TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/23 Ra 2020/16/0125

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Veröffentlicht am 23.09.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3R E05204020
E3R E05205000
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht
61/01 Familienlastenausgleich

Norm

BAO §279 Abs1
BAO §92 Abs1 litb
EURallg
FamLAG 1967 §10 Abs1
FamLAG 1967 §10 Abs3
FamLAG 1967 §11 Abs1
FamLAG 1967 §12 Abs1
FamLAG 1967 §13
VwRallg
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art67
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art60 Abs1
62014CJ0061 Orizzonte Salute VORAB
62014CJ0378 Trapkowski VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Mairinger und die Hofräte Dr. Thoma und Mag. Straßegger, sowie die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des damaligen Finanzamtes 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf (nunmehr: Finanzamt Österreich) gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 20. Mai 2020, Zl. RV/7101403/2019, betreffend Ausgleichszahlung (Familienbeihilfe) für den Zeitraum Jänner 2013 bis März 2018 (mitbeteiligte Partei: R M in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Spruchpunkt II.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Bundesfinanzgericht (BFG) über eine Beschwerde der Mitbeteiligten ab, welche sich gegen einen Bescheid des damaligen Finanzamtes Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf richtete, mit dem ein Antrag der Mitbeteiligten vom 2. Mai 2018 auf Ausgleichszahlung (Familienbeihilfe) für deren Sohn DL für den Zeitraum Jänner 2013 bis März 2018 abgewiesen worden war. Der Spruch des Erkenntnisses lautet:

„I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 279 BAO dahingehend abgeändert, dass sein Spruch zu lauten hat:

Es wird gemäß § 92 BAO i.V.m. §§ 10, 13 FLAG 1967 und Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 festgestellt,

1.   dass ein Anspruch der Mutter [Mitbeteiligte; Anschrift] auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag oder auf Ausgleichszahlung/Differenzzahlung betreffend Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag für den Sohn [DL] im Zeitraum Jänner 2013 bis März 2018 nicht besteht,

2.   dass der Antrag der Mutter [Mitbeteiligte; Anschrift] vom 2.5.2018 auf Ausgleichszahlung für den 2006 geborenen [DL] als derartiger Antrag zugunsten der Großmutter [VM], wohnhaft in Rumänien, (laut Antwort der Bf vom 18.12.2018 auf das ‚Ersuchen um Ergänzung - Erinnerung‘ des Finanzamtes vom 21.11.2018) zu berücksichtigen ist.

III. Gegen dieses Erkenntnis ist eine (ordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.“

2        Begründend führte das BFG zusammengefasst aus, die Abweisung des Antrages auf Ausgleichszahlung sei erfolgt, weil das Kind bis zu dessen Einreise nach Österreich im April 2018 im Haushalt der Großmutter in Rumänien gelebt habe. Nach Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a VO 883/2004 seien betreffend den Antrag der Mutter die österreichischen Rechtsvorschriften anzuwenden, da Österreich Beschäftigungsmitgliedstaat der Mitbeteiligten sei und sie im Beschwerdezeitraum in Österreich gewohnt habe.

3        Die Großmutter des Kindes DL habe im Beschwerdezeitraum die persönlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Ausgleichszahlung/Familienbeihilfe für das minderjährige Kind erfüllt. Das Kind sei im Beschwerdezeitraum bei der Großmutter und nicht bei der Mutter haushaltszugehörig gewesen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 FLAG 1967). In Verbindung mit dem Unionsrecht seien aber auch die territorialen Vorrausetzungen - Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 1 FLAG 1967) sowie Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 8 FLAG 1967) - hinsichtlich der Großmutter gegeben. Nach Art. 60 Abs. 1 VO 987/2009 sei in Bezug auf die Familienleistungen regelnden Art. 67 VO 883/2004 und Art. 68 VO 883/2004 „insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruches anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates fallen und dort wohnen“. Da die Mitbeteiligte als Familienangehörige sowohl ihres Kindes als auch der Großmutter anzusehen sei (§ 2 Abs. 2 und 3 FLAG 1967), sei unionsrechtlich in Anwendung von Art 67 VO 883/2004 zu unterstellen, dass alle beteiligten Personen in Österreich wohnen würden.

