TE Bvwg Beschluss 2021/6/28 W104 2216195-2

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Veröffentlicht am 28.06.2021
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Entscheidungsdatum

28.06.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
NÖ NSchG 2000 §18 Abs4
UVP-G 2000 §40 Abs1
UVP-G 2000 §5
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §32
VwGVG §32 Abs1 Z2
VwGVG §32 Abs2

Spruch


W104 2216195-2/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Christian Baumgartner als Vorsitzenden und die Richterin Mag. Katharina David als Beisitzerin sowie den Richter Dr. Günther Grassl als Beisitzer über den Antrag der 1. der Bürgerinitiative XXXX und 2. der Bürgerinitiative XXXX , beide vertreten durch die Zacherl Schallaböck Proksch Manak Kraft Rechtsanwälte GmbH, auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossenen UVP-Genehmigungsverfahrens beschlossen:

A)       Der Antrag wird abgewiesen.

B)       Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1 Mit Schreiben vom 8.7.2016 beantragte das Land Niederösterreich (in der Folge: mitbeteiligte Partei) bei der Niederösterreichischen Landesregierung gemäß § 5 UVP-G 2000 die Erteilung einer Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb des Straßenbauvorhabens „B17 Umfahrung Wiener Neustadt Ost, Teil 2“.

Mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 15.1.2019, RU4-U-864/046-2018, wurde dem Land Niederösterreich die Bewilligung für die Umsetzung des Straßenbauvorhabens „B17 Umfahrung Wiener Neustadt Ost, Teil 2“ nach dem UVP-G 2000 unter Anwendung materienrechtlicher Bestimmungen erteilt.

1.2. Dagegen erhoben unter anderem die Antragstellerinnen im gegenständlichen Verfahren Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Das Bundesverwaltungsgericht führte ein ergänzendes Ermittlungsverfahren durch und holte weitere gutachterliche Stellungnahmen zu den Beschwerdevorbringen, unter anderem zum Fachbereich Naturschutz ein. Die mitbeteiligte Partei ergänzte im Zuge des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens mehrfach die Bewilligungsunterlagen, unter anderem auch zum Bereich Naturraum und Bodennutzungen. Die Beschwerdeführer/innen äußerten sich dazu im Zuge des ihnen gewährten Parteiengehörs.

Am 3. und 4.9.2020, am 18.9.2020, am 7.10.2020 sowie am 9.12.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der die jeweils ergänzend eingeholten Gutachten, insbesondere auch zum Fachbereich Naturschutz und zum Thema „Ziesel“, erörtert wurden.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, wurde der Bescheid aufgrund der Beschwerden abgeändert und es wurden zahlreiche Nebenbestimmungen geändert oder neu erlassen. Der angefochtene Bescheid der UVP-Behörde wurde unter der Maßgabe der Vorschreibung von umfangreichen Nebenbestimmungen bestätigt. Zum Fachbereich Naturschutz wurden insbesondere betreffend Zieselvorkommen sowie eine etwaige Beeinträchtigung des Naturschutzgebietes Kalkschottergrube Eggendorf umfangreiche Feststellungen (Punkt 1.6.3. und 1.6.5. der Begründung) getroffen und Nebenbestimmungen betreffend die Berücksichtigung des Ziesels bei den Aufgaben der ökologischen Bauaufsicht (Spruchpunkt I.1.), notwendige Pflegemaßnahmen für die vorgesehene Ziesel-Ausgleichsfläche (Spruchpunkt I.3.), den Schutz der Zieselpopulation vor erheblichen Erschütterungen während der Zeit des Winterschlafes (Spruchpunkt I.4.), Pflege und Freihaltung der Zieselquerungshilfen und Zieselleiteinrichtungen (Spruchpunkt I.5.) und Verbesserungen an der Konzeption der Kleintierdurchlässe (Spruchpunkt I.6.) vorgeschrieben.

Dazu führte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis (Punkt 2.5. der Begründung) im Wesentlichen aus, dass es durch das Vorhaben zu keiner Beeinträchtigung eines Europaschutzgebietes komme, weshalb keine Bewilligungspflicht des Vorhabens nach § 10 NÖ NSchG 2000 bestehe. Beim Ziesel (Spermophilus citellus) handle es sich jedoch um eine geschützte Art gemäß der NÖ Artenschutzverordnung, weshalb es nach § 18 Abs. 4 NÖ NSchG 2000 unter anderem verboten sei, Tiere zu verfolgen, absichtlich zu beunruhigen, zu fangen, zu halten, zu verletzen oder zu töten (Z 2), Brut- oder Zufluchtstätten zu beschädigen, zu zerstören oder wegzunehmen (Z 3) sowie Störungen der Arten zu verursachen (Z 4). Durch das gegenständliche Vorhaben komme es zu einer Beunruhigung einzelner Ziesel während der Bauphase durch lärm- und erschütterungsintensive Tätigkeiten in unmittelbarer Nähe der Zieselbauten sowie durch absichtliche Vergrämung, wobei die Bestimmung des § 18 Abs. 4 Z 2 NÖ NschG 2000 über die Erfordernisse des Art. 12 Abs. 1 der FFH-Richtlinie hinausgehe und auch die bloße absichtliche „Beunruhigung“ jedes einzelnen Tieres verbiete. Damit sei der Verbotstatbestand des § 18 Abs. 4 Z 2 NÖ NSchG 2000 erfüllt. Außerdem komme es zur Vertreibung der Tiere aus ihren Bauten auf Ausgleichsflächen, wo diese nur vorbereitete Löcher vorfänden, in denen sie sich verstecken können. Da die Tiere neue Baue anschließend selbst errichten müssen, sei nicht sicherstellt, dass die Funktionalität der Zieselbaue zu jeder Zeit vollständig erhalten bleibe. Auch der Verbotstatbestand des § 18 Abs. 4 Z 3 NÖ NSchG 2000 (Beschädigung oder Zerstörung von Nestern, Nist-, Brut- oder Zufluchtstätten) sei daher erfüllt. Der Verbotstatbestand nach § 18 Abs. 4 Z 4 NÖ NSchG 2000 (Störungen an Lebens-, Brut- und Wohnstätten) sei hingegen nicht erfüllt, da sich das Störungsverbot nicht auf einzelne Individuen, sondern auf Arten beziehe, und nur erfüllt sei, wenn durch die betreffende Handlung die Überlebenschancen, der Fortpflanzungserfolg oder die Reproduktionsfähigkeit einer geschützten Art vermindert werden oder diese Handlung zu einer Verringerung des Verbreitungsgebietes führt. Zu derartigen Störungen komme es durch das gegenständliche Vorhaben nicht.

