TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/12 W240 2239166-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.07.2021
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Entscheidungsdatum

12.07.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §75 Abs24
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W240 2221088-1/21E

W240 2239166-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. FEICHTER über die Beschwerden von XXXX , beide StA. Afghanistan, gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.06.2019, Zahl 18-1215049308-190009913 und vom 26.11.2020, Zahl 1264550302-200403043, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF 1) ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: BF 2), beide sind Staatsangehörige von Afghanistan. Die BF 1 reiste am 21.04.2019 mit einem Visum D legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.04.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab sie an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und denselben Schutz wie ihr Ehemann, der in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten habe, zu beantragen.

Nach Zulassung des Verfahrens wurde die BF 1 am 11.06.2019 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. In dieser Einvernahme bestätigte sie ihre Angaben in der Erstbefragung und gab an, dass ihr Ehemann Afghanistan bereits vor neun bis zehn Jahren verlassen habe. Nach der Heirat habe die BF 1 bei der Familie ihres Mannes gelebt, nach der Ausreise ihres Mannes bei ihrer Schwiegermutter. Nach dem Tod der Schwiegermutter habe sie zuletzt bei ihrer Mutter in Mazar-e Sharif gelebt. Als weibliches Familienoberhaupt habe sie es schwer gehabt, beispielsweise sei sie nie selbst zum Bazar gegangen, der Onkel ihres Mannes habe sie jedoch immer unterstützt. Auch habe sie in Afghanistan vermisst, dass sie als Mädchen nicht in die Schule habe gehen können. Sie habe das Land aber nur verlassen, weil ihr Mann hier in Österreich sei, sie habe große Sehnsucht nach ihm gehabt. Übergriffe auf sie habe es in Afghanistan weder von privater noch von staatlicher Seite gegeben. Angst habe sie jedoch vor der unsicheren Lage in Afghanistan. In Österreich habe sie Kontakt zu Freunden ihres Mannes, manchmal gehe sie mit einer Freundin ein Eis essen. Ansonsten führe sie den Haushalt, auch die Einkäufe besorge sie zum Teil alleine. In Österreich habe sie mehr Freiheiten, könne eine Schule besuchen und eine gute Zukunft haben. Ihr Kopftuch trage sie weiterhin, da sie sich damit besser fühle.

Mit Bescheid vom 17.06.2019 wies die Behörde den Antrag der BF 1 vom 29.04.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 34 Abs. 3 AsylG – abgeleitet von ihrem Ehemann – den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.04.2020 (Spruchpunkt III.).

Mit Schriftsatz vom 08.07.2019 erhob die BF 1 durch ihre ausgewiesene Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angeführten Bescheides. Darin führte sie im Wesentlichen aus, dass der Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorzuwerfen sei, da keine nähere Auseinandersetzung mit der individuellen Verfolgung der BF 1 aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen, insbesondere der alleinstehenden Frauen mit westlicher Orientierung, erfolgt sei. Im Hinblick auf eine diesbezügliche Verfolgungsgefahr seien auch die Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid nicht vollständig. Im Falle einer Rückkehr sei die BF 1 mit einer prekären Sicherheitslage konfrontiert, weil für sie in fast allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko bestehe, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Als alleinstehende Frau hätte sie auch mit schwerwiegenden Diskriminierungen aufgrund ihres Geschlechts zu rechnen und wäre sie aufgrund der fehlenden männlichen Unterstützung mit einer eingeschränkten Bewegungsfreiheit konfrontiert. Auch ohne ein entsprechendes Vorbringen der BF 1 sei es an der Behörde gelegen, diese Umstände von Amts wegen näher zu ergründen. Bei entsprechender Würdigung des Vorbringens der BF 1, bzw. Vornahme entsprechender weiterführender Ermittlungen, hätte die Behörde zu dem Schluss kommen müssen, dass Diskriminierungen in einem derart hohen Maß gegeben seien, welches einer Verfolgung gleichzusetzen sei. Aufgrund der aufgezeigten Vulnerabilität der BF 1 wäre ihr internationaler Schutz iSd § 3 AsylG zu gewähren gewesen.