4        Da der Sohn DL im Beschwerdezeitraum nur dem Haushalt der Großmutter angehört habe, habe die Großmutter, auch wenn die Mutter die Unterhaltskosten für den Sohn überwiegend getragen haben sollte, einen vorrangigen Familienleistungsanspruch. Da ein Anspruch der haushaltsführenden Großmutter auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag bzw. Ausgleichzahlungen (bei Erfüllen aller in den Rechtsvorschriften geforderten Voraussetzungen) einem solchen der allenfalls Geldunterhalt leistenden Mutter vorgehe, sei der diesbezügliche Antrag der Mutter abzuweisen. Dem Finanzamt sei diesbezüglich hinsichtlich der Ausführungen in der Beschwerdevorentscheidung zuzustimmen.

5        § 13 Satz 2 FLAG 1967 sei in Verbindung mit §§ 11, 12 FLAG 1967 so zu verstehen, dass der Bescheidspruch im Familienbeihilfeverfahren bei erstmaliger Erlassung eines Bescheides nur auf (gänzliche oder teilweise) Abweisung eines Beihilfenantrags bezogen auf einen bestimmten Zeitraum lauten könne, während die (gänzliche oder teilweise) Stattgabe eines Beihilfenantrags bezogen auf einen bestimmten Zeitraum grundsätzlich im Wege der Auszahlung nach § 11 FLAG 1967, verbunden mit einer Mitteilung nach § 12 FLAG 1967, zu erfolgen habe. Sei für einen Kalendermonat ein Antrag nicht zur Gänze abzuweisen oder einem Antrag nicht zur Gänze Folge zu geben, sondern einem Antrag nur teilweise Folge zu geben, sei insoweit, als dem Antrag nicht Folge gegeben werde, ein Abweisungsbescheid zu erlassen, ansonsten mit Auszahlung vorzugehen. Die meritorische Erledigung einer gegen einen Abweisungsbescheid erhobenen Beschwerde mittels Beschwerdevorentscheidung oder Erkenntnis könne, jeweils für einen bestimmten Zeitraum, entweder auf (gänzliche oder teilweise) Abweisung des Familienbeihilfeantrages für Monate, in denen Familienbeihilfe nicht zustehe, oder auf (gänzliche oder teilweise) ersatzlose Aufhebung des den Antrag abweisenden Bescheides für Monate, in denen (gänzliche oder teilweise) Familienbeihilfe zustehe, lauten.

6        Im gegenständlichen Fall sei jedoch zu beachten, dass gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 das österreichische Finanzamt den von der Mutter gestellten Antrag auf Ausgleichszahlung/Familienbeihilfe (und Kinderabsetzbetrag), wenn und soweit diesem ein Anspruch der haushaltsführenden Großmutter vorgehe, zugunsten des Anspruches der Großmutter auf österreichische Familienleistungen/Ausgleichzahlung zu berücksichtigen habe. Es sei zwar die Beschwerde der Mutter wie bereits vom Finanzamt in der Beschwerdevorentscheidung als unbegründet abzuweisen. Der dieser Beschwerde zugrundeliegende Antrag der Mutter sei aber nicht abzuweisen, sondern als Antrag zugunsten der Großmutter zu berücksichtigen.

7        Es sei daher gemäß § 92 BAO i.V.m. §§ 10, 13 FLAG 1967 und Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 festzustellen, dass einerseits ein Anspruch der Mutter auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag bzw. auf Ausgleichszahlung/Differenzzahlung betreffend Kinderbeihilfe für den Sohn im Beschwerdezeitraum nicht bestehe, sowie, dass andererseits der Antrag der Mutter auf Ausgleichszahlung/Familienbeihilfe für den Sohn als derartiger Antrag zugunsten der Großmutter zu berücksichtigen sei.

8        Die im Verwaltungsverfahren von der Mitbeteiligten angegebene überwiegende Kostentragung durch die Mitbeteiligte sowie die von ihr behauptete Einkommenslosigkeit der Eltern der Mitbeteiligten seien gegenständlich nicht entscheidungsrelevant. Auch seien die Tatsache, dass die Mitbeteiligte, wie sie in der Beschwerde ausgeführt habe, für einen Teil des Beschwerdezeitraumes keine Einkommensnachweise vorlegen konnte, sowie der von der Mitbeteiligten (bis 10/2017) angegebene Bezug von Familienleistungen aus Rumänien für ihren Sohn durch die Mitbeteiligte selbst für die gegenständliche Entscheidung nicht von Bedeutung, zumal aus angeführten Gründen aufgrund der unstrittigen Aktenlage Anspruch auf Familienleistungen nicht die Mitbeteiligte, sondern die Großmutter des Sohnes - bei Erfüllen der diesbezüglichen gesetzlichen Voraussetzungen - habe. Darüber hinaus könne der Antrag auf rückwirkende Gewährung von Ausgleichszahlung betreffend Familienbeihilfe nur für den Zeitraum ab Mai 2013 gestellt werden.