Insgesamt komme es daher zur Erfüllung der Verbotstatbestände des § 18 Abs. 4 Z 2 und 3 NÖ NSchG 2000. Die Landesregierung könne jedoch gemäß § 20 Abs. 4 NÖ NSchG Ausnahmen von den Vorschriften nach § 18 leg. cit. gestatten, sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gebe und die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmegenehmigung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen. Eine anderweitige zufriedenstellende Lösung bestehe im vorliegenden Fall nicht. Auch wenn sich die Population des Ziesels weder national, noch bezogen auf die biogeografische Region in einem günstigen Erhaltungszustand befinde, könne auch nach Verwirklichung des Vorhabens davon ausgegangen werden, dass die lokale bzw. regionale Population ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bilde und langfristig weiterhin bilden werde. Der Erhaltungszustand der lokalen Zieselpopulation werde durch das gegenständliche Vorhaben weder verschlechtert, noch werde eine Verbesserung verhindert. Von den weiteren Voraussetzungen gemäß § 20 Abs. 5 NÖ NSchG für die Erteilung einer Ausnahmebewilligung komme nur der Grund des zwingenden überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich sozialer und wirtschaftlicher Art, in Frage. Hauptziel des Projektes sei die Verbesserung der Erschließbarkeit von Gewerbegrundstücken sowie von regional und überregional bedeutender Infrastruktur, etwa Gesundheitseinrichtungen, wobei das Vorhaben auch das Potential für die Erreichung dieser Ziele schaffe. In Hinblick darauf, dass es zu keiner absichtlichen Tötung von Individuen und keiner Störung der Art Ziesel, sondern in nur sehr geringem Maß zu einer Beunruhigung von Tieren und zu einer Zerstörung von Lebens- und Fortpflanzungsstätten komme, erachte das Gericht das dargestellte öffentliche Interesse an der Verwirklichung des Projekts im Sinn des § 20 Abs. 5 NÖ NSchG 2000 als gegenüber dem Interesse an der Einhaltung des Verbotes als überwiegend. Damit würden die Voraussetzungen der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 20 Abs. 4 und 5 NÖ NSchG 2000 vorliegen.

Aus artenschutzrechtlichen Überlegungen betreffend die Ziesel sei das Projekt durch die mitbeteiligte Partei so geändert worden, dass nun die Leiteinrichtungen und die Querungshilfen einen Teil des Projektes darstellen. Weiter seien im Interesse des Artenschutzes die entsprechenden Nebenbestimmungen des Bescheides im Spruch zu ändern gewesen.

1.3. Eine gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision ist beim Verwaltungsgerichtshof anhängig.

1.4. Mit Schriftsatz vom 3.5.2021 stellten die Antragstellerinnen den Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens. Sie begründen ihren Antrag im Wesentlichen damit, dass beide Antragstellerinnen im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgebracht hätten, dass die Auswirkungen der Verkehrszunahme auf das Naturschutzgebiet Kalkschottersteppe Eggendort nicht berücksichtigt worden seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe dazu festgestellt, dass dieses Naturschutzgebiet einige Kilometer vom Vorhaben entfernt liege und im Naturschutzgebiet keine Ziesel gefunden worden seien. Nunmehr hätten die Antragstellerinnen jedoch am 19.4.2021 von einem naturschutzrechtlichen Bewilligungsbescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020, Kenntnis erlangt. In diesem Bescheid werde im Widerspruch zu den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts festgehalten, dass das Zieselvorkommen im Bereich des ca. 4 km nördlich gelegenen Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe Obereggendorf mit rund 130 Tieren der Metapopulation Wiener Neustadt zuzurechnen sei und dieses Zieselvorkommen auf knapp 2000 Tiere geschätzt werde. Als Referenzliteratur werde in diesem Bescheid die „NÖ Schwerpunktkartierung 2017, Enzinger K. 2018“ angegeben und auf ein Amtssachverständigengutachten zum Bereich Naturschutz vom 29.1.2021 verwiesen, welches diese Feststellungen bestätige. Dieses neue Beweismittel sei geeignet, ein anderslautendes Erkenntnis herbeizuführen, da die Beeinträchtigung des Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe und der dort vorkommenden Ziesel das Verbot des § 18 Abs 4 (insb Z 2 und Z 4) NÖ NSchG 2000 verletze und die Auswirkungen des Vorhabens auf das Naturschutzgebiet Kalkschottersteppe und die dort vorkommenden Ziesel bei der Beurteilung der Voraussetzungen für eine allfällige Aufnahmebewilligung nach § 20 Abs 4 und 5 NÖ NSchG 2000 sowie bei der Interessensabwägung nach § 12a Abs 4 NÖ Straßengesetz und bei der Gesamtbewertung nach § 17 Abs 5 UVP-G 2000 berücksichtigt werden hätte müssen. Der Wiederaufnahmegrund gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG liege nach der Rechtsprechung des VwGH auch im Fall neu entstandener Beweismittel vor, sofern sich diese auf „alte“ (nicht erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene) Tatsachen beziehen. Diese Voraussetzung sei erfüllt, zumal am zitierten Literaturhinweis erkennbar sei, dass Ziesel im betroffenen Gebiet seit mindestens 2017/2018 vorkommen. Der Wiederaufnahmeantrag sie jedenfalls rechtzeitig, da die Antragstellerinnen am 19.4.2021 Kenntnis vom Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020, erlangt hätten. Dem Antrag war der zitierte Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021 beigelegt.

