TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/8 Ra 2020/20/0279

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Veröffentlicht am 08.09.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §29 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2020, L516 2144552-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: K T in L), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Pakistan, stellte am 26. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Dezember 2016 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die Feststellungen des Bescheides enthalten zur Frage der Gefahr einer landesweiten Verfolgung des Mitbeteiligten durch Taliban und andere extremistische Gruppierungen sowie zur Frage, ob der Mitbeteiligte die Möglichkeit hätte, staatlichen Schutz oder eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch zu nehmen, unter anderem die folgenden Ausführungen (Schreibfehler im Original):

„Auch ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Normalbürger (low-profile person) der unteren Mittelklasse und unteren Klasse Drohbriefe erhält. Normalerweise bekommen nur bekannte Politiker, Journalisten und Mitglieder NGOs, die sich öffentlich gegen aufständische Organisationen äußern, Drohbriefe. Wenn jedoch eine Person einen Drohbrief erhält sollte dies umgehend bei der pakistanischen Polizei gemeldet werden. Ist die Polizei allerdings nicht in der Lage die Person zu beschützen, dann kann diese Person in eine andere Stadt ziehen, um dort sicher zu sein und Arbeit zu finden (BFA 9.2015).

...

17.Bewegungsfreiheit

...

Laut Bericht des Vertrauensanwaltes kann eine Person, die aus einem Konfliktherd mit Taliban flieht, relativ sicher in einer pakistanischen Stadt in den Provinzen Sindh oder Punjab leben. Hinsichtlich der Sicherheit existieren in Pakistan - schon aufgrund der Größe des Landes - interne Fluchtalternativen. Wenn die Taliban direkt eine Person verfolgen, ist es schwierig sich zu verstecken. Karatschi kann im Allgemeinen eine Option für Sicherheit sein, inwieweit, hängt allerdings vom Profil der Person und von der Art des Konfliktes ab, vor dem die Person flieht. Es muss sorgfältig auf einer Einzelfallbasis abgeklärt werden und hängt von der Ernsthaftigkeit des jeweiligen Konfliktes ab, ob diese Person durch die Taliban gesucht und gefunden werden wird. Paschtunen haben ein enges Familiennetz und da die meisten in Karatschi wieder in diesem Familiennetz bzw. der ‚Community‘ leben, kann man sie über diesen Weg finden. Aufgrund der Größe Pakistans ist es jedoch möglich, sich dem Zugriff der Taliban zu entziehen (ÖB 25.7.2013). Eine ‚low profile‘ Person, die z.B. nach Karatschi flüchtet, wird dort von den Taliban nicht aufgespürt werden, da es für die Taliban auch keine Priorität hat, ‚low profile‘ Personen zu suchen (ÖB 25.7.2013; vgl. auch: BFA 9.2015).

Nach Einschätzung des Vertreters des PIPS (Pakistan Institute for Peace Studies) ist es nicht die Strategie der Taliban, einzelne Personen durch das Land zu verfolgen (BAA 6.2013).

...

Es wird jedenfalls festgestellt, dass hieramts keine Erkenntnisse aufliegen, dass Ihr Heimatstaat über keinen funktionierenden Sicherheitsapparat verfügt, oder nicht in der Lage wäre Ihnen mittels dieses Sicherheitsapparates auch Schutz zu gewähren. In Gegenüberstellung dieses Befragungsergebnisses zu den Ihnen zur Kenntnis gebrachten landeskundlichen Feststellungen ist zunächst einmal zu sagen, dass Ihr Herkunftsstaat trotz marginaler Defizite in der Wahrung von Bürgerrechten im Grundsätzlichen willens und fähig ist seinen Bürgern Schutz und Hilfe vor strafrechtsrelevanten Übergriffen zu bieten, das sagen die beigeschafften Dokumentationsquellen ganz klar. Sie gaben an, dass ‚Levey Force‘ die zuständige Polizei in Ihrem Gebiet ist und diese Ihnen nicht helfen könne. Jederzeit wäre es Ihnen möglich gewesen, sich in einem anderen Teil Pakistans unter den Schutz des Staates zu stellen.“

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu und stellte gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. fest, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

