TE Vwgh Beschluss 2021/9/29 Ra 2021/01/0294

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Veröffentlicht am 29.09.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §138
BFA-VG 2014 §9
MRK Art8
VwRallg

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/01/0295

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision 1. der L S, und 2. der M S, beide in W und vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2 (Einvernehmensrechtsanwalt gemäß § 14 EIRAG: Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2021, Zlen. 1. I403 2196511-1/16E und 2. I403 2196515-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurden in der Sache die Anträge der beiden Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz abgewiesen, keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, Rückkehrentscheidungen erlassen, jeweils festgestellt, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt und ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig sei.

2        Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Revisionswerberinnen zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss vom 22. Juni 2021, E 966-967/2021-8, lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde ab und trat die Beschwerde über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 19. Juli 2021, E 966-967/2021-10, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

3        Sodann erhoben die Revisionswerberinnen die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

4        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

6        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7        In der gesonderten Zulassungsbegründung ist konkret darzulegen, in welchen Punkten die angefochtene Entscheidung von welcher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht und konkret welche Rechtsfrage der Verwaltungsgerichtshof uneinheitlich oder noch gar nicht beantwortet hat. Lediglich pauschale Behauptungen erfüllen diese Voraussetzungen nicht (vgl. für viele VwGH 20.12.2019, Ra 2019/01/0431-0433, mwN).

8        Dem Gebot der gesonderten Darstellung der Gründe nach § 28 Abs. 3 VwGG wird insbesondere dann nicht entsprochen, wenn die zur Zulässigkeit der Revision erstatteten Ausführungen der Sache nach Revisionsgründe (§ 28 Abs. 1 Z 5 VwGG) darstellen oder das Vorbringen zur Begründung der Zulässigkeit der Revision mit Ausführungen, die inhaltlich (bloß) Revisionsgründe darstellen, in einer Weise vermengt ist, dass keine gesonderte Darstellung der Zulässigkeitsgründe im Sinne der Anordnung des § 28 Abs. 3 VwGG vorliegt (vgl. etwa VwGH 24.3.2021, Ra 2021/01/0086, mwN).

9        Diesen Anforderungen entspricht das vorliegende Zulässigkeitsvorbringen, dessen Ausführungen der Sache nach (zum Teil) Revisionsgründe (§ 28 Abs. 1 Z 5 VwGG) darstellen, nicht.

10       Soweit die Revision ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht behauptet, ist zunächst auszuführen, dass sich nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Revisionsmodell nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers an der Revision nach den §§ 500 ff ZPO orientieren soll (vgl. ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 16). Ausgehend davon ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. für viele VwGH 11.12.2019, Ra 2019/01/0465, mwN). Eine derartig krasse Fehlbeurteilung des vorliegenden Einzelfalls durch das BVwG zeigt die Revision nicht auf.

11       Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel dargelegt werden, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise, also fallbezogen darzulegen (vgl. für viele VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, mwN). Diesen Anforderungen wird die Revision mit ihrem pauschalen Zulässigkeitsvorbringen, wonach diverse Feststellungs-, Ermittlungs- und Begründungsmängel vorlägen, nicht gerecht.

12       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit weiter vor, das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) sei von (näher zitierter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Überraschungsverbot abgewichen, indem es den Revisionswerberinnen nicht ermöglicht habe, zu dem Umstand Stellung zu nehmen, dass mit Erkenntnissen des BVwG (vom selben Tag) in der Sache gegen den (Adoptiv-)Vater der Erstrevisionswerberin sowie dessen (leibliche) Tochter ebenfalls eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen worden sei. Dazu ist auszuführen, dass dem BVwG kein Verstoß gegen das Überraschungsverbot zur Last gelegt werden kann, weil es eine gemeinsame mündliche Verhandlung durchführte, in der nicht nur das Verfahren der beiden Revisionswerberinnen, sondern auch dasjenige des besagten (Adoptiv-)Vaters und dessen (leiblicher) Tochter verhandelt wurde. Damit hatten die Revisionswerberinnen ausreichend Gelegenheit, ihre Rechte und rechtlichen Interessen auch im Hinblick auf das Verfahren des (Adoptiv-)Vaters und die dort angesprochene Rückkehr in den Herkunftsstaat geltend zu machen (vgl. zum Überraschungsverbot etwa VwGH 5.10.2020, Ro 2020/10/0023, mwN, wonach sich das zum Überraschungsverbot in Beziehung gesetzte Parteiengehör nur auf die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, nicht aber auf die von der Behörde vorzunehmende rechtliche Beurteilung erstreckt; vgl. zu der - von einem Gericht grundsätzlich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu erfolgende - Einräumung von rechtlichem Gehör etwa VwGH 29.3.2021, Ra 2020/18/0346, mwN).

13       Weiters bringt die Revision vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Kindeswohl als einer vorrangig zu beachtenden Grundlage für die rechtliche Beurteilung. Dazu genügt es auf die bestehende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach den Kriterien des § 138 ABGB bei der im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung lediglich die Funktion eines „Orientierungsmaßstabs“ für die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht zukommt. Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 16.6.2021, Ro 2021/01/0013, mit Verweis auf VwGH 17.5.2021, Ra 2021/01/0150-0152, mwN). Im Übrigen fehlt der Revision eine konkrete Bezugnahme auf den Revisionsfall (vgl. VwGH 2.5.2016, Ra 2016/16/0028, mwN).

14       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN). Die Revision zeigt nicht auf, dass das BVwG von diesen Grundsätzen abgewichen wäre.

15       In der Revision werden vor diesem Hintergrund keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 29. September 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010294.L00

Im RIS seit

18.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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