TE Vwgh Beschluss 2021/9/1 Ra 2021/19/0245

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Veröffentlicht am 01.09.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache des M T N, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2021, W177 2178924-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 14. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 14. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Begründend führte das BVwG - soweit hier maßgeblich - hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen aus, dem Revisionswerber sei zwar eine Rückkehr in die Heimatprovinz Parwan aufgrund der dort herrschenden allgemein schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar, jedoch sei ihm eine Rückkehr nach Kabul, wo er sich zuletzt in Afghanistan regelmäßig aufgehalten habe, sowie eine Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif möglich.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen (vgl. etwa VwGH 27.6.2017, Ra 2017/18/0005, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.

9        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG hätte hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 1. April 2021 heranziehen müssen, insbesondere für die Beurteilung der sozioökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Lage am Arbeitsmarkt. Die Ernährungsunsicherheit habe inzwischen ein ähnliches Niveau wie während der Dürre im Jahr 2018 erreicht. Aufgrund der COVID-19-Pandemie seien Rückkehrprojekte von IOM kurzfristigen Änderungen unterworfen. Die Lage in Afghanistan habe sich so verschlechtert, dass der Revisionswerber auch als junger, kräftiger Mann in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht Fuß fassen könne.

10       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das BVwG hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach dargestellt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; sowie etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative letztlich eine - von der Asylbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu treffende - Entscheidung im Einzelfall dar, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu treffen ist (vgl. etwa VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0314, mwN).

12       Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen. Im Besonderen hinsichtlich der aktuellen COVID-19-Pandemie in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an COVID-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Entsprechendes gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. wiederum VwGH Ra 2021/19/0017, mwN).

13       Das BVwG traf (auf Grundlage des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 16. Dezember 2020) Feststellungen zur Lage in Afghanistan, insbesondere zur Sicherheits- und Versorgungslage und zur Situation von Rückkehrern sowie zur COVID-19-Pandemie und ihren Auswirkungen auf den dortigen Arbeitsmarkt und die Versorgungslage. Es legte seiner Beurteilung zu Grunde, dass es sich beim Revisionswerber um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann mit achtjähriger Schulbildung in Afghanistan handle, der zusätzliche Qualifikationen in Österreich erworben habe, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, Dari als Muttersprache spreche und Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne. Die Revision zeigt nicht auf, dass - selbst unter Berücksichtigung der in der Revision zitierten zusätzlichen Länderinformationen - die Beurteilung des BVwG, dem Revisionswerber stehe zumindest in der Stadt Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen unvertretbar wäre (vgl. etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057; 22.4.2021, Ra 2021/19/0088, mwN).

14       Die Revision wendet sich zu ihrer Zulässigkeit auch gegen die Rückkehrentscheidung und bringt dazu vor, das BVwG sei bei der Abwägungsentscheidung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Es habe die außergewöhnliche Integration des Revisionswerbers nicht hinreichend berücksichtigt und seiner Beurteilung unrichtige Annahmen über dessen Berufsausbildung und -erfahrung sowie dessen Mitgliedschaft in einem Verein zu Grunde gelegt.

15       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. neuerlich VwGH Ra 2021/19/0017, mwN).

16       Das BVwG hat - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - im Rahmen der Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen Umstände berücksichtigt und ist im Ergebnis von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen gegenüber den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich ausgegangen. Dabei hat es auch die Deutschkenntnisse des Revisionswerbers, sein gesellschaftliches Engagement und seine gemeinnützigen Tätigkeiten, die Vorlage einer Einstellungszusage sowie seine freundschaftlichen Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern berücksichtigt. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.

17       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 1. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190245.L01

Im RIS seit

20.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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