1.5. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte der mitbeteiligten Partei mit Schreiben vom 5.5.2021 den Wiederaufnahmeantrag vom 3.5.2021 und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen.

1.6. In ihrer Stellungnahme vom 19.5.2021 verweist die mitbeteiligte Partei zunächst darauf, dass unklar sei, welche Tatsache bzw. welches Beweismittel von den Antragstellerinnen als nova reperta qualifiziert werde. Der von der Judikatur geforderten konkretisierten und schlüssigen Darlegung der Gründe werde nicht entsprochen, da aus dem Antrag nicht hervorgehe, in welchem Umstand die Antragstellerinnen einen Wiederaufnahmegrund erblicken. Unabhängig davon, dass der Antrag den Formerfordernissen nicht entspreche, seien die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des gegenständlichen Verfahrens nicht erfüllt. Sowohl beim Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 19.4.2021 als auch beim dem Bescheid zugrundeliegenden Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz vom 29.1.2021 handle es sich um Tatsachen, die erst nach Abschluss des Verfahrens entstanden sind (sog. nova producta). Diese seien damit von der Rechtskraft nicht umfasst und würden daher keinen Grund für eine Wiederaufnahme darstellen. Auch bei der von den Antragstellerinnen mehrfach zitierten Referenzliteratur (Enzinger, Ergebnisse der Schwerpunktkartierung des Ziesels in Niederösterreich 2017) handle es sich nicht um neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinn des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG. Diese Unterlage sei im Zuge des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht nur bereits von der mitbeteiligten Partei im Verfahren herangezogenen worden; auch die Erstantragstellerin beziehe sich in ihrer Eingabe vom 16.9.2020 auf diese Literatur. Eine Auseinandersetzung mit dieser Unterlage sei im Verfahren auch durch eine von einer Verfahrenspartei eingeholte fachliche Stellungnahme eines technischen Büros für Biologie erfolgt. Der von den Antragstellerinnen erkannte Widerspruch zwischen dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht und jenem vor der Niederösterreichischen Landesregierung bestehe schlicht darin, dass das Bundesverwaltungsgericht auf eine Erhebung aus dem Jahr 2020 Bezug genommen habe, während die Niederösterreichische Landesregierung nur die Schwerpunktkartierung 2017 als einzige Erhebungsgrundlage zur Verfügung gehabt habe. Im Ergebnis würden keine nova reperta vorliegen. Tatsachen, die bereits Gegenstand des wiederaufzunehmenden Verfahrens waren, würden nämlich keine Tatsachen darstellen, die die Wiederaufnahme eines Verfahrens rechtfertigen.

Unabhängig davon, dass eine Wiederaufnahme bereits mangels Vorliegens von nova reperta nicht möglich sei, hätten es die Antragstellerinnen gänzlich unterlassen, darzulegen, warum die nunmehr vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht wurden. Zur Wahrscheinlichkeit eines anderen Ergebnisses im Spruch führt die mitbeteiligte Partei aus, dass der Umstand, wonach die Erhebungen bereits Eingang ins Beschwerdeverfahren gefunden haben, ein anderes Ergebnis im Verfahren nicht nur unwahrscheinlich, sondern schlicht unmöglich mache. Es werde daher beantragt, den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens abzuweisen.

2. Feststellungen:

2.1. Das Erkenntnis, dessen Wiederaufnahme begehrt wird, enthält u.a. folgende Feststellungen:

„1.6.3. Zu den Zieselvorkommen:

1.6.3.1. Zum Ausmaß der Zieselpopulation, zur geplanten Umsiedlung und zur Auswirkung auf Natura-2000-Gebiete wird festgestellt:

Bei den Erhebungen zur UVE wurden im Projektgebiet keine Ziesel nachgewiesen. Mittlerweile sind Ziesel, offenbar von Westen her, zugewandert. Diese Zieselvorkommen befinden sich nun östlich der Pottendorfer-Linie entlang der Böschungen der Spange B60. Der nördliche Teil der geplanten Trasse berührt somit Zieselhabitate.

Im Bereich des Natura-2000-Gebietes Steinfeld, auf den Flächen des Betriebsgebietes Nova-City und auch auf dem Flughafen Wr. Neustadt Ost gibt es eine sehr große Zieselkolonie mit mind. 1 000-1 500 Tieren. Die Ziesel haben von den letzten beiden trockenen Jahren profitiert. Wenn der Bestand zunimmt, nimmt auch die Tendenz zu, sich auszubreiten. Auch die zunehmende Verbauung im Betriebsgebiet ist eine Ursache für deren Ausbreitung. Für dieses Betriebsgebiet wurde bereits vor 20 Jahren eine Ausgleichsfläche von der Stadt Wr. Neustadt angelegt. Diese Ausgleichsfläche befindet sich südlich des Tritol-Werks, zwischen der B17-Umfahrung und dem Wr. Neustädter Kanal. Sie reicht auch bis zur Spange B60 und ein Stück weiter südlich. Diese Ausgleichsfläche wird seit vielen Jahren zieselgerecht bewirtschaftet. Mittlerweile haben die Ziesel diese Ausgleichsfläche vom Süden her auch entdeckt und auch im Norden der Fläche ist bereits ein Vorkommen nachgewiesen. Im mittleren Bereich ist die Fläche von Zieseln erst sehr dünn besiedelt.

Das Ziesel wird in Anhang 2 der FFH-Richtlinie angeführt. Der Erhaltungszustand wurde aufgrund der (in den letzten Jahren zunehmenden) Population für die kontinentale Region Österreichs von U2 auf U1 hinaufgestuft. Das bedeutet, die Einschätzung des Erhaltungszustandes ist immer noch ungünstig, aber in den letzten Jahren hat sich der Zustand verbessert. Diese Angaben stammen aus dem letzten Bericht Österreichs gem. Art. 17 FFH-Richtlinie aus dem Jahr 2019. Die Population insgesamt in der kontinentalen Region Österreichs wird derzeit auf 157 000 Individuen geschätzt.