9        Da die Großmutter am Verfahren bisher nicht als Partei beteiligt gewesen sei, sei eine sofortige Entscheidung in der Sache hinsichtlich der Großmutter nicht möglich.

10       Die Revision sei nicht zulässig, weil das Erkenntnis der geltenden Rechtslage in Verbindung mit der aktuellen höchstgerichtlichen Rechtsprechung folge. Eine über den Individualfall hinaus relevante Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liege nicht vor.

11       Die dagegen vom damaligen Finanzamt 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf erhobene außerordentliche Revision legte das BFG unter Anschluss der Akten des Verfahrens dem Verwaltungsgerichtshof vor.

12       Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein (§ 36 VwGG); eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

14       Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

15       Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nicht gebunden; er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

16       Die außerordentliche Revision des Finanzamtes Österreich (vormals Finanzamt 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf) (Finanzamt) wendet sich ausdrücklich ausschließlich gegen den Spruchpunkt II. dieses Erkenntnisses. Die Revision sei zulässig, weil die Frage, ob bei Abweisung eines Antrages eines Familienangehörigen auf Familienbeihilfe oder auf Ausgleichszahlung anstelle eines Abweisungsbescheides ein Feststellungsbescheid zu erlassen sei, wenn dieser Antrag nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 als Antrag eines anderen Familienangehörigen, der bisher am Verfahren nicht beteiligt gewesen sei, in der Rechtsprechung des BFG unterschiedlich beantwortet werde. Das Erkenntnis widerspreche auch der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 279 BAO, die die Änderungsbefugnis durch die Sache begrenze. Sache des Verfahrens sei nur der Antrag auf Ausgleichszahlung für den Zeitraum Jänner 2013 bis März 2018 der Mitbeteiligten.

17       Die Revision ist zulässig und aus den folgenden Gründen auch berechtigt:

18       § 10 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 (FLAG) in der im Revisionsfall noch maßgeblichen Fassung des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl. Nr. 201/1996, und der Änderung des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl I. Nr. 40/2015, lautet:

„§ 10. (1) Die Familienbeihilfe wird [ab Mai 2015: ,abgesehen von den Fällen des § 10a,] nur auf Antrag gewährt; die Erhöhung der Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs. 4) ist besonders zu beantragen.

(2) Die Familienbeihilfe wird vom Beginn des Monats gewährt, in dem die Voraussetzungen für den Anspruch erfüllt werden. Der Anspruch auf Familienbeihilfe erlischt mit Ablauf des Monats, in dem eine Anspruchsvoraussetzung wegfällt oder ein Ausschließungsgrund hinzukommt.

(3) Die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs. 4) werden höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt. In bezug auf geltend gemachte Ansprüche ist § 209 Abs. 3 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, anzuwenden.

(4) Für einen Monat gebührt Familienbeihilfe nur einmal.

(5) Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, bedürfen zur Geltendmachung des Anspruches auf die Familienbeihilfe und zur Empfangnahme der Familienbeihilfe nicht der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters.“

19       § 11 FLAG in der im Revisionsfall noch maßgeblichen Fassung des Finanzausgleichsgesetzes 2008, BGBl. I Nr. 103/2007, und des Budgetbegleitgesetzes 2014, BGBl. I Nr. 40/2014, lautet:

„§ 11. (1) Die Familienbeihilfe wird, abgesehen von den Fällen des § 4, für jeweils zwei Monate innerhalb des ersten Monats [ab Juni 2014: monatlich] durch das Wohnsitzfinanzamt automationsunterstützt ausgezahlt.

(2) Die Auszahlung erfolgt durch Überweisung auf ein Girokonto bei einer inländischen oder ausländischen Kreditunternehmung. Bei berücksichtigungswürdigen Umständen erfolgt die Auszahlung mit Baranweisung.

