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Baurecht - WienNorm
AVG §66 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsidenten Dr. Werner und die Räte Dr. Höslinger, Dr. Kaniak, Dr. Hrdlitzka und Dr. Lehne als Richter, im Beisein des Ministerialsekretärs Dr. Hezina als Schriftführer, über die Beschwerde der MH und der VK gegen die Bauoberbehörde für Wien (Bescheid des Magistrates der Stadt Wien im selbständigen Wirkungsbereich, M.Abt. 64 vom 20. Februar 1953, Zl. 2743/51), betreffend baubehördlichen Auftrag zur Beseitigung von Schutt, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Mit Bescheid vom 22. November 1950 erteilte der Magistrat der Stadt Wien den Beschwerdeführerinnen als Eigentümerinnen der Liegenschaft Wien V., G-gasse 38 gemäß § 4 a Abs. 1 und 2 und § 21 des Gesetzes vom 20. Februar 1947, LGBl. für Wien Nr. 5, (in der Fassung des Gesetzes LGBl. Nr. 20/47) den Auftrag, binnen zwei Wochen nach Rechtskraft des Bescheides mit der Beseitigung der auf der Liegenschaft lagernden Schuttmassen sowie der unterhalb des Schuttes noch vorhandenen, für den Wiederaufbau nicht mehr verwertbaren Bauteile zu beginnen und die Arbeiten in einem Zuge zu vollenden.
Die von den Eigentümerinnen der Liegenschaft gegen diesen Bescheid rechtzeitig erhobene Berufung wurde von der Bauoberbehörde für Wien in ihrer Sitzung vom 18. Jänner 1951 abgewiesen.
Gegen diesen Bescheid brachten die Beschwerdeführerinnen eine auf Artikel 144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein, in der sie die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Eigentumsrechtes behaupteten. Der Verfassungsgerichtshof stellte in seinem Erkenntnisses vom 21. Juni 1951, B 59/51, fest, daß die Beschwerdeführerinnen in dem bezeichneten Recht verletzt worden seien und behob den angefochtenen Bescheid als verfassungswidrig. Zur Begründung wurde auf das Erkenntnis B 40/51 verwiesen, das in einem gleichartigen Fall am gleichen Tage erging. Dort war im wesentlichen ausgeführt worden, daß die von der ersten Instanz angewendete Bestimmung des Wiener Wiederaufbaugesetzes zwar im Zeitpunkt des Bescheides der ersten Instanz in Geltung gestanden ist, seit 1. Jänner 1951, also auch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung, nicht mehr dem Rechtsbestand angehört hat. Somit habe dem Bescheid der Berufungsbehörde die gesetzliche Grundlage gefehlt.
Die Bauoberbehörde für Wien entschied nunmehr neuerlich in ihrer Sitzung vom 20. Februar 1953 über die zufolge des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes wieder anhängig gewordene Berufung und änderte den angefochtenen Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG dahin ab, daß der Auftrag auf die Bestimmungen des § 2 Abs. 4 des Wiener Wiederaufbaugesetzes, LGBl. für Wien Nr. 20/1951 gegründet wurde. Im übrigen aber wurde die Berufung als unbegründet abgewiesen und der angefochtene Bescheid bestätigt. In der Begründung des in Ausfertigung dieses Sitzungsbeschlusses ergangenen Bescheides des Magistrates der Stadt Wien Abt. 64 wurde ausgeführt, daß mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretene Änderung in der Rechtslage ein ergänzendes Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sei. Dabei sei festgestellt worden, daß die Beseitigung des Schuttes aus öffentlichen Rücksichten erforderlich gewesen sei. Diese Tatsache habe sich aus dem Überhandnehmen von Ratten im Bereich der gegenständlichen Liegenschaft ergeben. Da sohin die Voraussetzungen für die Auftragserteilung, auch nach den Bestimmungen des § 2 Abs. 4 des Wiener Wiederaufbaugesetzes gegeben gewesen seien, habe der Berufung der Erfolg versagt bleiben müssen. Die Anwendbarkeit des Wiener Wiederaufbaugesetzes ergebe sich aus dem Grundsatz, daß die Berufungsbehörde die Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des Berufungsbescheides ihrer Entscheidung zugrundezulegen habe.