Das Ziesel gilt in Niederösterreich als vom Aussterben bedroht, obwohl sich die Bestände in den letzten Jahren erholt haben.

Eine Zieselfamilie wohnt innerhalb des Natura-2000-Gebietes außerhalb der Auwaldgrenze der Warmen Fischa auf einer Wiese. Das Ziesel ist auch ein Schutzgut des Europaschutzgebietes Feuchte Ebene – Leithaauen, wobei die bisherige Population weit ab der Trasse liegt.

Für das FFH-Gebiet Feuchte Ebene – Leithaauen geht keines der Erhaltungsziele auf das Ziesel ein. Am ehesten trifft das Erhaltungsziel „Erhaltung von einem ausreichenden Ausmaß an extensiv genutzten offenen Trockenlandschaften, wie niedrigwüchsige Rasen auf Schotterriegeln und trockene strukturreiche Ackerbaugebiete“ auf den Schutz und die Erhaltung der Ziesel zu. Solche Landschaften existieren jedoch im Projektgebiet nicht, dieses Erhaltungsziel wird demnach auch nicht beeinträchtigt.

Das Vorhaben kommt deutlich außerhalb des Natura-2000-Gebietes Steinfeld zu liegen. Nur die Ausgleichsfläche, in die ggf. einige Ziesel umgesiedelt werden sollen, liegt in diesem Gebiet. Die Umsiedlung dorthin stört auch nicht bereits vorhandene Zieselpopulationen, weil die Fläche noch nicht bis dünn besiedelt ist und dieselbe Population betroffen ist. Damit besteht keine Gefahr der Übertragung von Krankheitserregern zwischen Populationen. Es wird mehr als ausreichend Lebensraum für diese Tiere auf der neuen Fläche vorhanden sein. Auf die Zieselpopulation in diesem FFH-Gebiet hat das Vorhaben sohin keine Auswirkung.

Aufgrund der Zieselfunde hat die PW ergänzende Maßnahmen in das Projekt aufgenommen (Pkt. I.10 und III des Spruchs dieses Erkenntnisses). So sollen die Baustellenflächen, Lagerflächen und Zufahrten so optimiert werden, dass die Zieselbauten ausgespart bleiben. Im Verbreiterungsbereich der Spange B60 soll die Böschungsbeanspruchung dadurch minimiert werden, dass dort ein Steinsatz eingesetzt wird, sodass nur der unmittelbare Nahbereich der geplanten Trasse beansprucht wird. Dort, wo wirklich in vorhandene Bauten eingegriffen wird, soll in einem mehrstufigen System der Humus und Oberboden abgeschoben und der Bereich dadurch unattraktiv gemacht werden; dadurch sollen die Tiere zum Abwandern aus diesem unmittelbaren Trassenbereich veranlasst werden. Der Baubereich soll dann durch Holzplanken und einem Untergrabungsschutz von Zieseln freigehalten werden. Nur wenn sie trotzdem den Baubereich nicht verlassen sollten, werden sie eingefangen und auf der zuvor erwähnten Ausgleichsfläche ausgesetzt. Für diese Umsiedlung werden im Bereich der Ausgleichsfläche Röhren vorgebohrt und die Tiere direkt in diese Röhren entlassen, sodass sie sich gleich verstecken können. Die dargestellte Vorgangsweise stellt eine gängige Methode dar, die schon des Öfteren erfolgreich eingesetzt wurde. Die Maßnahmen eines Humusabschubs zur Ziesellenkung bzw. Vergrämung werden dabei ganz gezielt in den Zeitfenstern durchgeführt, wo ein Schaden an Einzeltieren bei planmäßigem Vorgehen nicht zu erwarten ist.

Die in den Vorabsätzen getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den schlüssigen und nachvollziehbaren Aussagen der Gerichtssachverständigen für Naturschutz in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 3.9.2020 (S. 7 ff der Verhandlungsschrift) und am 7.10.2020 (S. 101). Auf Nachfrage eines Richters hat die SV auch bestätigt, dass die von der PW vorgesehenen Maßnahmen, die gesetzt werden, bevor Eingriffe erfolgen, mit Sicherheit geeignet sind, dass jedes einzelne Mitglied der Population wirksam zu einer Ersatzbrutstätte kommt (S. 10 und 11 der Verhandlungsschrift).

Allerdings stellen die im Bereich der Ausgleichsfläche vorgebohrten Röhren, in die die Tiere entlassen werden, keine vollständigen Baue statt. Diese müssen sie sich in der Folge selbst errichten. Dies ergibt sich aus den Aussagen der Sachverständigen in der Verhandlung am 7.10.2020 (S. 102 der Verhandlungsschrift).

Die Sachverständige hat in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auch nachvollziehbar dargelegt, dass für die von BF 1 angesprochene Philopatrie (Brutortstreue) bei Zieseln aufgrund der bisherigen Umsiedlungserfolge keine Anhaltspunkte bestehen (S. 94/95 der Verhandlungsschrift) und daher anzunehmen ist, dass die neuen Fortpflanzungsstätten auch angenommen werden.

Zum Nachweis der Besiedlung dient Holzwolle vor den Eingängen. Für das Ziesel ist es kein Problem, dort die Holzwolle zur Seite zu schieben. Der Eingang wird nicht hermetisch verschlossen, sondern nur ein kleines Hindernis angebracht, um die Besiedlung nachweisen zu können (S. 24 der Verhandlungsschrift).

[…]

1.6.3.5. Zum Verbleib der Population in einem günstigen Erhaltungszustand (als Voraussetzung für die Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung) wird festgestellt:

Bei der Zieselpopulation im Bereich Civitas Nova/Flugfeld Wiener Neustadt-Ost handelt es sich um eine Kernpopulation mit rd. 1500-2000 Individuen und einer ausreichenden Habitatfläche (inkl. Ausgleichsfläche südlich des Tritolwerks rd. 99 ha). Der Verlust an Ziesellebensräumen durch die Bauarbeiten beträgt rd. 1.570 m², d. h. rd. 0,16 % des aktuellen Lebensraumes. Bei einer durchschnittlichen Dichte von 17 Zieseln pro Hektar geht somit rechnerisch der Lebensraum für drei Zieseln verloren (rd. 590 m² pro Ziesel). Bei der Populationsgröße von 1.500 Tieren sind somit ca. 0,2 % des Bestandes betroffen.