(3) Die Gebühren für die Auszahlung der Familienbeihilfe im Inland sind aus allgemeinen Haushaltsmitteln zu tragen.“

20       § 12 FLAG in der im Revisionsfall noch maßgeblichen Fassung des Finanzausgleichsgesetzes 2008, BGBl. I Nr. 103/2007, lautet:

„§ 12. (1) Das Wohnsitzfinanzamt hat bei Entstehen oder Wegfall eines Anspruches auf Familienbeihilfe eine Mitteilung auszustellen. Eine Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe ist auch über begründetes Ersuchen der die Familienbeihilfe beziehenden Person auszustellen.

(2) Wird die Auszahlung der Familienbeihilfe eingestellt, ist die Person, die bislang die Familienbeihilfe bezogen hat, zu verständigen.“

21       § 13 FLAG in der im Revisionsfall noch maßgeblichen Fassung des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl. Nr. 201/1996, und des Deregulierungsgesetzes 2017, BGBl. I Nr. 40/2017, lautet:

„§ 13. Über Anträge auf Gewährung der Familienbeihilfe hat das nach dem Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthalt der antragstellenden Person zuständige Finanzamt [ab Januar 2018: das Wohnsitzfinanzamt] zu entscheiden. Insoweit einem Antrag nicht oder nicht vollinhaltlich stattzugeben ist, ist ein Bescheid zu erlassen.“

22       Im Titel III (Besondere Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen) Kapitel 8 (Familienleistungen) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 vom 30. April 2004, in der Fassung der Berichtigung ABl. L 200 vom 7. Juni 2004, (im Folgenden VO 883/2004) lautet Art. 67 samt Überschrift:

„Artikel 67

Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.“

23       Im Titel III (Besondere Vorschriften über die verschiedenen Arten von Leistungen) Kapitel VI (Familienleistungen) der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 284 vom 30. Oktober 2009, (im Folgenden: VO 987/2009) lautet Art. 60 samt Überschrift auszugsweise:

„Artikel 60

Verfahren bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung

(1) Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.

(2) Der nach Absatz 1 in Anspruch genommene Träger prüft den Antrag anhand der detaillierten Angaben des Antragstellers und berücksichtigt dabei die gesamten tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die die familiäre Situation des Antragstellers ausmachen. Kommt dieser Träger zu dem Schluss, dass seine Rechtsvorschriften nach Artikel 68 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung prioritär anzuwenden sind, so zahlt er die Familienleistungen nach den von ihm angewandten Rechtsvorschriften. Ist dieser Träger der Meinung, dass aufgrund der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats ein Anspruch auf einen Unterschiedsbetrag nach Artikel 68 Absatz 2 der Grundverordnung bestehen könnte, so übermittelt er den Antrag unverzüglich dem zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats und informiert die betreffende Person; außerdem unterrichtet er den Träger des anderen Mitgliedstaats darüber, wie er über den Antrag entschieden hat und in welcher Höhe Familienleistungen gezahlt wurden.

[...]“

24       § 92 Abs. 1 Bundesabgabenordnung (BAO) lautet:

„F. Erledigungen.

§ 92. (1) Erledigungen einer Abgabenbehörde sind als Bescheide zu erlassen, wenn sie für einzelne Personen

a)   Rechte oder Pflichten begründen, abändern oder aufheben, oder

b)   abgabenrechtlich bedeutsame Tatsachen feststellen, oder

c)   über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses absprechen.“

25       Im Revisionsfall hat das BFG mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses die Beschwerde der Mitbeteiligten gegen die Abweisung ihres Antrages auf Ausgleichzahlung als unbegründet abgewiesen. Insoweit wird das angefochtene Erkenntnis nicht bekämpft (zu den Anforderungen an die Rechtmäßigkeit dieses Spruchpunktes vergleiche jedoch grundlegend VwGH 24.6.2021, Ro 2018/16/0040).

26       Im Revisionsfall ausschließlich strittig ist, ob das BFG im Beschwerdeverfahren berechtigt war, mit Spruchpunkt II. festzustellen, dass einerseits ein Anspruch der Mitbeteiligten auf Familienleistungen nicht besteht und andererseits der Antrag der Mitbeteiligten als Antrag zugunsten der Großmutter zu berücksichtigen ist.

27       Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.

