TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/20 Ro 2018/11/0032

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Veröffentlicht am 20.09.2021
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Index

E3L E05202000
E3L E06202000
E6J
10/07 Verwaltungsgerichtshof
60/01 Arbeitsvertragsrecht
60/02 Arbeitnehmerschutz
62 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

AÜG §17 Abs2
AÜG §17 Abs3
AÜG §22 Abs1 Z2
AÜG §4 Abs2
AVRAG 1993 §7b Abs2
AVRAG 1993 §7d Abs2
AVRAG 1993 §7f Abs1 Z3
AVRAG 1993 §7i Abs1
AVRAG 1993 §7i Abs4 Z2
AVRAG 1993 §7i Abs4 Z3
VwGG §42 Abs2 Z1
31996L0071 Entsende-RL
62018CJ0815 Federatie Nederlandse Vakbeweging VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Finanzamts Grieskirchen Wels gegen die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 8. Mai 2018, Zlen. 1. LVwG-301542/36/BMa/PP, 2. LVwG-301543/34/BMa/TK, 3. LVwG-301548/34/BMa/PP, 4. LVwG-301549/34/BMa/PP, 5. LVwG-301550/34/BMa/JB, 6. LVwG-301552/34/BMa/LR, jeweils betreffend Übertretungen des AVRAG, 7. LVwG-301544/34/BMa/JB und 8. LVwG-301545/34/BMa/PP, jeweils betreffend Übertretungen des AÜG (jeweils belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis; mitbeteiligte Parteien: 1. E J A (zu 1. bis 5. und 7. bis 8.) und 2. E H A (zu 6.), beide in H, beide vertreten durch die Puttinger Vogl Rechtsanwälte OG in 4910 Ried/Innkreis, Claudistraße 5), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        In acht Straferkenntnissen, jeweils vom 7. März 2017, ging die belangte Behörde davon aus, dass zumindest am 15. Juni 2016 die AX und die AY (zwei Gesellschaften mit Sitz in Tschechien und Polen) der A GmbH (Muttergesellschaft der AX und der AY) am Betriebsstandort in R (Oberösterreich) für Transportaufträge insgesamt 134 namentlich angeführte LKW-Fahrer überlassen hätten und somit eine grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung der AX und der AY an die A GmbH stattgefunden habe. Sie ging weiters davon aus, beide Mitbeteiligte seien handelsrechtliche Geschäftsführer der A GmbH, der Erstmitbeteiligte sei darüber hinaus jeweils gemäß § 9 Abs. 1 VStG vertretungsbefugtes Organ der AX und der AY.

2        Mit den ersten beiden Straferkenntnissen (Gegenstand des erst- und des zweitangefochtenen Erkenntnisses) wurde dem Erstmitbeteiligten als vertretungsbefugtem Organ der AX und der AY zur Last gelegt, dass diese Gesellschaften als Überlasserinnen die (näher bezeichneten) Lohnunterlagen der überlassenen Arbeitnehmer der Finanzbehörde nicht übermittelt hätten. Der Erstmitbeteiligte habe dadurch jeweils § 7f Abs. 1 Z 3 iVm. § 7i Abs. 1 des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (AVRAG) verletzt. Über ihn wurde jeweils pro Arbeitnehmer eine Geldstrafe von € 1.500,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 100 Stunden) verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben.

3        Mit dem dritten und dem vierten Straferkenntnis (Gegenstand des dritt- und des viertangefochtenen Erkenntnisses) wurde dem Erstmitbeteiligten als vertretungsbefugtem Organ der AX und der AY zur Last gelegt, dass die (näher bezeichneten) Lohnunterlagen der überlassenen Arbeitnehmer der A GmbH als Beschäftigerin nicht bereitgestellt worden seien. Er habe dadurch jeweils § 7d Abs. 2 iVm. Abs. 1 und § 7i Abs. 4 Z 2 AVRAG verletzt. Über ihn wurde jeweils pro Arbeitnehmer eine Geldstrafe von € 4.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 67 Stunden) verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben.