Die natürliche Mortalität einer Zieselpopulation liegt bei rd. 50 %, d. h. bei der gegenständlichen Zieselpopulation bei ca. 750 Tieren jährlich. Durch das Vorhaben werden keine Ziesel getötet, sondern es werden lediglich (prognostiziert) bis zu vier Tieren übersiedelt.

Die Ausgleichsfläche hat ein Ausmaß von rd. 30 ha, wobei nördlich der B 21b noch rd. 17 ha unbesiedelt sind. Bei einer durchschnittlichen Siedlungsdichte von 17 Tieren pro Hektar ergibt das ein Potential für mind. 290 Tiere auf dieser noch unbesiedelten Fläche.

Die in den letzten Jahren erfolgte Ausbreitung der Kernpopulation ist einerseits auf die zu-nehmende Verbauung im Bereich Civitas Nova zurückzuführen, andererseits auf günstige Wetterbedingungen und damit eine Verringerung der Sterblichkeit der Ziesel. Die Ausbreitung nach Norden wurde erst durch die bauliche Modifikation der Kleintierdurchlässe unter der B 21b möglich. Diese werden nun nachweislich angenommen. Die Ausbreitung nach Osten in den Vorhabensbereich hinein erfolgte entlang der Straßenböschungen der B 21b. Eine weitere Ausbreitung von dort ist nur mehr in Richtung Norden entlang der B 60 möglich. Richtung Süden grenzt das Stadtgebiet von Wiener Neustadt an. Im Osten begrenzt die Warme Fischa und das Fehlen von Trockenrasen das Lebensraumpotential. Die Ausbreitungsmöglichkeit nach Norden wird durch das geplante Vorhaben nicht eingeschränkt.

Daraus ist ersichtlich, dass der Erhaltungszustand der Zieselpopulation im Bereich Civitas Nova/Flugfeld Ost/Ausgleichsfläche durch eine Umsiedlung von (prognostiziert) bis zu 4 Zieseln (keine Tötung!) bei einer Populationsgröße von 1.500 Tieren und einem Lebensraumverlust von weniger als 0,2 % nicht verschlechtert wird. Der großflächige Lebensraum der Kernpopulation wird weder direkt (durch Flächenbeanspruchung) noch indirekt (durch Degradation) betroffen. Auch eine zukünftige positive Bestandsentwicklung wird durch das Vorhaben nicht konterkariert, da keine für die Ausbreitung relevanten Lebensräume im Anschluss an die Kernpopulation betroffen sind und auch die weitere Migration auf potentielle Lebensräume nicht eingeschränkt wird.

Alle diese Feststellungen ergeben sich schlüssig nachvollziehbar aus der gutachterlichen Stellungnahme der Sachverständigen Naturschutz-BVwG vom 13.11.2020 und ihren Erläuterungen dazu in der Verhandlung vom 9.12.2020.

Wenn moniert wurde, dass die letzten Erhebungen zur Größe der Zieselpopulation aus dem Jahr 2017 bis 2018 stammen und somit nicht mehr aktuell sein könnten, ist zunächst auf den Monitoringbericht 2018 zu den Ökologischen Ausgleichsmaßnahmen und Begleitmaßnahmen zur B17-Umfahrung Sollenau-Theresienfeld (im Folgenden nur: Monitoringbericht 2018) hinzuweisen, der in seiner Zusammenfassung auf S. 4 feststellt, dass die Ziele des Pflege- und Monitoringkonzepts innerhalb des vorgesehenen Zeitraums vollständig erfüllt wurden und der Großteil der regelmäßigen ökologischen Erhebungen daher mit der Saison 2019 eingestellt werden könne. Aus Kap. 6 dieses Berichts ergibt sich, dass sich die Zieselpopulation im Jahr 2018 gut entwickelt hat und langfristig eine weitere Ausbreitung und Stärkung der Population erwartet werden kann. Wie sich aus den Angaben der SV in der Verhandlung vom 9.12.2020 (S. 5 und 6 der Verhandlungsschrift) ergibt, haben sich die klimatischen und sonstigen äußeren Bedingungen gegenüber dem Jahr 2018 nicht wesentlich verändert. Daraus erfließt für das Bundesverwaltungsgericht, dass die Population seit 2018 stabil ist und es keiner neuerlichen umfassenden Erhebung der Populationszahlen für die Erteilung der Ausnahmegenehmigung bedarf, wie von den BF gefordert.

Es handelt sich bei der von den Baumaßnahmen betroffenen Population um den Kreisverkehr und die umgebenden Anschlüsse um keine eigene Population. Dies ergibt sich aus den schlüssigen und nachvollziehbaren Aussagen der SV in der mündlichen Verhandlung am 9.12.2020, wo sie ausführlich dargelegt hat, dass die dort lebenden Tiere nur von der eigentlichen Kernpopulation mit 2.000 Tieren aus den vier Teilflächen Flugfeld Wr. Neustadt Ost, Wirtschaftspark Civitas Nova, Freiflächen östlich des Wirtschaftsparks und Ausgleichsfläche stammen können, und eine lokale Population von 20 Tieren mangels genetischen Austausches nicht überleben würde; das Vorbringen der BF, dass es sich um eine abgeschottete, kaum vernetzte eigene lokale Population handeln würde, ist demgegenüber nicht stichhaltig, da diese für ihre Behauptungen nur vorbringen konnten, es gebe wenige Brücken über den Wiener Neustädter Kanal und es sei zu wenig untersucht, ob die Besiedelung genauso stattgefunden habe, wie von der SV behauptet.

