TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/8 W192 2235236-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.07.2021
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Entscheidungsdatum

08.07.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W192 2235236-1/14E

W192 2235237-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , und 2.) XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 12.08.2020, Zahlen: 1.) 1262373601-200244433 und 2.) 1262374500-200244365, zu Recht:

A) Den Beschwerden wird stattgegeben und 1.) XXXX , geb. XXXX , und 2.) XXXX , geb. XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 i.d.g.F. der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 i.d.g.F. wird festgestellt, dass 1.) XXXX und 2.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die volljährige Zweitbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn, dem Erstbeschwerdeführer, illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 03.03.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

In der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die Zweitbeschwerdeführerin an, sie sei Staatsangehörige Afghanistans, stamme aus Kabul, bekenne sich zum sunnitischen Islam, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an, sei verheiratet und habe im Herkunftsstaat keinen Beruf ausgeübt. In Afghanistan hielten sich noch ihre volljährige Tochter sowie zwei Geschwister auf, in Österreich würden ihr Ehemann, drei volljährige Söhne, ein minderjähriger Sohn sowie eine volljährige Tochter leben. In Deutschland seien zwei Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin aufhältig. Sie habe Afghanistan rund ein Jahr zuvor verlassen und sei über eine näher dargestellte Route mit Unterstützung durch Schlepper nach Österreich gereist.

Zum Grund ihrer Flucht führte die Zweitbeschwerdeführerin aus, sie und ihre Familie seien aus Afghanistan geflüchtet, da sie ständig bedroht worden seien. Vor etwa zehn Jahren sei das Leben eines ihrer nun volljährigen Söhne in Gefahr gewesen, da man diesen entführen wollte; sie habe diesen damals aus Afghanistan weggeschickt. Danach seien sie weiter bedroht worden, zuletzt hätten diese Personen auch vorgehabt, ihren jüngsten, gemeinsam mit ihr eingereisten, Sohn zu entführen. Ihr Leben sei in Afghanistan in Gefahr gewesen, weshalb sie aus dem Heimatland flüchten mussten. Im Falle einer Rückkehr würde sie um ihr Leben sowie um jenes ihrer Kinder fürchten; bei ihrer Rückkehr würden ihre Kinder entführt und getötet werden, da auch ihr Neffe entführt und trotz Lösegeldzahlung getötet worden sei. Für ihren minderjährigen Sohn würden die gleichen Gründe gelten.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 21.07.2020 gab die Zweitbeschwerdeführerin auf Befragen an, sie sei grundsätzlich gesund, befinde sich jedoch in Behandlung wegen Diabetes; ihr minderjähriger Sohn sei gesund und befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung. Ihre bislang getätigten Angaben hätten der Wahrheit entsprochen. Im Herkunftsland habe sie stets in Kabul gelebt, wo ihr Ehemann für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen sei. Sie habe Afghanistan gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem jüngsten Sohn legal mit einem türkischen Visum auf dem Luftweg verlassen. Ihr Ehemann, welcher im Besitz eines tschechischen Visums gewesen sei, sei nach Österreich weitergereist, die Zweitbeschwerdeführerin sei zunächst mit dem Erstbeschwerdeführer in der Türkei verblieben und habe rund sechs Monate später ebenfalls die illegale Weiterreise nach Europa angetreten. Die Kosten der Reise hätten sich auf rund EUR 13.000,- belaufen, es habe sich hierbei um ihre Ersparnisse gehandelt. Ihr Ehemann und ihre fünf Kinder sowie weitere Angehörige würden alle in Österreich leben.