28       Der EuGH hat bereits ausgesprochen, dass die VO 987/2009 und 883/2004 nicht bestimmen, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, auch wenn sie die Regeln festlegen, nach denen diese Personen bestimmt werden können. Welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, bestimmt sich, wie aus Art. 67 der VO 883/2004 klar hervorgeht, nach dem nationalen Recht (EuGH 22.10.2015, C-378/14, Tomislaw Trapkowski, Rn. 43-44).

29       Aus der VO 987/2009 ergeben sich keine verfahrensrechtlichen Vorgaben, wie der zuständige Träger bei der Berücksichtigung eines Antrages gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO 987/2009 vorzugehen hat.

30       Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten für das Verwaltungsverfahren und das Gerichtsverfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Diese Verfahrensmodalitäten dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (VwGH 8.8.2019, Ra 2018/04/0116, mit Verweis auf EuGH 6.10.2015, C-61/14, Orizzonte Salute, Rn. 46, mwN).

31       Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Feststellungsbescheid ergehen kann, wenn eine Partei ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat und es sich um ein notwendiges Mittel zweckentsprechender Rechtsverfolgung handelt oder wenn die Feststellung im öffentlichen Interesse liegt; dies jeweils unter der Voraussetzung, dass die maßgeblichen Rechtsvorschriften eine Feststellung dieser Art nicht ausschließen (vgl. VwGH 10.6.2020, Ra 2018/13/0109, mwN, und Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I BAO³ [2021], § 92 Rz 4, sowie Ritz BAO6, § 92 Tz 15 f). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht ein die Erlassung eines Feststellungsbescheides rechtfertigendes rechtliches Interesse dann nicht, wenn die für die Feststellung maßgebende Rechtsfrage im Rahmen eines anderen gesetzlich vorgesehenen Verfahrens zu entscheiden ist (vgl. erneut VwGH 10.6.2020, Ra 2018/13/0109, sowie VwGH 2.7.2015, Ro 2015/16/0009, mwN).

32       Ein solches anderes gesetzlich vorgesehenes Verfahren steht im Falle eines als Antrag auf Familienleistungen einer berechtigten Person, die dieses Recht nicht wahrnimmt, zu berücksichtigenden Antrages einer anderen Person gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 iVm § 10 Abs. 1 FLAG zur Verfügung. In so einem Fall hat das Finanzamt als zuständiger Träger den Antrag auf Familienleistungen der anderen Person (anderer Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder Person oder Institution, die als Vormund des Kindes handelt) als Antrag der anspruchsberechtigten, den Anspruch nicht wahrnehmenden Person zu prüfen und die für die Berücksichtigung des Antrages erforderlichen Ermittlungen nach nationalem Verfahrensrecht anzustellen. Diese Verpflichtung des zuständigen Trägers ergibt sich dabei unmittelbar aus Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009. Das Finanzamt als zuständiger Träger hat den Antrag auf Familienleistungen einer Person in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen als Antrag einer anderen Person zu berücksichtigen, wenn sich Hinweise darauf ergeben, dass die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt.

33       Da die Verpflichtung des Finanzamtes bereits unmittelbar auf Grund des Unionsrechts in Verbindung mit dem Erledigungsanspruch nach dem FLAG auf Grund eines Antrages besteht, steht der Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, und dieses Recht nicht wahrnimmt, ein Verfahren nach nationalem Recht zur Verfügung. Kommt das Finanzamt in diesem Fall - erforderlichenfalls nach Durchführung weiterer Ermittlungen - zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Auszahlung der Familienleistung vorliegen, ist die Leistung gemäß § 11 Abs. 1 FLAG auszuzahlen. Soweit dem als Antrag einer Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistung zu erheben und dieses Recht nicht wahrnimmt, mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Auszahlung der Familienbeihilfe nicht oder nicht vollständig stattzugeben ist, ist gemäß § 13 FLAG ein Bescheid zu erlassen.

34       Es ist nicht zu erkennen, dass eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, und dieses Recht nicht wahrnimmt, in diesem Fall gegenüber der den Antrag auf Familienleistung stellenden, nicht anspruchsberechtigten Person (anderer Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder Person oder Institution, die als Vormund des Kindes handelt) verfahrensrechtlich benachteiligt wäre. Erweist sich der Antrag der Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistung zu erheben, und dieses Recht nicht wahrnimmt, nach den Bestimmungen des FLAG als berechtigt, wird Familienbeihilfe gemäß § 10 Abs. 3 FLAG höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt. Als maßgeblicher Zeitpunkt gilt dabei der Zeitpunkt der Antragstellung durch die andere Person (anderer Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder Person oder Institution, die als Vormund des Kindes handelt).