Erschütterungen während der Aktivitätsphasen der Ziesel sind vernachlässigbar, vor allem, wenn es sich um kurzfristige Maßnahmen im Zuge von Bautätigkeiten handelt. Während des Winterschlafs könnten sich Erschütterungen allenfalls negativ auswirken, ebenso während der Aufzucht der Jungen. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren Aussagen der SV in der mündlichen Verhandlung am 9.12.2020, wo sie auch eine weitere Auflage dazu vorgeschlagen hat (S. 6 der Verhandlungsschrift vom 9.12.2020).

Dass die Ausgleichsflächen aufgrund der vorgesehenen Maßnahmen (Kleintierdurchlässe in Form von Rohren) mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, ergibt sich aus den Aussagen der SV in der mündlichen Verhandlung vom 9.12.2020. Die gegenteiligen Befürchtungen der BF sind demgegenüber nicht stichhaltig, ergibt sich doch aus dem im Verfahren von der SV vorgelegten Monitoringbericht 2018 eindeutig, dass aufgrund von Spurfallenversuchen begründet angenommen werden kann, dass die Rohre zur Durchwanderung verwendet werden (S. 37 und 38 des Berichts). Der Bericht empfiehlt allerdings aufgrund von Verstopfungen mit Sand, den Durchmesser der Kleintierrohre größer zu gestalten bzw. darauf zu achten, dass die Rohröffnungen höher als Bodenniveau zu liegen kommen. Aus diesem Grund wurde von der SV eine entsprechende Auflage (S. 7 der Verhandlungsschrift vom 9.12.2020) vorgeschlagen. Auch aus den unwidersprochenen Hinweisen der SV in der Verhandlung auf die funktionierenden Durchlässe in der Graf-Zeppelin-Straße ergibt sich die Schlüssigkeit ihrer Aussage zu den Kleintierdurchlässen.

Trotz der beobachteten Beeinträchtigungen durch freilaufende Hunde hat sich die Zieselpopulation im Jahr 2018 besonders gut entwickelt (vgl. Aussage der SV S. 12 der Verhandlungsschrift vom 9.12.2020, Monitoringbericht 2018, S. 39).

[…]

1.6.5. […]

Zur während des Beschwerdeverfahrens aufgeworfenen Frage einer Beeinträchtigung des Naturschutzgebiets Kalkschottersteppe Eggendorf durch Mehrverkehr auf der Tritolstraße: Dieses Naturschutzgebiet liegt im unmittelbaren Anschluss östlich des Wr. Neustädter Kanals und südlich der Tritolstraße, demnach einige km entfernt vom Vorhaben. Bei dem dort vorhandenen Trockenrasen könnte es grundsätzlich durch Emissionen von Stickoxiden zu einem Düngeeffekt kommen. Die Verkehrszahlen sind aber so gering, dass ein Düngeeffekt auf die Trockenrasen ausgeschlossen werden kann. Das Naturschutzgebiet wird schon seit vielen Jahren gepflegt, durch Mahd und Beweidung wird ein Austrag von Nährstoffen bewirkt, der höher ist als der Eintrag über die Fahrzeuge, die dort vorbeifahren. Es wurden dort keine Ziesel gefunden. Bei den geringen Verkehrszahlen sind auch Auswirkungen auf lärmempfindliche Vogelarten, z.B. Triel, sehr unwahrscheinlich.

Dies ergibt sich aus den Darlegungen der SV BVwG Naturschutz in der mündlichen Beschwerdeverhandlung (S. 7 der Verhandlungsschrift). […]“

2.2. Die Antragstellerinnen bringen vor, die Feststellung im Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020, unter Bezugnahme auf das Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz vom 29.1.2021 und den finalen Bericht des vom Land Niederösterreich durchgeführten Projektes Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 (Enzinger, Das Ziesel in Niederösterreich – Ergebnisse der Schwerpunktkartierung 2017 [2018]), wonach auch im Bereich des Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe Obereggendorf ein Zieselvorkommen bestehe, sei ein neu entstandenes Beweismittel, das eine Tatsache belege, die bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses bestanden habe. Konkret beziehen sich die Antragstellerinnen auf folgende (von den Antragstellerinnen farblich hervorgehobene) Passagen in der Begründung des Bescheides der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020:

„lm Rahmen des Ermittlungsverfahrens holte die Behörde ein Gutachten eines Amtssachverständigen für Naturschutz ein. Dieses Gutachten vom 29. Jänner 2021 lautet:

[…]

Auch das Zieselvorkommen im Bereich des ca. 4 km nördlich gelegenen Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe Obereggendorf mit rund 130 Tieren ist der Metapopulation Wiener Neustadt zuzurechnen. Insgesamt wird dieses Zieselvorkommen auf knapp 2000 Tiere geschätzt (NÖ Schwerpunktkartierung 2017, Enzinger K. 2018).

[…]

Das Ziesel gilt in Niederösterreich als vom Aussterben bedroht. Störungen an den Lebens-, Brut- und Wohnstätten der Ziesel sind daher gemäß § 18 Abs. 4 Zif. 4 NÖ NSchG 2000 verboten.

[…]

Zusammen mit den Zieselvorkommen auf den östlich angrenzenden Trockenrasenflächen beim Wasserwerk Ost, dem Flugfeld Ost, der Ausgleichsfläche südlich des Tritolwerkes und dem Naturschutzgebiet Kalkschottersteppe Obereggendorf, d.h. im Raum Wiener Neustadt Nordost, wird die Population auf knapp 2000 Tiere geschätzt.