Zum Grund ihrer Flucht gab die Zweitbeschwerdeführerin an, ihr Mann sei in Afghanistan Beamter des Innenministeriums und als solcher zuständig für Durchsuchungen und Kontrollen der Passagiere am Flughafen sowie für Festnahmen von Schleppern und Drogendealern gewesen. Nachdem ihr Mann in Pension gegangen wäre, habe er immer wieder Drohungen von unbekannten Menschen erhalten, welche er ausgeliefert hätte. Aus Angst vor einer Entführung hätten sie Afghanistan verlassen. Dies seien all ihre Fluchtgründe, fluchtauslösend seien die Drohungen gegenüber ihrem Mann gewesen. Sie selbst habe keine Drohung oder Verfolgung in ihrem Heimatland erlitten. Nochmals danach gefragt, ob sie oder der minderjährige Erstbeschwerdeführer im Heimatland einer Bedrohung oder Verfolgung unterlegen hätten, verneinte die Zweitbeschwerdeführerin dies und gab an, als Hausfrau immer zu Hause gewesen zu sein. Weder sie selbst noch ihr minderjähriger Sohn seien in Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung bedroht oder verfolgt worden. Auf die Frage, wann sich die von ihr geschilderten Drohungen gegenüber ihrem Ehemann ereignet hätten, erwiderte die Zweitbeschwerdeführerin, vor etwa zehn Jahren sei ihr zwischenzeitlich volljähriger Sohn entführt und gegen Lösegeldzahlung freigelassen worden; in der Folge hätten sie diesen nach Europa geschickt. Sie selbst und die übrigen Familienmitglieder seien nach der geschilderten Entführung in Afghanistan verblieben und erst im Jahr 2019 ausgereist. Nach etwaigen Vorfällen in diesem Zeitraum gefragt, gab die Zweitbeschwerdeführerin an, nachdem sie den erwähnten Sohn vor zehn Jahren nach Europa geschickt hätten, sei ihr Haus, etwa im Jahr 2014, von unbekannten Leuten gestürmt worden. Die von ihr geschilderten Drohungen gegenüber ihrem Mann hätten vor etwa zweieinhalb Jahren im Jahr 2017 begonnen; diesem sei gedroht worden, entführt zu werden. Angaben über die Täter könne sie nicht erstatten, bei den Drohungen habe es sich um Anrufe gehandelt. Eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung habe ihr Mann nicht erlitten. Befragt, weshalb sie Afghanistan nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt verlassen hätten, erklärte die Zweitbeschwerdeführerin, sie hätten in der aktiven Zeit ihres Mannes als Polizist vier Wächter vor ihrem Haus gehabt, dies sei auch nach dessen Pension so geblieben. Als ihr Mann beschlossen hätte, nach Europa zu gehen, seien diese Wächter abgezogen worden. Ihr Mann habe sich nicht ausreichend beschützt gefühlt und sei aus diesem Grund nach Europa gegangen. Als der Flüchtlingsstrom im Jahr 2015 begonnen hätte, hätten auch ihre anderen Kinder und ihr Neffe beschlossen, nach Europa zu gehen. Lediglich ihr Mann, ihr jüngster Sohn und sie selbst seien damals in Afghanistan verblieben, zumal ihr Mann eine gute Arbeit in Afghanistan gehabt hätte. Dieser sei vor rund drei Jahren in Pension gegangen. Im Falle einer Rückkehr bzw. Abschiebung in die Heimat würde ihr keine Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohen. Ihr minderjähriger Sohn habe keine eigenen Flucht- oder Asylgründe.

2. Mit den nunmehr hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge auf internationalen Schutz jeweils gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.) sowie den beschwerdeführenden Parteien gemäß §§ 8 Abs. 1 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkte II.), wobei gleichzeitig gemäß § 8 Abs. 4 und 5 leg.cit. die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.11.2020 erteilt wurde (Spruchpunkte III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Zweitbeschwerdeführerin habe sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Person als auch in Bezug auf den von ihr gesetzlich vertretenen Erstbeschwerdeführer keine Bedrohung oder Verfolgung aus in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Motiven vorgebracht, sondern eine solche sogar dezidiert verneint. Diese habe festgehalten, dass ihr Ehemann Drohungen durch unbekannte Personen erhalten hätte, sie selbst und ihr minderjähriger Sohn hingegen keinerlei Drohungen oder Verfolgung erfahren hätten. Im Übrigen seien die von ihrem Ehemann geltend gemachten Bedrohungen auch in dessen Verfahren auf internationalen Schutz nicht zur Begründung eines asylrelevanten Sachverhaltes geeignet gewesen, zumal dessen Beschwerde im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.04.2020 zu Zahl W278 2227174-1 als unbegründet abgewiesen worden sei. Da in den gegenständlichen Verfahren keine asylrelevanten Gründe vorgebracht worden seien und auch die Ableitung des Status des Asylberechtigten im Rahmen eines Familienverfahrens nicht in Betracht komme, seien die Anträge im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen gewesen.