Beantragt wurde die Behebung des angefochtenen Spruchteils, in eventu die Behebung desselben und Zurückverweisung der Rechtssache an die Behörde.

Das BFA legte dem erkennenden Gericht die Beschwerde sowie den Verwaltungsakt, einlangend am 10.07.2019, vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.08.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die BF 1, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung und unter Heranziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, zu ihren persönlichen Lebensumständen sowie zu ihren Fluchtgründen befragt wurde.

Am Ende der Verhandlung wurden der BF 1 Kopien der vorliegenden Berichte und Feststellungen (Analyse Staatendokumentation vom 02.07.2014 (Frauen in Afghanistan); Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Afghanistan, Frauen in urbanen Zentren, 18.09.2017; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan mit Kurzinformation vom 18.05.2020; UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018 und EASO: Guidance note and common analysis zu Afghanistan vom Juni 2018 und 2019) ausgefolgt und für eine allfällige schriftliche Stellungnahme eine Frist bis zum 10.09.2020 eingeräumt.

Am 08.09.2020 (datiert: 07.09.2019) langte eine Stellungnahme der Rechtsvertretung der BF 1 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Hierin wurde ausgeführt, für die BF 1 sei eine westliche Lebensweise, in welcher die Anerkennung und Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lebe in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehne die Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Die BF 1 sei auf Eigenständigkeit bedacht und eine Rückkehr in das afghanische Lebensmodell für sie nicht mehr vorstellbar. Die BF 1 führe im Inland verschiedene Tätigkeiten alleine aus und habe den Wunsch sich zu bilden. Es sei davon auszugehen, dass der BF 1 im Falle einer Rückkehr eine Anpassung an das in Österreich bestehende Werte- und Gesellschaftssystem zumindest unterstellt würde und, dass sie längerfristig auch nicht in der Lage wäre, ihre nunmehrige Einstellung auf Dauer zu verbergen. Damit – und aufgrund der prekären Sicherheitslage – sei die BF 1 im Falle einer Rückkehr asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt.

2. Die BF 2 wurde am XXXX als Tochter der BF 1 in Österreich geboren. Sie stellte, vertreten durch ihre gesetzliche Vertreterin (BF 1), am 14.05.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 26.11.2020 wies die Behörde den Antrag der BF 2 vom 14.05.2020 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 34 Abs. 3 AsylG – abgeleitet von ihren Eltern – den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für zwei Jahre (Spruchpunkt III.).

Gegen diesen Bescheid brachte die BF 2 (vertreten durch BF 1) durch ihre ausgewiesene Rechtsvertretung am 29.12.2020 fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. ein.

Begründend wurde dazu ausgeführt, dass der BF 2 in ihrem Heimatland Verfolgung drohe, bei ihr dieselben Asylgründe vorlägen wie bei ihren Eltern und sie sich demnach vollinhaltlich den bereits eingebrachten Beschwerden anschließe.

Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Behebung des angefochtenen Spruchteils, in eventu die Behebung desselben und Zurückverweisung der Rechtssache an die Behörde.

Das BFA legte dem erkennenden Gericht die Beschwerde sowie den Verwaltungsakt, einlangend am 01.02.2020, vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Am 18.02.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der BF 1 die Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020 und räumte ihr eine Frist von zwei Wochen für eine allfällige Stellungnahme ein. Bis dato lange keine Stellungnahme ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1. 1. Zur Person der BF 1:

Die BF 1 ist afghanische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie wurde am XXXX geboren, ihre Muttersprache ist Dari. Die BF 1 ist seit XXXX verheiratet, die Ehe wurde arrangiert. Der Ehemann der BF 1 ist ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Tadschike und hat in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt bekommen (Bescheid vom 24.04.2015). Die BF 1 hat drei Kinder geboren. Ihre älteste Tochter ist ca. 19 Jahre alt, bereits verheiratet und lebt weiterhin in Afghanistan. Eine weitere Tochter der BF 1 verstarb, etwa im Alter von zwei Jahren, einige Jahre vor der Ausreise der BF 1 aus Afghanistan. In Österreich brachte die BF 1 am XXXX ihre dritte Tochter (BF 2) zur Welt.