4        Mit dem fünften und dem sechsten Straferkenntnis (Gegenstand des fünft- und des sechstangefochtenen Erkenntnisses) wurde beiden Mitbeteiligten, jeweils als handelsrechtlichen Geschäftsführern der A GmbH, zur Last gelegt, dass die (näher bezeichneten) Lohnunterlagen der überlassenen Arbeitnehmer von der A GmbH als Beschäftigerin nicht in deutscher Sprache am Arbeitsort bereitgehalten worden seien. Die Mitbeteiligten hätten dadurch jeweils § 7d Abs. 2 iVm. Abs. 1 und § 7i Abs. 4 Z 3 AVRAG verletzt. Über sie wurde jeweils pro Arbeitnehmer eine Geldstrafe samt Ersatzfreiheitsstrafe verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben.

5        Mit dem siebenten und dem achten Straferkenntnis (Gegenstand des siebent- und des achtangefochtenen Erkenntnisses) wurde dem Erstmitbeteiligten als vertretungsbefugtem Organ der AX und der AY zur Last gelegt, dass die Überlassung der Arbeitskräfte weder spätestens eine Woche noch unverzüglich vor Arbeitsaufnahme der Zentralen Koordinationsstelle gemeldet worden sei. Er habe dadurch § 17 Abs. 2 und 3 iVm. § 22 Abs. 1 Z 2 1. Fall des Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes (AÜG) verletzt. Über ihn wurde jeweils eine Geldstrafe von insgesamt € 1.100,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 67 Stunden) verhängt und ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben.

6        Den dagegen erhobenen Beschwerden der Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit den angefochtenen Erkenntnissen Folge, es hob die bekämpften Straferkenntnisse auf und stellte die Verfahren ein. Eine Revision erklärte es jeweils für zulässig.

7        Begründend führte das Verwaltungsgericht in allen acht Erkenntnissen unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 22. August 2017, Ra 2017/11/0068, zusammengefasst aus, im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter dem Blickwinkel des § 4 Abs. 2 AÜG sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Hinweis auf EuGH 20.2.2011, C-307-309/09, Vicoplus, und EuGH 18.6.2015, C-586/13, Martin Meat) sei im Revisionsfall nicht von einer (grenzüberschreitenden) Überlassung, sondern von einem Werkvertrag zwischen AX und AY einerseits und der A GmbH andererseits auszugehen.

8        Die Zulässigkeit der Revision ergebe sich daraus, dass der Verwaltungsgerichtshof seine Rechtsprechung zu den maßgeblichen Kriterien der Beurteilung von Arbeitskräfteüberlassung mit Erkenntnis vom 22. August 2017, Ra 2017/11/0068, geändert habe. Ein Transportauftrag sei als Spezialfall eines Werkvertrags anzusehen, zu dem aber nach dem 22. August 2017 noch keine höchstgerichtliche Entscheidung ergangen sei. Insbesondere sei zur Beurteilung des wahren wirtschaftlichen Gehalts des Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften, die Arbeitnehmer eines ausländischen Tochterunternehmens einer österreichischen GmbH seien, wobei dem Geschäftsführer der österreichischen GmbH maßgeblicher Einfluss auf die ausländische Tochtergesellschaft zukomme, in Zusammenhang mit Transportaufträgen, bei deren Abwicklung alle Gesellschaften des Konzerns auf eine gemeinsame Infrastruktur zurückgriffen, eine höchstgerichtliche Judikatur nicht vorhanden.

9        Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende ordentliche Revision der Abgabenbehörde. Die Mitbeteiligten und die belangte Behörde erstatteten Revisionsbeantwortungen.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

11       Die Revision ist bereits aus den im angefochtenen Erkenntnis angeführten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet:

Die Rechtmäßigkeit jedes der angefochtenen Erkenntnisse hängt davon ab, ob die rechtliche Beurteilung des Verwaltungsgerichts, in den Revisionsfällen liege keine grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung von der AX und der AY an die A GmbH vor, zutreffend ist.

