TE Vwgh Beschluss 2021/9/8 Ra 2021/20/0166

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Veröffentlicht am 08.09.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §138
BFA-VG 2014 §9
MRK Art8
VwRallg

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/20/0167
Ra 2021/20/0168
Ra 2021/20/0169
Ra 2021/20/0170

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, in den Rechtssachen der Revisionen 1. der S L, 2. des I L, 3. der D L, 4. der P L, und 5. der R L, alle in Graz, alle vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 25. März 2021, 1. I410 2152909-2/16E, 2. I410 2152908-2/15E, 3. I410 2152906-2/14E, 4. I410 2187814-2/14E und 5. I410 2237605-1/8E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1        Die Erstrevisionswerberin, eine nigerianische Staatsangehörige, stellte für sich und ihren (im Jahr 2010 geborenen) minderjährigen Sohn, den Zweitrevisionswerber, nach gemeinsamer unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 3. Juni 2015 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005. Die weiteren revisionswerbenden Parteien sind ebenfalls minderjährige Kinder der Erstrevisionswerberin, für die nach der (in den Jahren 2016, 2018 und 2020 erfolgten) Geburt gleichfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden und die der Beziehung mit K J entstammen. Sämtliche Kinder der Erstrevisionswerberin sind gleichfalls Staatsangehörige von Nigeria. Auch K J, der im Jahr 2014 unrechtmäßig in Österreich eingereist war, stammt aus Nigeria und stellte im Bundesgebiet (mehrfach) einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies die Anträge der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien mit den Bescheiden je vom 22. März 2017 (erst- bis drittrevisionswerbende Parteien) und vom 14. Februar 2018 (Viertrevisionswerberin) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden gab das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. Oktober 2018 statt und hob die Bescheide auf.

4        Mit den Bescheiden je vom 6. Februar 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien erneut ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Gleichlautende Entscheidungen ergingen betreffend einen von K J gestellten Folgeantrag ebenfalls mit vom 6. Februar 2019 stammendem Bescheid sowie betreffend den für die Fünftrevisionswerberin (nach der im September 2020 erfolgten Geburt) gestellten Antrag mit Bescheid vom 26. November 2020.

5        Die gegen sämtliche Bescheide gerichteten Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den Erkenntnissen je vom 25. März 2021 als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig sei.

6        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

8        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9        Zur Begründung der Zulässigkeit der Revisionen, die nicht auch von K J erhoben wurde, wird geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe keine ausreichenden Ermittlungen zur Lage in Nigeria vorgenommen und bei seiner Beurteilung die spezielle Vulnerabilität von Kindern sowie das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt.

10       Werden Verfahrensmängel - wie hier Begründungs- und Ermittlungsmängel (durch die Behauptung der Heranziehung veralteter Länderberichte) - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für die revisionswerbenden Parteien günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 21.6.2021, Ra 2021/20/0024, mwN).

11       Es gelingt den revisionswerbenden Parteien nicht, die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensmängel aufzuzeigen.

12       Die revisionswerbenden Parteien stützen sich als Grundlage ihrer weiteren Überlegungen auf die (bloße) Behauptung, die Erstrevisionswerberin und ihre Kinder wären in Nigeria auf sich allein gestellt. Demgegenüber ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die revisionswerbenden Parteien gemeinsam mit K J, über dessen Antrag ebenfalls mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. März 2021 abgesprochen und gegen den gleichfalls eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, nach Nigeria zurückkehrten. Vor dem Hintergrund der (übereinstimmenden) Angaben der Erstrevisionswerberin und des K J in der Verhandlung zur ihrem Familienleben stellt sich die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dass die revisionswerbenden Parteien und K J gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückkehren werden, als unbedenklich dar.

13       Sämtlichen auf einer anderslautenden Prämisse beruhenden Vorbringen ist somit der Boden entzogen. Entfernt sich - wie hier - eine Revision von den Feststellungen, ist das diesbezügliche Vorbringen nicht geeignet, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen (vgl. VwGH 29.4.2021, Ra 2021/20/0126, mwN).

14       Im Übrigen wird, soweit die revisionswerbenden Parteien die Beurteilung ansprechen, ob sie im Fall der Rückkehr in ihr Heimatland eine Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts zu gewärtigen haben, der Sache nach nur auf schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen hingewiesen. Das reicht aber nicht aus, um eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verletzung von Art. 3 EMRK darzutun. Eine solche Verletzung kann zwar auch dann vorliegen, wenn der Betroffene im Herkunftsstaat keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist aber nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Es ist daher zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 29.6.2021, Ra 2021/14/0200, mwN). Dass fallbezogen solche exzeptionellen Umstände gegeben wären, ist schon aus dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien nicht abzuleiten (vgl. zudem dazu, dass es für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2 Virus und von Erkrankungen an Covid-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2021/20/0062 bis 0064, mwN).

15       Weiters wenden sich die revisionswerbenden Parteien gegen die vom Bundesverwaltungsgericht erlassenen Rückkehrentscheidungen.

16       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 4.6.2021, Ra 2021/20/0177, mwN).

17       Das Bundesverwaltungsgericht kam nach Durchführung einer Verhandlung zum Ergebnis, dass in den vorliegenden Fällen die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der revisionswerbenden Parteien am Verbleib im Bundesgebiet überwögen. Bei der dazu vorgenommenen Gesamtbetrachtung berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht alle entscheidungswesentlichen Umstände und nahm auch auf das Kindeswohl Bedacht.

18       Die revisionswerbenden Parteien, die sich auf den letztgenannten Aspekt konzentrieren, sind darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) vorzunehmenden Interessenabwägung den Kriterien des § 138 ABGB nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes lediglich die Funktion eines „Orientierungsmaßstabs“ zukommt. Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 16.6.2021, Ro 2021/01/0013, mwN).

19       Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Beurteilung die fallbezogen relevanten Umstände näher beleuchtet und auf die Situation der minderjährigen zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien ausreichend Rücksicht genommen. Den revisionswerbenden Parteien gelingt es nicht aufzuzeigen, dass das Bundesverwaltungsgericht die Gewichtung der für und gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen sprechenden Umstände nicht anhand der Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorgenommen hätte. Dass das Verwaltungsgericht zum Ergebnis gekommen ist, die Erlassung der Rückkehrentscheidungen sei im Licht des Art. 8 EMRK nicht als unverhältnismäßig anzusehen, stellt sich nicht als unvertretbar dar.

20       Von den revisionswerbenden Parteien werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 8. September 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200166.L00

Im RIS seit

27.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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