Gegen diesen Bescheid vom 20. Februar 1953 wendet sich nun die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend gemacht wird.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Beschwerde macht geltend, daß die belangte Behörde zwar wohl die Rechtslage zum Zeitpunkt ihrer Berufungsentscheidung berücksichtigt, die Änderung des Sachverhaltes, nämlich die Tatsache, daß die Entfernung der Schuttmassen inzwischen bereits erfolgt war, aber außer acht gelassen habe. Aus diesem Grunde sei der angefochtene Bescheid rechtswidrig, weil die Sachentscheidung gemäß § 66 Abs. 4 AVG auch unter Berücksichtigung der eingetretenen tatsächlichen Änderung erfolgen müsse. Die Frage, ob die Entfernung der Schuttmassen notwendig gewesen sei oder nicht, falle nicht in die Kompetenz der Baubehörde, sondern sei eine solche des Zivilrechtes, die zu klären sein werde, wenn Ansprüche unter dem Titel der Geschäftsführung ohne Auftrag geltend gemacht würden. Es gehe nicht an, die Geltendmachung derartiger Ansprüche dadurch zu erleichtern, daß in einem Zeitpunkt, in dem der Schutt bereits weggebracht sei, der Auftrag zur Entfernung eben dieses Schuttes erteilt werde.
Was zunächst die von der Berufungsbehörde anzuwendende Norm anlangt, so trifft es auch im vorliegenden Fall zu, daß im Zeitpunkt der neuerlichen Berufungsentscheidung im Hinblick auf die Erlassung des Wiederaufbaugesetzes, LGBl. für Wien Nr. 20/51, ein gesetzloser Raum nicht mehr gegeben war. Die belangte Behörde mußte nun überprüfen, ob nach der neuen Rechtslage die Bestimmungen der Neuregelung anzuwenden seien, oder ob etwa Übergangsbestimmungen ein anderes Verhalten geboten. Hiebei war auf den § 20 Abs. 1 des 2. Wiener Wiederaufbaugesetzes Bedacht zu nehmen. Der Verwaltungsgerichtshof ist nun der Auffassung, die in seinem Erkenntnis vom 10. November 1953, Slg. N.F. Nr. 3184/A, zum Ausdruck kommt, daß nämlich in dieser Gesetzesstelle eine Rückverweisung auf das 1. Wiener Wiederaufbaugesetz verfügt ist. Dieses Gesetz erhielt somit für die zur Zeit der Kundmachung des neuen Gesetzes bereits anhängigen Verfahren Geltung. Der angefochtene Bescheid erweist sich somit insofern als rechtswidrig, als der § 2 Abs. 4 des Gesetzes LGBl. Nr. 20/1951 angewendet worden ist, während trotz des aufhebenden Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes neuerlich der § 4 a des 1. Wiener Wiederaufbaugesetzes, durch § 20 des neuen Gesetzes wieder mit Geltung ausgestattet, anzuwenden gewesen wäre.
