TE Vwgh Beschluss 2021/9/9 Ra 2021/08/0079

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Veröffentlicht am 09.09.2021
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §5 Abs2
ASVG §5 Abs3 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Tulln in 3100 St. Pölten, Daniel-Gran-Straße 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2021, Zl. W164 2239395-1/5E, betreffend Einstellung und Rückforderung von Arbeitslosengeld (mitbeteiligte Partei: R in W), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) sprach mit Bescheid vom 24. Juli 2020 aus, dass der Bezug des Arbeitslosengeldes des Mitbeteiligten im Zeitraum 20. bis 31. Mai 2020 gemäß § 24 Abs. 2 AlVG „widerrufen bzw. rückwirkend berichtigt“ und er gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zum Ersatz des unberechtigt empfangenen Arbeitslosengeldes in Höhe von € 438,72 verpflichtet werde. Begründend wurde ausgeführt, der Mitbeteiligte habe die Leistung im genannten Zeitraum zu Unrecht bezogen, weil er in einem Dienstverhältnis bei der M.-GmbH gestanden sei.

2        Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Das AMS wies diese Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom 20. Jänner 2021 als unbegründet ab.

3        Auf Grund des Vorlageantrags des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis der Beschwerde statt, und es sprach aus, dass „der angefochtene Bescheid“ (richtigerweise: die Beschwerdevorentscheidung) gemäß § 28 Abs. 1, 2 und 5 VwGVG (ersatzlos) aufgehoben werde.

4        Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass dem Mitbeteiligten ab 28. März 2020 Arbeitslosengeld in der Höhe von täglich € 36,56 zuerkannt worden sei. Im Folgenden habe er mit der Dienstgeberin M.-GmbH einen schriftlichen freien Dienstvertrag mit Arbeitsbeginn am 20. Mai 2020 und einem Entgelt von € 3,24 pro erledigter (das heißt gelieferter) (Essens-)Bestellung abgeschlossen. Es seien weder eine bestimmte Arbeitszeit noch eine Mindest- oder Höchststundenzahl pro Tag oder Woche festgelegt worden. Auf ihrer Homepage werbe die Dienstgeberin neue Mitarbeiter sowohl für Angestelltendienstverhältnisse als auch für freie Dienstverhältnisse an, wobei laut Werbespruch für beide „Teilzeit? Vollzeit? Deine Entscheidung!“ gelte. Freie Dienstnehmer würden insbesondere mit folgenden sich auf die Arbeitszeit beziehenden Formulierungen angeworben: „zeitlich flexibel also ohne fixe Arbeitszeiten“, „Flexible Einplanung der Schichten über unsere App“.

5        Für den Monat Mai habe der Mitbeteiligte auf Grund der Beschäftigung bei der M.-GmbH ein Einkommen von € 220,84 (Vergütung für 66 Bestellungen plus Trinkgeld) erzielt.

6        Zur Rechtsfrage, ob dieses die monatliche Geringfügigkeitsgrenze unterschreitende Einkommen dennoch zu einem vollversicherungspflichtigen Dienstverhältnis führte, weil im Sinn des § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG die Geringfügigkeitsgrenze nur deshalb nicht überschritten wurde, weil die unbefristet vereinbarte Beschäftigung erst im Lauf des betreffenden Kalendermonats begonnen wurde, führte das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus: Der vorliegende freie Dienstvertrag enthalte keine Hinweise auf eine im Vorhinein quantitativ festgelegte Arbeitspflicht. Vor dem Hintergrund der in den Feststellungen dargestellten Aussagen betreffend die freie Entscheidung über Umfang und Lage der Dienstzeit sei davon auszugehen, dass es Sache des Mitbeteiligten gewesen sei, sein zeitliches Arbeitsausmaß durch Übernahme von einzelnen Schichten selbst zu bestimmen. Soweit das AMS in der Beschwerdevorentscheidung ein fiktives Monatsentgelt unter Zugrundelegung von zwei erledigten Bestellungen pro Stunde bei einem 8-Stunden-Tag und einer 5-Tage-Woche errechnet habe, sei dem entgegen zu halten, dass sich der Mitbeteiligte gerade zu keiner im Vorhinein bestimmten Arbeitszeit verpflichtet habe, auch nicht im Sinne einer Mindestarbeitszeit pro Monat. Die vom AMS zugrunde gelegte Entgeltberechnung entspreche nicht der höchstgerichtlichen Judikatur (Hinweis auf VwGH 13.10.2020, Ro 2016/08/0005). Tatsächlich sei das vom Mitbeteiligten im Mai 2020 erzielte Bruttoentgelt unter der anzuwendenden monatlichen Geringfügigkeitsgrenze von € 460,66 geblieben.