Bis ca. zweieinhalb Jahre vor ihrer Ausreise aus Afghanistan lebte die BF 1 in ihrer Geburtsprovinz XXXX bei der Familie ihres Mannes, danach mit ihrer Mutter und ihrer Tochter in der Hauptstadt der Provinz Balkh, Mazar-e Sharif. Sie besuchte in Afghanistan weder eine Schule, noch erlernte sie einen Beruf. In Mazar-e Sharif hatte sie Unterricht in ihrer Muttersprache und lernte dort Lesen und Schreiben.

Die BF 1 reiste am 21.04.2019 legal mit einem Visum D in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.04.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 17.06.2019 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.04.2020 erteilt.

In Österreich kümmert sich die BF 1– wie auch zuvor in Afghanistan – primär um den Haushalt und die Kinderbetreuung und wird von ihrem Ehemann finanziell unterstützt. Staatliche Unterstützung bezieht sie – abgesehen von der Krankenversicherung als Leistung aus der Grundversorgung – keine. Sie verfügt über ein eigenes Bankkonto. Ihr Berufswunsch ist Dolmetscherin. Bislang war sie in Österreich nicht berufstätig. Sie hat einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 besucht, aufgrund der Geburt der BF 2 aber bislang noch keine Deutschprüfung abgelegt. Im Juli 2019 hat sie an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teilgenommen. Die BF 1 erledigt in Österreich selbstständig die Einkäufe von Lebensmitteln und Kleidern, geht alleine zum Arzt und würde gerne Radfahren lernen. Sie besucht regelmäßig Freunde ihres Mannes und trifft sich einmal wöchentlich mit einer Freundin. Nennenswerte Sozialkontakte zu ÖsterreicherInnen bestehen bislang nicht.

Im Herkunftsstaat hat die BF 1 nach wie vor Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter.

Die BF 1 ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur Person der BF 2

Die minderjährige BF 2 ist afghanische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie wurde am XXXX in Österreich geboren, ihre Muttersprache ist Dari. Sie ist die Tochter der BF 1 und von XXXX .

Die BF 2 stellte am 14.05.2020, vertreten durch die BF 1, den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 26.11.2020 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für zwei Jahre erteilt.

1. 3. Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation der BF:

Die BF 1 hat ihren Herkunftsstaat im April 2019 verlassen, um gemeinsam mit ihrem Ehemann, der sich bereits seit 2014 im Bundesgebiet aufhält und hier den Status des subsidiär Schutzberechtigten hat, in Österreich zu leben. In Afghanistan hat sie zuletzt mit ihrer Mutter und ihrer Tochter in Mazar-e Sharif gelebt. Nachdem ihr Bruder das Land ebenfalls verlassen hatte, und in den Iran ausgereist war, galt sie als das Familienoberhaupt. In Afghanistan hat sie den Haushalt geführt, wobei sie auf die Unterstützung des Onkels ihres Ehemannes angewiesen und in ihrer Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt war, insbesondere ist sie aufgrund der für alleinstehende Frauen prekären Sicherheitslage niemals selbst zum Einkaufen zum Bazar gegangen.

In Österreich hat sich die BF 1 mittlerweile daran gewöhnt, Besorgungen auch ohne Begleitung ihres Ehemannes zu erledigen. Sie geht alleine einkaufen, zum Arzt und trifft sich regelmäßig mit einer Freundin. Ihr Ehemann ist berufstätig und unterstützt sie sowohl finanziell als auch bei der Haushaltsführung und der Kinderbetreuung. Entscheidungen werden oft gemeinsam getroffen, zum Teil entscheidet sie aber auch alleine, zum Beispiel darüber, wie sie sich kleidet. Auch dass sie im öffentlichen Raum weiterhin ein Kopftuch tragen möchte, hat sie selbst entschieden. Die BF 1 fühlt sich in Österreich sehr frei. Sie möchte sich gerne bilden, die deutsche Sprache und den Beruf der Dolmetscherin erlernen. Auch für ihre Tochter wünscht sie sich, dass diese eine Ausbildung machen, sich ihren Partner einmal selbst aussuchen und später ihre eigenen Entscheidungen treffen kann.