35       Im vorliegenden Fall gehen das BFG und das Finanzamt übereinstimmend davon aus, dass die Mitbeteiligte nicht anspruchsberechtigt sei (vgl. demgegenüber nochmals VwGH 24.6.2021, Ro 2018/16/0040) und ihr Antrag als Antrag der in Rumänien ansässigen Großmutter des DL zu berücksichtigen ist. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO 987/2009 iVm § 10 Abs. 1 FLAG ergibt sich somit für den konkreten Fall, dass das Finanzamt den Antrag der Großmutter als im Zeitpunkt der Antragstellung durch die Mitbeteiligte gestellten Antrag auf Familienleistung zu berücksichtigen hätte. Damit stünde der Großmutter ein Verfahren zur Geltendmachung ihres Anspruches auf Familienleistungen zur Verfügung, welches dem der nicht anspruchsberechtigten Mitbeteiligten gleichwertig ist.

36       Da für die Berücksichtigung des Antrages der Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht aber nicht wahrnimmt, ein Verfahren nach dem FLAG zur Verfügung steht, besteht kein die Erlassung eines Feststellungsbescheides rechtfertigendes rechtliches Interesse dieser Person. Es ist auch nicht zu erkennen, dass die Feststellung des Anspruches der Person, die dieses Recht nicht wahrnimmt, im öffentlichen Interesse läge. Auch die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz gebieten die Erlassung eines Feststellungsbescheides nicht, zumal die Mitbeteiligte im Verfahren im Fall der Bestätigung ihres Anspruches auf Ausgleichszahlung ebenfalls keinen Anspruch auf Erlassung eines (Feststellungs-)Bescheides hätte, sondern in diesem Fall die Familienbeihilfe (Ausgleichszahlung) ausgezahlt und eine Mitteilung gemäß § 12 Abs. 1 FLAG ausgestellt werden müsste. Das Finanzamt hat daher zu Recht über den Antrag der Mitbeteiligten keinen Feststellungsbescheid erlassen.

37       Die Erlassung eines Feststellungsbescheides war damit aber auch nicht von der Sache des Beschwerdeverfahrens der Mitbeteiligten vor dem BFG umfasst. Die Änderungsbefugnis des BFG ist durch die Sache begrenzt. Sache ist die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches erster Instanz gebildet hat (vgl. VwGH 29.7.2010, 2009/15/0152; VwGH 27.9.2012, 2010/16/0032; Fischerlehner/Brennsteiner, aaO, § 279 Rz 2, sowie Ritz, BAO6, § 279 Tz 10).

38       Entscheidet das VwG in einer Angelegenheit, die überhaupt noch nicht oder in der von der Rechtsmittelentscheidung in Aussicht genommenen rechtlichen Art nicht Gegenstand des vorangegangenen Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde gewesen ist, im Ergebnis erstmals in Form eines Erkenntnisses, so fällt eine solche Entscheidung nicht in die funktionelle Zuständigkeit des VwG und die Entscheidung ist in diesbezüglichem Umfang mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet (vgl. VwGH 5.8.2020, Ra 2020/20/192; vgl. die - auf das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren übertragbare - ständige hg. Judikatur zu Berufungsentscheidungen, VwGH 21.10.2005, 2005/12/0115; 26.7.2012, 2010/07/0215; 26.3.2015, Ro 2014/11/0019).

39       Indem das BFG die im Spruchpunkt II. getätigten Feststellungen getroffen hat, ohne dass ein Feststellungsbescheides vorlag, hat es den Prozessgegenstand des Beschwerdeverfahrens überschritten und sein Erkenntnis insoweit mit Rechtswidrigkeit infolge seiner Unzuständigkeit belastet, weshalb das Erkenntnis im angefochtenen Umfang (Spruchpunkt II.) gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 23. September 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62014CJ0061 Orizzonte Salute VORAB
EuGH 62014CJ0378 Trapkowski VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020160125.L00

Im RIS seit

15.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

09.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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