7        Der Mitbeteiligte sei somit vom 20. bis 31. Mai 2020 nicht vollversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, sodass er gemäß § 12 Abs. 6 lit. a AlVG arbeitslos gewesen sei. Für einen Widerruf des Arbeitslosengeldes und eine Rückforderung des Überbezugs bestehe daher keine Grundlage.

8        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9        Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

11       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12       Unter diesem Gesichtspunkt wird in der Amtsrevision geltend gemacht, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei. Der im vorliegenden Fall zu beurteilende freie Dienstvertrag überlasse das Ausmaß der Arbeitsleistung und damit des erzielbaren Einkommens dem Dienstnehmer. Der Dienstgeber stelle es dadurch dem Dienstnehmer frei, ob die Arbeitsleistung geringfügig sei oder in einem höheren Ausmaß erbracht werde. Aus diesem Grund übersteige das im Mai 2020 erzielte Entgelt nur deshalb nicht die Geringfügigkeitsgrenze, weil die Beschäftigung im Lauf des Kalendermonats - nämlich am 20. Mai 2020 - begonnen habe.

13       Dieses Vorbringen führt nicht zur Zulässigkeit der Revision.

14       Gemäß § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG liegt kein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis vor, wenn das im Kalendermonat gebührende Entgelt den in Abs. 2 genannten Betrag (Geringfügigkeitsgrenze) nur deshalb nicht übersteigt, weil infolge Arbeitsmangels im Betrieb die sonst übliche Zahl von Arbeitsstunden nicht erreicht wird (Kurzarbeit) oder die für mindestens einen Monat oder auf unbestimmte Zeit vereinbarte Beschäftigung im Lauf des betreffenden Kalendermonates begonnen oder geendet hat oder unterbrochen wurde. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon im Erkenntnis VwGH 20. Februar 2020, Ra 2019/08/0156, hervorgehoben hat, darf es also „nur“ auf einen der genannten Gründe (hier: Beginn der Beschäftigung im Lauf des Kalendermonats) zurückzuführen sein, dass die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten wird.

15       Dass davon im vorliegenden Fall auszugehen wäre, legt die Amtsrevision nicht schlüssig dar. Steht es dem Dienstnehmer frei, das Ausmaß seiner Arbeitszeit selbst festzulegen, so kann in der Regel nämlich gerade nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass er bei einem früheren Beginn des Beschäftigungsverhältnisses die gleichen Arbeitsleistungen pro Tag oder Woche erbracht hätte wie in der Zeit der tatsächlichen Beschäftigung im „Rumpfmonat“. Im vorliegenden Fall war es vielmehr - auch unter Bedachtnahme auf das Arbeitsausmaß im ersten vollen Beschäftigungsmonat, in dem der Mitbeteiligte ein Einkommen unter der Geringfügigkeitsgrenze erzielte - naheliegend, dass der Mitbeteiligte seine Arbeitszeiten auch bei einem früheren Beginn des Beschäftigungsverhältnisses so gewählt hätte, dass die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten worden wäre. Besteht aber kein Hinweis auf eine umfangreichere Arbeitspflicht (bzw. bei - wie hier - freier Zeiteinteilung auf eine umfangreichere tatsächliche Arbeitsleistung) bei einem vereinbarten früheren Beginn des Dienstverhältnisses im betreffenden Monat bzw. auf einen damit verbundenen höheren Entgeltanspruch, so ist es nicht zulässig, das erzielte Entgelt auf den gesamten Monat fiktiv hochzurechnen (vgl. die auch vom Bundesverwaltungsgericht zitierte Entscheidung VwGH 13.10.2020, Ro 2016/08/0005) oder der Berechnung eine bestimmte fiktive Arbeitszeit zugrunde zu legen.

16       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 9. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021080079.L00

Im RIS seit

30.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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