Da die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in Ermangelung eines unterstützenden familiären Netzes in eine ausweglose Lage geraten würden, sei diesen der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. In der rechtlichen Beurteilung wurde festgehalten, dass diesen der gleiche Schutzumfang wie dem Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin und Vater des minderjährigen Erstbeschwerdeführers zu gewähren gewesen sei.

3. Gegen Spruchpunkt I. dieser, der Zweitbeschwerdeführerin am 17.08.2020 zugestellten, Bescheide wurde durch die damals bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation mit Eingabe vom 09.09.2020 die für beide beschwerdeführenden Parteien gleichlautende Beschwerde erhoben. Begründend wurde ausgeführt, fluchtauslösend sei das Fluchtvorbringen des Ehemannes der Zweitbeschwerdeführerin respektive Vaters des Erstbeschwerdeführers gewesen, jedoch würde den beschwerdeführenden Parteien im Fall einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohen; die Situation von westlich orientierten Frauen in Afghanistan sei prekär und es würde der Zweitbeschwerdeführerin von islamistischen Extremisten eine solche Verwestlichung unterstellt werden. Dem Erstbeschwerdeführer drohe als jungem Burschen später Zwangsrekrutierung, da alle männlichen Jugendlichen von diversen Gruppen zwangsrekrutiert würden, zudem wäre sein Schulbesuch angesichts der allgemeinen Lage in Afghanistan nicht gesichert. Die Behörde habe das Ermittlungserfahren mit groben Mängeln belastet, da sie die Zweitbeschwerdeführerin nicht hinsichtlich einer westlichen Gesinnung und Einstellung sowie zur Lage von Frauen in Afghanistan befragt hätte. Wäre sie dazu befragt worden, hätte die Zweitbeschwerdeführerin vorbringen können, dass sie sich nicht mehr den strengen Traditionen unterordnen und frei und selbstbestimmt leben wolle. Die Pflicht der Behörde zur Erforschung der Fluchtgründe bestehe auch dann, wenn ein Antragsteller vermeine, keine Fluchtgründe zu haben, zumal es einem rechts- und sprachunkundigen Fremden nicht zumutbar sei, zu erkennen, welche Gründe zur Asylgewährung führen könnten und welche nicht. Im Falle des minderjährigen Erstbeschwerdeführers wäre zudem das Kindeswohl zu berücksichtigen gewesen. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und veraltet. Ergänzend wurde auf Berichtsmaterial zur Lage von Frauen und Kindern in Afghanistan verwiesen. Auch wenn die Zweitbeschwerdeführerin bei ihrer Einvernahme angegeben hätte, selbst keine Verfolgung erlitten zu haben, hätte sich die Behörde genauer mit der Situation von Frauen und Kindern auseinandersetzen müssen; dies hätte zur Feststellung führen müssen, dass die Zweitbeschwerdeführerin wegen ihrer westlichen Einstellung sowie der Erstbeschwerdeführer wegen drohender Zwangsrekrutierung der Gefahr asylrelevanter Verfolgung unterliegen würden. Bei der Zweitbeschwerdeführerin handle es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten, Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei und es liege das Verfolgungsrisiko in ihrer Zugehörigkeit zu einer entsprechenden sozialen Gruppe begründet. Dem Erstbeschwerdeführer würde im Falle einer Rückkehr drohen, von islamistischen Extremisten zwangsrekrutiert zu werden, sein Recht auf Bildung wäre nicht gesichert und es wäre zudem dessen Kindeswohl massiv gefährdet. Beantragt wurde, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und den beschwerdeführenden Parteien den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.

