlich der vom Revisionswerber ohne Entgegentreten der Behörde im Aufschiebungsverfahren vorgebrachten Situationsberichte laut Aufschiebungsantrag, ohne dass damit eine Aussage zur Tatsachenlage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses gemacht wird.

5.       Dem Antrag war daher gemäß § 30 Abs. 2 VwGG stattzugeben.

Schlagworte

aufschiebende Wirkung außerordentliche Revision

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W131.2179479.1.01

Im RIS seit

08.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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