Durch das Leben in Österreich hat sich auch die Einstellung der BF 1 stark verändert. Sie ist nunmehr eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die BF 1 lebt nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition, was sich insbesondere auch darin zeigt, dass sie mit ihrem Ehemann eine weitgehend gleichberechtigte Partnerschaft führt. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen, sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum bewegen und hat eine Zukunftsperspektive – sie möchte weiterhin frei leben, sich bilden und die deutsche Sprache sowie einen Beruf erlernen. Weiters möchte sie auch ihrer Tochter (BF 2) ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.

Die BF 1 ist nicht mehr gewillt, sich den afghanischen Vorschriften entsprechend zu verhalten. Eine Fortsetzung des Lebens, das sie derzeit in Österreich führt, wäre ihr in Afghanistan nicht möglich.

Die von der BF 1 angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht mehr vorstellen, neuerlich nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF 1 würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden und würde dadurch Gefahr laufen, aufgrund ihrer westlichen Orientierung und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (der der Frauen) verfolgt zu werden.

Da der Ehemann der BF 1 und Vater der BF 2 zudem in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten hat und eine gemeinsame Rückkehr nach Afghanistan sohin nicht möglich ist, wäre die BF 1 im Falle ihrer Rückkehr als alleinstehende und alleinerziehende Frau erneut schwerwiegenden Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und – wegen der für sie als Frau prekären Sicherheitslage – einer deutlichen Bewegungseinschränkung ausgesetzt.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert) gekürzt auf die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen:
„[…] Provinz Balkh:

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.04.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 01.06.2020; vgl. IEC Balkh 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 01.06.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 08.07.2020).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.01.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 05.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 05.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 04.07.2018).

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.07.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.05.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.07.2020; vgl. TN 20.12.2019).

In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; BFA Staatendokumentation 25.03.2019).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.02.2020; STDOK 21.07.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.02.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.07.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten (LWJ o.D.).

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.07.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019; REU 14.03.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 01.07.2020; TN 22.04.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 01.07.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.04.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 07.04.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 01.07.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). Im Zeitraum 01.01.-30.09.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist (UNAMA 10.2020). Im ersten HalbJahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen (UNAMA 7.2020).

Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 17.06.2020; UNGASC 17.03.2020; vgl. LWJ 10.03.2020), und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 07.01.2020). Es kam zu direkten Kämpfen (UNOCHA 23.09.2020; AJ 01.05.2020; DH 08.04.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.07.2020; REU 01.05.2020; UNOCHA 07.01.2020) oder Sicherheitsposten (NYTM 01.10.2020; NYTM 28.08.2020; AnA 18.03.2020; XI 07.01.2020). Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch (AN 25.06.2020; MENAFN 24.03.2020; AA 18.03.2020; XI 25.01.2020).

Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.08.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.08.2020; RFE/RL 25.08.2020; vgl. NYTM 28.08.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.08.2020; RFE/RL 25.08.2020; RFE/RL 19.09.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (NYTM 01.10.2020; AN 19.09.2020; TN 01.07.2020; AP 14.01.2020; TN 04.01.2020). Zudem wurde von der Entführung (DH 08.04.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (NYTM 01.10.2020; DH 08.04.2020).

Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.01.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.07.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.06.2018).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (HRW 30.06.2020; vgl. STDOK 25.06.2020, AA 16.07.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.07.2020; vgl.: REU 02.12.2019, STDOK 25.06.2020). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.07.2020; vgl. STDOK 25.06.2020).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.06.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände verglichen mit anderen Landesteilen gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.07.2020).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht, Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zu Themen regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.06.2020; vgl. RY 01.08.2019, BBC 10.07.2019).

Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Artikel 83 und 84 sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm „Women’s Economic Empowerment“ gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.02.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt „Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan“ (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D).

Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt 1) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.06.2020; vgl. BBC 27.02.2020, BP 31.08.2020, TN 31.05.2019, Taz 06.02.2019); die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 06.02.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 03.09.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (BP 31.08.2020; vgl. WP 12.09.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.08.2020).

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.06.2019; vgl. STDOK 25.06.2020).