5        Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte komme aus der Nähe von P in der Kurram Agency, Provinz Khyber Pakhtukhwa (bis 2018 Gebiet der FATA). Er habe in der Kurram Agency gelebt; zuletzt in einem Haus gemeinsam mit seinen Eltern, einem Bruder, seiner Ehefrau und zwei Kindern. Der Mitbeteiligte stamme „grundsätzlich“ aus einer wohlhabenden und „bildungsnahen“ Familie. Er sei jedoch, „wie in seiner Heimatregion und Stammeskultur nicht unüblich“, von seinem Vater gezwungen worden, eine Ehe gegen seinen Willen einzugehen und habe sich diesem Zwang im Jahr 2003 gefügt. Einer seiner Brüder, der gegen seinen Willen heiraten hätte sollen, habe deswegen einen Suizidversuch unternommen. Ein Mädchen aus der Verwandtschaft des Mitbeteiligten, das ebenfalls zwangsverheiratet worden sei, habe nach der Eheschließung Selbstmord verübt. Aufgrund dieser „persönlichen Erfahrungen“ habe sich der Mitbeteiligte entschlossen, sich „im Anschluss an die konfliktreichen Jahre 2007-2012 in der Kurram Agency“ in seiner Heimat regelmäßig für Mädchen und Frauen einzusetzen. Dazu habe er „neben seiner beruflichen Tätigkeit als Inhaber eines Supermarktgeschäftes“ mehrmals monatlich Dörfer in seiner Heimatregion aufgesucht und sich öffentlich bei den jeweiligen Dorfältesten für die Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft, gegen Zwangsehen und für den Schulbesuch von Mädchen eingesetzt. Auf einem familieneigenen Grundstück, auf dem sich bereits eine öffentliche Schule für Buben befunden habe, habe der Mitbeteiligte einen Zubau für eine Mädchenschule initiiert, der von der öffentlichen Hand errichtet worden sei. Diese öffentliche Schule sei während seines Aufenthalts in Österreich fertiggestellt worden und inzwischen würden dort Mädchen unterrichtet. Der Mitbeteiligte sei „wegen und im Zuge dieser Tätigkeit“ wiederholt von religiös-fundamentalistischen sunnitisch-extremistischen Gruppierungen mit dem Umbringen bedroht worden, weil sein Handeln von diesen als gegen die Vorschriften der Scharia und gegen ihre gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen erachtet worden sei. Als seine Angst und die Bedrohung zu groß geworden seien, habe er sich zum Verlassen des Landes entschlossen. Dem Mitbeteiligten sei „sein Einsatz für die Rechte und Gleichstellung der Frauen aufgrund seiner persönlichen Biographie sehr wichtig und er würde diese Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Pakistan in seiner Heimatregion wieder fortsetzen wollen“.

6        Zur Lage im Herkunftsland des Mitbeteiligten traf das BVwG unter anderem Feststellungen zu „Blutfehden, Ehrverbrechen, erzwungene[r] und unakzeptierte[r] Heirat und andere[n] schädliche[n] traditionell[en] Praktiken“ sowie zum Thema „Bildung für Mädchen in Pakistan“.

7        In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass dem Mitbeteiligten „aufgrund seines aktiven Einsatzes für die Rechte von Frauen und Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und seiner damit offen gegen die politischen und religiösen Ziele der Taliban und anderer religiös-fundamentalischer Extremisten demonstrierten religiös-politischen Ansichten“ bei einer Rückkehr in seine Heimat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine aktuelle und unmittelbare persönliche und konkrete Verfolgung im Sinne eines ungerechtfertigten Eingriffes von erheblicher Intensität in seine persönliche Sphäre drohe. Der Mitbeteiligte habe seine Heimat „vorverfolgt“ verlassen müssen und sei „bereits in exzeptioneller Weise ins Blickfeld von Extremisten geraten“. Dem Mitbeteiligten sei sein Einsatz für die Rechte und Gleichstellung der Frauen aufgrund seiner persönlichen Biographie sehr wichtig und er würde diese Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Pakistan „in seiner Heimatregion wieder fortsetzen wollen“, sodass damit eine innerstaatliche Fluchtalternative ausscheide. Es sei dem Mitbeteiligten nicht zuzumuten, „seine gesellschaftspolitische Überzeugung zu unterdrücken“. Wenn auch im Allgemeinen von einer generellen Schutzfähigkeit des pakistanischen Staates auszugehen sei, ergebe sich im speziellen Fall des Mitbeteiligten, dass dieser in ganz exzeptioneller Weise von Taliban-Gruppierungen, respektive radikal islamischen Organisationen verfolgt werde, weshalb eine Schutzgewährung durch den pakistanischen Staat aufgrund der besonderen Umstände ausscheide. Mit der Glaubhaftmachung, dass ihm im Herkunftsland Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (hier: aus Gründen der politischen Gesinnung) drohe, sei die entsprechende Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erfüllt (Hinweis auf VwGH 2.9.2015, Ra 2015/19/0143). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG mit dem Hinweis für unzulässig, dass „die relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung geklärt“ sei.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11       Das BFA bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes (VwGH 27.5.2020, Ra 2019/14/0566; 6.4.2020, Ra 2019/01/0443) abgewichen, weil es sich weder mit der im Bescheid vom 9. Dezember 2016 enthaltenen Feststellung auseinandergesetzt habe, dass Personen mit einem „low profile“ wie der Mitbeteiligte nach den Länderberichten von den Taliban nicht landesweit gesucht würden, noch damit, dass das BFA im Bescheid konkret dargelegt habe, dass dem Mitbeteiligten an näher genannten Orten keine Verfolgung drohe und ihm dort vor dem Hintergrund der allgemeinen Sicherheitslage und der zu erwartenden Unterstützung durch seine Familie die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumutbar sei. Das BVwG habe sich auch mit den Ausführungen des BFA nicht auseinandergesetzt, dass der Mitbeteiligte kein „high value target“ sei. Der Verwaltungsgerichtshof habe in vergleichbaren Konstellationen erkannt, dass sich das BVwG mit den diesbezüglichen Feststellungen auseinandersetzen und konkret darlegen müsse, warum der Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet seines Herkunftslands, insbesondere in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle der Taliban stehen, über Jahre hinweg von diesen gesucht und gefunden werden würde. In Bezug auf den Mitbeteiligten habe das BVwG dazu lediglich ausgeführt, dass er in seiner Heimatregion seinen Einsatz für Frauenrechte fortsetzen und dadurch wieder in das Blickfeld der Taliban oder anderer religiöser Extremisten geraten werde.