[…].“

2.3. Der finale Bericht des vom Land Niederösterreich durchgeführten Projektes „Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017“ (Enzinger, Das Ziesel in Niederösterreich – Ergebnisse der Schwerpunktkartierung 2017 [2018]) war bereits Gegenstand des mit Erkenntnis vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens, dessen Wiederaufnahme beantragt wird. Er wurde von der mitbeteiligten Partei im ergänzenden Bericht „Naturraum und Bodennutzungen, Tiere und deren Lebensräume, Ergänzung BVwG Bericht Tiere und deren Lebensräume, Ergänzungen Ziesel“ vom August 2020 (OZ 50 des Verfahrens W104 2216195-1) und in ihrer Stellungnahme vom 25.9.2020 (OZ 66 des Verfahrens W104 2216195-1) herangezogen. Die von der mitbeteiligten Partei mit Schriftsatz vom 30.10.2020 vorgelegte Stellungnahme der XXXX vom 27.10.2020 bezieht sich ebenfalls auf diesen Bericht (OZ 80 des Verfahrens W104 2216195-1). Auch die Erstantragstellerin nahm in ihrer Stellungnahme zum Schutzgut Ziesel vom 16.9.2020 (OZ 54 des Verfahrens W104 2216195-1) auf den finalen Bericht der Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 Bezug. Der Bericht ist öffentlich zugänglich und kann über die Homepage des Landes Niederösterreich abgerufen werden (https://noe.gv.at/noe/Naturschutz/NOE_Ziesel_FINALER_Endbericht.pdf; letzter Zugriff am 23.6.2021).

3. Beweiswürdigung:

Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich zweifelsfrei aus dem Akt zum gegenständlichen Verfahren sowie aus dem Akt zum Verfahren W104 2216195-1.

4.       Rechtliche Beurteilung:

4.1.    Zur Rechtzeitigkeit des Antrages auf Wiederaufnahme:

Nach § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ist dem Antrag einer Partei eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichts abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anderslautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.

Nach § 32 Abs. 2 zweiter Satz VwGVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen beim Verwaltungsgericht einzubringen, wobei die Frist mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Antragsteller vom Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat.

Die Antragstellerinnen erlangten am 19.4.2021 Kenntnis vom Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020. Der am 3.5.2021 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangte Wiederaufnahmeantrag wurde damit innerhalb der zweiwöchigen Frist nach § 32 Abs. 2 zweiter Satz VwGVG gesellt.

Gemäß § 32 Abs. 2 dritter Satz VwGVG kann nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kein Antrag auf Wiederaufnahme mehr gestellt werden.

Auch diese Frist ist gewahrt, wurde doch das Erkenntnis in dem Verfahren, dessen Wiederaufnahme begehrt wird, der Erstantragstellerin am 8.1.2021 und der Zweitantragstellerin am 30.12.2020 zugestellt. Der Wiederaufnahmeantrag wurde am 3.5.2021, also vor Ablauf der Dreijahresfrist, gestellt.

4.2.    Zum Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG rechtfertigen neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel (also solche, die bereits zur Zeit des früheren Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden) – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sie die Richtigkeit des angenommenen Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen. Gleiches gilt für neu entstandene Beweismittel, sofern sie sich auf „alte“ – d.h. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene – Tatsachen beziehen. Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung eingetreten sind, rechtfertigen hingegen keinen Antrag auf Wiederaufnahme, sondern es ist ein neuer Antrag zu stellen, weil in diesem Fall einem auf Basis des geänderten Sachverhalts gestellten Antrag die Rechtskraft bereits erlassener Entscheidungen nicht entgegensteht (zuletzt VwGH 20.03.2019, Ra 2019/20/0096).

Der gegenständliche Wiederaufnahmeantrag zielt darauf ab, das mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossene Verfahren aufgrund neuer Tatsachen bzw. Beweismittel im Sinn von § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG wiederaufzunehmen.

Dieser Tatbestand bezieht sich auf solche Tatsachen oder Beweismittel, die zum Zeitpunkt der Entscheidung zwar bereits bestanden haben, jedoch ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten („nova reperta“). Tatsachen, die erst nach Abschluss des Verfahrens entstanden sind („nova causa superveniens“ oder „nova producta“), stellen, weil sie von der Rechtskraft der Entscheidung nicht umfasst sind, keinen Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens dar (Hengstschläger/Leeb, AVG § 69 Rz 28).

Die Antragstellerinnen erblicken gegenständlich im Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021, RU5-BE-1141/002-2020, der auf das Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz vom 29.1.2021 und den finalen Bericht des vom Land Niederösterreich durchgeführten Projektes Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 (Enzinger, Das Ziesel in Niederösterreich – Ergebnisse der Schwerpunktkartierung 2017 [2018]) Bezug nimmt, neue Tatsachen bzw. Beweismittel, da aus dem Bescheid hervorgehe, dass – anders als vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 22.12.2020 festgestellt – auch im Bereich des Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe Obereggendorf ein Zieselvorkommen bestehe. Dieses neu entstandene Beweismittel belegt nach Ansicht der Antragstellerinnen eine Tatsche, die bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses bestanden habe. Daraus ergebe sich nämlich, dass Ziesel im betroffenen Gebiet seit zumindest 2017 bzw. 2018 vorkommen würden.

Dieser Argumentation der Antragstellerinnen kann jedoch nicht gefolgt werden:

Gutachten von Sachverständigen, die erst nach Eintritt der Rechtskraft des Bescheids (bzw. der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung) eingeholt wurden, sind nicht „neu hervorgekommen“, sondern „neu entstanden“ und können damit auch nicht als neue Beweismittel Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens sein. Nur wenn ein Sachverständiger Tatsachen, die zur Zeit der Sachverhaltsverwirklichung bereits bestanden, erst nach Rechtskraft des Bescheids „feststellt“, können diese bzw. die daraus resultierenden neuen Befundergebnisse, die sich auf die zuvor bestandenen Tatsachen beziehen, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen als neue Tatsachen einen Grund für eine Wiederaufnahme darstellen (vgl. zum Ganzen aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 09.09.2020, Ra 2020/07/0063, mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht übersieht dabei nicht, dass nach der zitierten Judikatur auch neu entstandene Beweismittel eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen, sofern sie sich auf „alte“ Tatsachen beziehen. Die Antragstellerinnen argumentieren, aus dem vorgelegten Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021 und dem dort zitierten Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz vom 29.1.2021 ergebe sich, dass es bereits seit den Jahren 2017 bzw. 2018 ein Zieselvorkommen im fraglichen Gebiet gebe. Damit würden sich die neu entstandenen Beweismittel auf „alte“ Tatsachen beziehen, die bereits im Zeitpunkt des wiederaufzunehmenden Verfahren bestanden hätten.

