RS Vfgh 2021/9/24 E3115/2021

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Veröffentlicht am 24.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art5
PersFrSchG Art2
BFA-VG §22a
FremdenpolizeiG 2005 §50, §76, §77, §80
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit durch Verhängung der Schubhaft über einen afghanischen Staatsangehörigen; mangelhafte Auseinandersetzung mit der extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan sowie mit der vorläufigen Maßnahme des EGMR - des Verbots, den Beschwerdeführer außer Landes zu bringen; keine Berücksichtigung der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und den Taliban bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft

Rechtssatz

Die Verhängung der Schubhaft über einen Fremden kann nur dann als verhältnismäßig bewertet werden, wenn mit der Möglichkeit einer zeitnahen Abschiebung zu rechnen ist. Dies bedeutet nicht, dass die Abschiebung als gewiss feststehen muss. Die Abschiebung muss aber nach Lage des Falles mit ausreichender Wahrscheinlichkeit möglich sein. Sofern das Ziel der Abschiebung aus faktischen oder rechtlichen Gründen auf Dauer oder auf unbestimmte Zeit nicht möglich ist, darf die Schubhaft nicht mehr aufrechterhalten werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn durch eine Abschiebung Art2 oder 3 EMRK verletzt würde und die Durchführung der Abschiebung somit gemäß §50 Abs1 FPG verboten ist.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) legt seinen Feststellungen zur Möglichkeit einer zeitnahen Realisierbarkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Lage in Afghanistan lediglich eine Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021 samt Informationen zur Sicherheitslage zugrunde. Bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG (04.08.2021) ließen die verfügbaren Länderinformationen, insbesondere das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021, die Gefahr einer das ganze Land betreffenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und Regierungstruppen und damit eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes für Angehörige der Zivilbevölkerung wie den Beschwerdeführer erkennen. Ferner musste das BVwG auch auf Grund der breiten medialen Berichterstattung über die Entwicklungen in Afghanistan, die für das BVwG als notorisch gelten können, davon ausgehen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan als extrem volatil einzustufen ist (zur Bedeutung einer realen Gefahr iSd Art2 und 3 EMRK siehe VfGH 24.09.2021, E3047/2021). Zudem hat der EGMR am 02.08.2021 auf Antrag des Beschwerdeführers eine vorläufige Maßnahme gemäß Art39 seiner Verfahrensordnung erlassen und angeordnet, dass der Beschwerdeführer bis zum 31.08.2021 nicht außer Landes gebracht werden soll. Gemäß §50 Abs3 FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht.

Das BVwG hätte - unabhängig von der vorläufigen Befristung bis zum 31.08.2021 und der Frage, ob die Zulässigkeitskriterien einer Beschwerde an den EGMR gemäß Art35 EMRK erfüllt gewesen sind - nach dem Erlass der vorläufigen Maßnahme gemäß Art39 der Verfahrensordnung des EGMR zumindest von einer maßgeblichen Relativierung des Sicherungsbedarfs unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK und damit von einer möglichen Unverhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung ausgehen müssen.

Angesichts der verfügbaren Länderinformationen, die zum Entscheidungszeitpunkt eine extreme Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan indizierten, sowie der Erlassung der vorläufigen Maßnahme durch den EGMR am 02.08.2021 hätte das BVwG davon ausgehen müssen, dass eine zeitnahe Abschiebung des Beschwerdeführers mit Blick auf die Vorgaben des §50 Abs1 FPG bzw auf Grund der realen Gefahr einer Verletzung von Art2 und 3 EMRK nicht möglich sein wird.

Das BVwG lässt jedoch in seiner Entscheidung eine nachvollziehbare Auseinandersetzung damit, ob eine zeitnahe Abschiebung des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan tatsächlich realisierbar und somit die Anhaltung in Schubhaft verhältnismäßig ist, vermissen. Somit hat das BVwG dadurch, dass es die im Lichte des Art2 Abs1 Z7 BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit gebotene einzelfallbezogene Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Schubhaft unterlassen hat, die Rechtslage grob verkannt und den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Schubhaft, Freiheit persönliche, Außerlandesbringung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3115.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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