4. Mit Erkenntnissen vom 27.11.2020, Zahlen: W192 2235236-1/4E und W192 2235237-1/4E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

5. Gegen diese Erkenntnisse erhoben die beschwerdeführenden Parteien eine außerordentliche Revision. Mit Erkenntnis vom 16.06.2021, Zahlen: Ra 2020/18/0534 bis 0535-11, hat der Verwaltungsgerichtshof die dargestellten Erkenntnisse wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus:

„Vorweg ist festzuhalten, dass das Erkenntnis des BVwG vom 22. April 2020, mit dem die Beschwerde des Ehemanns/Vaters der revisionswerbenden Parteien hinsichtlich des begehrten Asylstatus abgewiesen worden war, mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Februar 2021, Ra 2020/19/0214, infolge Verletzung der Verhandlungspflicht - mit ex tunc-Wirkung - aufgehoben worden ist. Soweit sich das BVwG in den gegenständlichen Entscheidungen somit darauf bezieht, dass aufgrund der rechtskräftigen Abweisung des Antrags des Ehemanns/Vaters in seinem Verfahren dem darauf bezogenen Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien kein Erfolg beschieden sei, vermag diese Einschätzung von vornherein keinen Bestand (mehr) zu haben.

13 Hinzu kommt, dass das BVwG auch hinsichtlich der eigenen Fluchtgründe der revisionswerbenden Parteien, die in der Beschwerde erstmals vorgebracht worden waren, die Verhandlungspflicht verletzt hat.

14 Neues Vorbringen in der Beschwerde führt nach der hg. Rechtsprechung grundsätzlich dazu, dass von einem „geklärten Sachverhalt“ im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG, der ein Absehen von der Verhandlung erlaubt, nicht ausgegangen werden darf. Ausgenommen davon ist der Fall, dass das neue Vorbringen dem Neuerungsverbot gemäß § 20 Abs. 1 und 2 BFA-VG unterliegt (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017-0018).

15 Für die Annahme eines Neuerungsverbots bedarf es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Auseinandersetzung mit der für die Annahme des Neuerungsverbots erforderlichen Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens (vgl. VwGH 29.7.2015, Ra 2015/18/0036, mwN; VwGH 30.3.2020, Ra 2019/14/0318, u.a.).

16 Dass diese Voraussetzungen im gegenständlichen Fall vorgelegen seien, legt das BVwG in seiner Begründung nicht hinreichend dar. Wenn das BVwG argumentiert, die revisionswerbenden Parteien hätten die Möglichkeit gehabt, vor dem BFA sämtliche Rückkehrbefürchtungen anzusprechen, mag dies zwar zutreffen. Dass sie dies in missbräuchlicher Absicht nicht getan hätten, um das Asylverfahren zu verlängern, wird damit aber nicht nachvollziehbar dargetan.“

6. Dem Vater des minderjährigen Erstbeschwerdeführers bzw. Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin wurde mit am 27.04.2021 mündlich verkündetem und in Rechtskraft erwachsenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts der Status eines Asylberechtigten zuerkannt und es wurde diesem gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre erteilt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die beschwerdeführenden Parteien führen die im Spruch ersichtlichen Personalien, sind Staatsangehörige Afghanistans, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken, sie bekennen sich zum sunnitisch-islamischen Glauben und lebten von Geburt an bis zur ihrer im Jahr 2019 erfolgten Ausreise in der Stadt Kabul. Die volljährige Zweitbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des elfjährigen Erstbeschwerdeführers.

1.2. Die Zweitbeschwerdeführerin ist mit dem Vater des Erstbeschwerdeführers, einem in Österreich zunächst subsidiär schutzberechtigten und nunmehr asylberechtigten afghanischen Staatsangehörigen, verheiratet, wobei diese Ehe bereits vor der Einreise bestanden hat, und hat mit diesem vier weitere Söhne und zwei Töchter, welche, mit Ausnahme einer nach wie vor in Kabul lebenden Tochter, bereits seit dem Jahr 2010 respektive 2015 im Bundesgebiet aufhältig sind.

Mit Bescheid des BFA vom 27.11.2019 wurde der Antrag des Vaters des Erstbeschwerdeführers respektive Ehemanns der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen und ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Gleichzeitig wurde dem Genannten eine bis 27.11.2020 befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Mit – im zweiten Rechtsgang ergangenen – in Rechtskraft erwachsenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.04.2021, Zahl: W278 2227174-1, wurde dem Vater des minderjährigen Erstbeschwerdeführers bzw. Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin der Status eines Asylberechtigten zuerkannt und es wurde diesem gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre erteilt. Ein Verfahren zur Aberkennung dieses Status ist nicht anhängig.