12       Das BVwG verkenne das Konzept der innerstaatlichen Fluchtalternative. Diese scheide nicht deswegen aus, weil ein Asylwerber in seiner Heimatregion verfolgt werde, sondern erst dann, wenn sich die Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet erstrecke oder die Neuansiedlung an einem „verfolgungsfreien Ort“ nicht zumutbar wäre (Hinweis auf VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192). Der Mitbeteiligte habe weder vorgebracht, sein Engagement außerhalb seiner Herkunftsregion fortsetzen zu wollen, noch habe das BVwG dargelegt, dass dieses auch an den als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Orten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung führen werde.

13       Das BVwG vertritt - was auch in einer anlässlich der Vorlage der Revision unaufgefordert erstatteten Stellungnahme bekräftigt wird - die Ansicht, dass die Prüfung, ob der Mitbeteiligte eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen könne, bereits aufgrund der Eigenart der als Asylgrund angenommenen politischen Gesinnung (auf deren Ausübung außerhalb der Heimatregion des Mitbeteiligten - unzumutbarerweise - verzichtet werden müsse) des Mitbeteiligten ausscheiden müsse.

14       Feststellungen, aus denen sich eine solche Beurteilung ableiten ließe, hat das BVwG jedoch nicht getroffen. Es hat zwar ausgeführt, dass dem Mitbeteiligten der Einsatz für die Rechte und Gleichstellung der Frauen aufgrund seiner persönlichen Biographie „sehr wichtig“ sei und er diese Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Pakistan „in seiner Heimatregion wieder fortsetzen wollen“ würde. In der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses findet sich zudem der allgemein gehaltene Satz, dass es dem Mitbeteiligten „nicht zuzumuten“ sei, „seine gesellschaftspolitische Überzeugung zu unterdrücken“. Feststellungen, auf die das BVwG diese Beurteilung stützen könnte, lässt das angefochtene Erkenntnis jedoch vermissen.

15       Die Revision ist vor diesem Hintergrund zulässig und begründet.

16       Zudem ist das BVwG, wenn es von einer Entscheidung des BFA abweichen will, gehalten, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).

17       Die Amtsrevision rügt in diesem Zusammenhang - zu Recht - ausgehend von den Länderberichten eine fehlende Auseinandersetzung des BVwG damit, ob Personen, die nach den im Bescheid des BFA getroffenen Annahmen kein „high value target“ darstellen, im gesamten Staatsgebiet Pakistans gesucht und gefunden werden würden. Betreffend die Annahme einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr des Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet Pakistans hat das BVwG entschieden, ohne auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA zu diesem Thema einzugehen und ohne die davon abweichenden Annahmen nachvollziehbar zu begründen. Der nicht näher begründete Hinweis darauf, dass der Mitbeteiligte bereits „in exzeptioneller Weise ins Blickfeld von Extremisten geraten“ sei, vermag eine solche Auseinandersetzung nicht darzustellen.

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

Wien, am 8. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200279.L00

Im RIS seit

04.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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