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 – November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen, und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.06.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.03.2020; vgl. STDOK 25.06.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.03.2020).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.07.2020).

Bildung für Mädchen

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten (HRW 30.06.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.06.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.06.2020; vgl. REU 02.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.06.2020; vgl.: OI 03.12.2019, AT 06.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.03.2020; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz in vielen Teilen des Landes, dass Mädchen die Schule besuchen sollten. NGOs, die „gemeindebasierte Bildung“ unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden -, waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wurde (HRW 30.06.2020).

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.05.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).

Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.05.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.05.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.08.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.06.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.06.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.05.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.05.2019; UNAMA 24.04.2019; PAJ 16.04.2019; PAJ 15.04.2019; PAJ 31.01.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.05.2019).

Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Beamte Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Bezirken von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Bezirken in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Bezirke hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.06.2020).

Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung - Kankor - ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen, und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.02.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.02.2019).

Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a).

Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht: [...]

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des Weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen (WB 06.11.2018).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für „Frauen- und Genderstudies“ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018; Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 07.11.2017).

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.03.2020). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.06.2020, vgl. WS 02.12.2019).

Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.07.2020; vgl. BBW 28.08.2019). Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018).

In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 06.09.2019).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 03.04.2019). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.06.2020; vgl. OI 03.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse, die als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.07.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.06.2020; vgl. REU 20.05.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.06.2020; vgl. WS 26.11.2019). Für das Jahr 2020 wurde der Anteil der arbeitenden Frauen von der Weltbank mit 22,8% angegeben (WB 21.06.2020). Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.03.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.07.2019).

Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 06.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.07.2019). Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.03.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.03.2020). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.07.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women’s Chamber of Commerce and Industry“ zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.06.2020; vgl. OI 03.12.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.07.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 07.03.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.05.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.07.2020), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 13.03.2019). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.07.2020).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis, um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 11.03.2020).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.05.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 03.05.2019; vgl. STDOK 25.06.2020).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 06.09.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten werden auch die Damen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.04.2019).

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (US- DOD 6.2019). Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen (STDOK 21.07.2020). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 16.07.2020). Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie vor Gericht zu lösen (STDOK 21.07.2020). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 11.03.2020). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (Mol) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des Mol ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten, und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs, Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019).

Es existieren Projekte zur Verbesserung des Rechtszugangs von Frauen. Es besteht beispielsweise ein Netzwerk aus Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, welches Fälle aufspürt, bei denen Personen Rechtsbeistand benötigen. Das Programm richtet sich nicht ausschließlich an Frauen, unterstützt diese aber auch bei Rechtsproblemen mittels Fürsprache und der Vermittlung von Rechtsbeiständen. So wurde beispielsweise für eine Frau, welche aufgrund verschiedener Vorwürfe im Gefängnis saß, eine Rechtsvertretung bereitgestellt.

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Lawon Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt (AA 16.07.2020). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.05.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsidialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von fünf bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, und bis zu 20 Jahre oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 11.03.2020).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.05.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.08.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch; obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter EVAW fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015 - 12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.05.2018).

Frauenhäuser

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 16.07.2020). Es gibt 27 – 28 Frauenhäuser (USDOS 11.03.2020) in Afghanistan unter dem MOWA (Ministry of Women Affairs) und der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), die vom Staat und von NGOs betrieben werden (RA KBL 12.10.2020a).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt (AA 16.07.2020). Dass Frauen selbst in Städten wie Mazar-e Sharif völlig alleine leben, ist nur schwer vorstellbar (STDOK 16.07.2020). Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 16.07.2020). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.03.2018). Auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten arrangiert manchmal Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 11.03.2020).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 16.07.2020).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 22 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 11.03.2020).

In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal, wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Die Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet, und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Es kommt auch vor, dass Frauen stellvertretend für männliche Verwandte inhaftiert werden, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 11.03.2020).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weitverbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.07.2020; vgl. AI 30.01.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.03.2020).

Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.07.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 03.07.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 11.03.2020). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (UNAMA 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 16.07.2020; vgl. USDOS 11.03.2020, MBZ 07.03.2019, 20 minutes 28.11.2018), wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist (AA 16.07.2020). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 11.03.2020;

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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