1.3. Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten bzw. strafunmündig.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zu den von den beschwerdeführenden Parteien geführten Personalien und ihrer Staatsangehörigkeit ergeben sich aus den Angaben der Zweitbeschwerdeführerin sowie den im Verwaltungsakt in Kopie einliegenden Dokumenten (insbesondere den afghanischen Reisepässen der Beschwerdeführer).

Die Feststellungen zu ihrer Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, ihrem Geburtsort, ihrem Leben in Kabul und ihren familiären Bindungen beruhen auf den dahingehend glaubwürdigen Angaben der Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren.

Die Feststellungen zur rechtskräftigen Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Vater des Erstbeschwerdeführers respektive Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin stützen sich auf das am 27.04.2021 zu Zahl W278 2227174-1 mündlich verkündete Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts. Dass es sich beim Erstbeschwerdeführer um den minderjährigen ledigen Sohn und bei der Zweitbeschwerdeführerin um die Ehefrau des Genannten handelt, erwies sich im Verfahren als unstrittig und wurde auch im vor dem Verwaltungsgerichtshof geführten Revisionsverfahren zugrunde gelegt. Zudem ist die afghanische Heiratsurkunde der Zweitbeschwerdeführerin aktenkundig (AS 83).

Die Unbescholtenheit der Zweitbeschwerdeführerin ergibt sich aus dem Strafregister.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A) Zur Zuerkennung des Status der Asylberechtigten:

3.2.1. Stellt ein Familienangehöriger von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist (Z 1); einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist (Z 2) oder einem Asylwerber (Z 3) einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß § 34 Abs. 1 AsylG 2005 als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 hat die Behörde aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1.       dieser nicht straffällig geworden ist und

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

2.       gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 gemäß § 34 Abs. 4b AsylG 2005 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG 2005 gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, der Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten (lit a); der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat (lit b); ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten (lit c) und der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat (lit d).

3.2.2. Dem Vater des minderjährigen ledigen Erstbeschwerdeführers bzw. Ehemannes der Zweitbeschwerdeführerin wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.04.2021 der Status eines Asylberechtigtem gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt und es wurde diesem eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Aus diesem Grund ist den Beschwerdeführern als dessen Familienangehörigen im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 Asylg 2005 nach § 34 Abs. 2 iVm Abs. 4 AsylG 2005 der gleiche Schutzumfang zuzuerkennen, zumal im gegenständlichen Verfahren keine Sachverhaltselemente, die unter einen der Tatbestände des § 34 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 zu subsumieren wären, hervorgekommen sind.

Den Beschwerdeführern war daher ebenfalls gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.

Ist einem Familienangehörigen – wie vorliegend – ohnedies der Status des Asylberechtigten zu gewähren, so kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er habe darüber hinaus vorgesehen, dass auch in diesem Fall eigene Fluchtgründe zu prüfen wären. Dies würde der vom Gesetzgeber ausdrücklich angeführten Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband entgegenstehen (vgl. VwGH 30.08.2018, Ra 2017/01/0418). Eine weitere Auseinandersetzung mit den von den Beschwerdeführern erstmals in der Beschwerde vorgebrachten Rückkehrbefürchtungen konnte demnach im vorliegenden Verfahren unterbleiben.

3.2.3. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass den Genannten damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Gültigkeitsdauer der ihnen in diesem Zusammenhang zukommenden befristeten Aufenthaltsberechtigung richtet sich dabei gemäß § 3 Abs. 4b AsylG 2005 nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird.

3.3. Gemäß § 24 Abs. 1 des VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

Gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.

Da bereits aufgrund der Aktenlage angesichts der zwischenzeitigen Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Vater des Erstbeschwerdeführers respektive Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin und der unbestrittenen Familienangehörigeneigenschaft feststand, dass den Beschwerdeführern der gleiche Schutzumfang zu gewähren ist, konnte das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen; es war nach den oben dargestellten Kriterien nicht verpflichtet, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

3.4. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die zu den einzelnen Spruchpunkten oben dargelegt wurde, ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asyl auf Zeit Asylgewährung von Familienangehörigen Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung Ersatzentscheidung Familienangehöriger Familienleben Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W192.2235236.1.00

Im RIS seit

22.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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