Dazu ist jedoch festzustellen, dass sich das im Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021 zitierte Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz, wonach im Bereich des Naturschutzgebietes Kalkschottersteppe Obereggendorf ein Zieselvorkommen bestehe, maßgeblich auf den finalen Bericht des vom Land Niederösterreich durchgeführten Projektes Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 (Enzinger, Das Ziesel in Niederösterreich – Ergebnisse der Schwerpunktkartierung 2017 [2018]) stützt. Wie sich aus den Feststellungen ergibt, wurde dieser Bericht im Verfahren, dessen Wiederaufnahme beantragt wird, bereits ausführlich behandelt. Sowohl die mitbeteiligte Partei, als auch die Erstantragstellerin selbst nahmen (mehrfach) darauf Bezug.

Der im Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021 und im Gutachten des Amtssachverständigen für Naturschutz vom 29.1.2021 zitierte Bericht zur Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 (Enzinger, Das Ziesel in Niederösterreich – Ergebnisse der Schwerpunktkartierung 2017 [2018]) war damit bereits Gegenstand des nach Ansicht der Antragstellerinnen wiederaufzunehmenden Verfahrens und enthält damit keine neuen Tatsachen oder Beweismittel, die erst nach Abschluss des Verfahrens „hervorgekommen“ sind (sog. „nova reperta“).

Im Ergebnis liegen keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vor, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten. Tatsachen, die bereits Gegenstand des wiederaufzunehmenden Verfahrens waren, stellen naturgemäß keine Tatsachen dar, die die Wiederaufnahme eines Verfahrens rechtfertigen können. Eine Wiederaufnahme des mit Erkenntnis vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens kommt daher bereits aus diesem Grund nicht in Betracht.

Der Vollständigkeit halber bleibt anzumerken, dass die Antragstellerinnen in der Antragsbegründung nicht im Ansatz dargelegt haben, warum die ihrer Ansicht nach neu hervorgekommenen Tatsachen und Beweismittel ohne ihr Verschulden nicht bereits im wiederaufzunehmenden Verfahren geltend gemacht werden konnten (zur Pflicht des Wiederaufnahmewerbers darzutun, dass die von ihm behaupteten neuen Tatsachen oder Beweismittel ohne sein Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten vgl. etwa VwGH 23.03.1977, 1341/75, mwN). Wie bereits ausgeführt, beziehen sich der Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 9.4.2021 und das dort zitierte Gutachten des Amtssachverständigen auf einen Bericht zur Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017, der bereits Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht war und von der Erstantragstellerin selbst zitiert wurde.

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH liegt ein der Partei zuzurechnendes Verschulden, das eine Wiederaufnahme des Verfahrens ausschließt, vor, wenn sie eine Tatsache oder ein Beweismittel im wiederaufzunehmenden Verfahren nicht geltend gemacht hat, obwohl ihr dies bei gehöriger Aufmerksamkeit und gebotener Gelegenheit möglich gewesen wäre (VwGH 5.2.2021, Ra 2020/19/0432, mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht sah sich angesichts der Tatsache, dass es sich – anders als etwa bei fehlenden Ausführungen zur Rechtzeitigkeit des Wiederaufnahmeantrags – bei der Darlegung des fehlenden Verschuldens i.S.d. § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG um eine lediglich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs beeinträchtigende Unzulänglichkeit handelt auch nicht zu einem Vorgehen nach § 13 Abs. 3 AVG iVm § 17 VwGVG veranlasst (vgl. dazu aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs etwa VwGH 9.9.2020, Ra 2019/22/0212, mwN und zur – im Gegensatz dazu grundsätzlich vorgesehenen – Verbesserungsfähigkeit eines Mangels in den Rechtzeitigkeitsausführungen VwGH 17.10.2002, 2002/20/0273, mwN). Dies zumal der gegenständliche Antrag von einem berufsmäßigen Parteienvertreter eingebracht wurde.

Der Bericht zur Ziesel-Schwerpunktkartierung 2017 ist überdies im Internetauftritt des Landes Niederösterreich seit dem 12.11.2018 öffentlich abrufbar (siehe die unter https://www.noe.gv.at/noe/Naturschutz/SP_Ziesel_2017.html abrufbaren Hinweise, abgerufen am 28.06.2021).

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Tatsachen bzw. Beweismittel, die bereits Gegenstand des Verfahrens waren, dessen Wiederaufnahme beantragt wird, naturgemäß auch nicht geeignet sind, ein im Hauptinhalt des Spruches anders lautendes Erkenntnis herbeizuführen.

Der Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis vom 22.12.2020, W104 2216195-1/109E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens war damit abzuweisen.

4.3.    Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:

Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 24 VwGVG unterbleiben. Die Sachlage erschien aufgrund der Aktenlage geklärt und war die zu beantwortende Frage, ob ein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG vorliegt, rechtlicher Natur, weswegen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, etwa, um einen persönlichen Eindruck zu gewinnen oder Zeugen zu hören, nicht erforderlich war. Ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde auch nicht gestellt und fällt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ein Verfahren über die Wiederaufnahme eines Verfahrens selbst grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 GRC (VwGH 29.05.2017, Ra 2017/16/0070).

4.4.    Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG abhängt. Die aufgeworfenen Rechtsfragen wurden in der unter oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bereits eindeutig beantwortet. Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Rechtsprechung mit gegenständlicher Entscheidung.

Schlagworte

Amtssachverständiger Bescheid Beweismittel Bürgerinitiative Eignung Erfolgsaussichten Genehmigungsverfahren Gutachten Kenntnis konkrete Darlegung Konkretisierung nova producta nova reperta Rechtskraft der Entscheidung Rechtskraftwirkung Sachverständigengutachten Sorgfaltspflicht Tatsachenfeststellung Umweltauswirkung Umweltverträglichkeitsprüfung UVP-Pflicht Verschulden Wiederaufnahmeantrag Wiederaufnahmegrund

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W104.2216195.2.00

Im RIS seit

17.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

17.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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