Der Verwaltungsgerichtshof ist jedoch nicht mehr der von den Beschwerdeführerinnen für ihren Standpunkt herangezogenen Auffassung, die in dem Erkenntnis vom 10. November 1953, Slg. N.F. Nr. 3184/A, hinsichtlich der Verpflichtung der Berufungsbehörde zur Berücksichtigung der durch die Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit (Beseitigung des Schuttes) geschaffenen Lage festgehalten ist. Aus der in dem erwähnten Erkenntnis enthaltenen Rechtsmeinung hätte sich für den vorliegenden Fall allerdings ergeben, daß die belangte Behörde den erstinstanzlichen Bescheid schon deshalb hätte aufheben müssen, weil dem Rechtsmittel gegen den erstinstanzlichen Bescheid seinerzeit die aufschiebende Wirkung nicht aberkannt worden und im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde der Schutt tatsächlich nicht mehr vorhanden war. Ein verstärkter Senat des Verwaltungsgerichtshofes hat aber am 27. Februar 1956 folgenden Rechtssatz beschlossen: "In der Herstellung des Zustandes, der einem erlassenen, im Instanzenzug angefochtenen baupolizeilichen Auftrag entspricht, ist keine von der Berufungsbehörde zu beachtende Änderung des maßgebenden Sachverhaltes zu erblicken." Hiefür waren im wesentlichen folgende Erwägungen maßgebend:
Mit einem baupolizeilichen Auftrag wird die Verpflichtung zu einer Leistung begründet. Wird nun nach Erlassung des Bescheides, mit dem eine solche Verpflichtung auferlegt worden ist, die Leistung bewirkt, sei es, daß der Verpflichtete dem Auftrag nachkommt, sei es, daß im Wege der Vollstreckung eine Ersatzvornahme durchgeführt wird, so ist damit nur der Zustand hergestellt, der mit dem Bescheid erreicht werden sollte. Auf die solcherart bewirkte Änderung in der Außenwelt braucht die Berufungsbehörde bei der Entscheidung über das bei ihr eingebrachte Rechtsmittel nicht Bedacht zu nehmen. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die wesentliche Funktion der Berufungsbehörde darin besteht, den vorinstanzlichen Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Damit steht nicht in Widerspruch, daß die Berufungsbehörde gemäß § 66 Abs. 4 AVG abgesehen von den dort angeführten Ausnahmen stets in der Sache zu entscheiden hat und berechtigt ist, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung, an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen sowie demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern. Dies bedeutet im wesentlichen wesentlichen nur, daß die Berufungsbehörde, wenn sie den Bescheid der Unterbehörde für rechtswidrig hält, nicht kassatorisch, sondern reformatorisch vorzugehen hat. Mit dieser Bestimmung steht allerdings der in der Verwaltungsrechtslehre und Rechtsprechung entwickelte Grundsatz im Zusammenhang, wonach die Berufungsbehörde bei Entscheidungen über rechtsgestaltende Verwaltungsakte seit der Erlassung der Bescheide der Unterbehörden eingetretene Änderungen nicht nur der Rechtslage, sondern auch des mattgebenden Sachverhaltes zu berücksichtigen hat. Die Anwendung dieses Grundsatzes in den Fällen, in denen die vermeintliche Änderung des Sachverhaltes, nur auf die Herstellung des dem Bescheid der Unterbehörde entsprechenden Zustandes zurückzuführen ist, würde zur Folge haben, daß die Berufungsbehörde gar nicht in die Lage kommen könnte, ihre Funktion als rechtliche Kontrollinstanz - das Wesen der Berufung besteht ja vorwiegend in der Herbeiführung der Entscheidung der im Instanzenzug übergeordneten Behörde über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides - auszuüben. Die Umsetzung eines Bescheides, der eine Leistung auferlegt, in die Wirklichkeit kann daher weder eine noch anhängige Beratung gegenstandslos machen noch die Entscheidung der Berufungsbehörde in einem bestimmten Sinne festlegen. In einem solchen Fall darf die Sachlage nicht anders gesehen werden, als ob in der Zeit nach der Erlassung des Bescheides, mit dem die Verpflichtung zur Leistung ausgesprochen worden ist, nichts geschehen wäre. Demgemäß kann auch die Unterscheidung zwischen jenen Fällen, in denen der Berufung gegen den baupolizeilichen Auftrag die aufschiebende Wirkung aberkannt und jenen Fällen, in denen dies nicht zugetroffen war, aber über die Berufung nach einem aufhebenden Erkenntnis eines Gerichtshofes öffentlichen Rechtes neuerlich zu entscheiden ist - diese Unterscheidung wurde in dem Erkenntnis Slg. 3184/A getroffen -, nicht aufrecht erhalten werden. Dadurch würde nämlich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung in diesem Zusammenhang eine größere rechtliche Bedeutung beigemessen als der Rechtskraft selbst.
Dennoch mußte der angefochtene Bescheid aus den zuvor angeführten Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 lit. a VwGG 1952 aufgehoben werden.
Wien, 16. April 1956
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Beachtung einer Änderung der Rechtslage sowie neuer Tatsachen und BeweiseEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1956:1953000936.X00Im RIS seit
10.09.2021Zuletzt aktualisiert am
10.09.2021