12       Dem zum selben Thema ergangenen hg. Erkenntnis vom 7. September 2021, Ra 2017/11/0154, lag zugrunde, dass der handelsrechtliche Geschäftsführer eines österreichischen Transportunternehmens für schuldig erkannt worden war, er habe zu verantworten, dass dieses Unternehmen näher bezeichnete ungarische Arbeitnehmer seiner ungarischen Tochtergesellschaft als LKW-Fahrer beschäftigt habe, ohne Unterlagen für die Anmeldung der Arbeitskraft zur Sozialversicherung sowie eine Abschrift der Meldung gemäß § 17 Abs. 2 und Abs. 3 AÜG bereitzuhalten. Der Verwaltungsgerichtshof hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Werkvertrag vorlag oder ob die Tochtergesellschaft ihre Fahrer an die Muttergesellschaft - iSd. Richtlinie 96/71/EG (Entsenderichtlinie), da ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorlag - überlassen hatte.

13       Dieselbe Frage (Werkvertrag oder grenzüberschreitende Überlassung) stellt sich in Revisionsfällen. Zwar hat sich das Verwaltungsgericht bei seiner Beurteilung an den durch das hg. Erkenntnis vom 22. August 2017, Ra 2017/11/0068, vorgegebenen Kriterien orientiert, jedoch fehlen - ebenso wie im zuvor beschriebenen Fall - Feststellungen zur konkreten Vertragsgestaltung im Hinblick auf diese Kriterien. Angesichts der in den angefochtenen Erkenntnissen getroffenen Feststellungen, dass alle LKW der Unternehmensgruppe von der A GmbH disponiert würden, dass von den Fahrern angenommene bzw. ausgeführte Transportaufträge fallweise erst nachträglich an die AX oder AY übermittelt würden, dass sich die Fahrer bei den Disponenten oder Dolmetschern der A GmbH abmeldeten, oder dass die jeweilige Dolmetscherin der A GmbH auch Ansprechpartnerin der Fahrer der AX und der AY für während der Fahrten auftretende Probleme sei und ihnen diesbezügliche Anleitungen gebe, scheint überdies nicht restlos geklärt, wer die Zahl der eingesetzten tschechischen und polnischen Fahrer bestimmt und ihnen regelmäßig die konkreten Weisungen erteilt bzw. was diesbezüglich vertraglich vereinbart wurde. Es werden daher im Sinne des zitierten Erkenntnisses Ra 2017/11/0068 eindeutige Sachverhaltsfeststellungen zu treffen sein, ob und welche der für die Arbeitskräfteüberlassung ausschlaggebenden Kriterien verwirklicht sind, um im Rahmen einer rechtlichen Gesamtbeurteilung fallbezogen das Vorliegen von grenzüberschreitender Arbeitskräfteüberlassung abschließend bejahen oder verneinen zu können.

14       Auch hinsichtlich der Frage, ob auf die eingesetzten Fahrer der AX und der AY die Entsenderichtlinie 96/71/EG Anwendung findet, gleichen die Revisionsfälle dem dem hg. Erkenntnis vom 7. September 2021, Ra 2017/11/0154, zugrundeliegenden Fall. Ebenso wie dort fehlen vor dem Hintergrund des Urteils des EuGH vom 1. Dezember 2020, C-815/18, Federatie Nederlandse Vakbeweging (dieses hinsichtlich der Anwendbarkeit der Entsenderichtlinie bestätigt durch EuGH 8.7.2021, C-428/19, OL, PM, RO gg. Rapidsped), zu treffende Feststellungen zu Art und Umfang der von den polnischen und tschechischen Fahrern in Österreich erbrachten Arbeitsleistung, um beurteilen zu können, ob diese Arbeitsleistung eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Hoheitsgebiet aufweist.

15       Da die Revisionsfälle somit in den entscheidungswesentlichen Punkten dem dem hg. Erkenntnis Ra 2017/11/0154 zugrundeliegenden Fall gleichen, wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Begründung dieses Erkenntnisses verwiesen.

16       Die angefochtenen Erkenntnisse waren aus den dort genannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 20. September 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62018CJ0815 Federatie Nederlandse Vakbeweging VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2018110032.J00

Im RIS seit

18.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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