TE Vwgh Erkenntnis 2021/7/30 Ra 2020/17/0130

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Veröffentlicht am 30.07.2021
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §46
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Zehetner und den Hofrat Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des D K, vertreten durch die Hochstöger Nowotny Wohlmacher Rechtsanwälte OG in 4020 Linz, Breitwiesergutstraße 10, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 5. Oktober 2020, LVwG 30.19-2667/2019-24, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde gegen ein Straferkenntnis wegen Übertretung des Glücksspielgesetzes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Liezen), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Zum Sachverhalt wird auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Juni 2020, Ra 2020/17/0017, verwiesen. Mit diesem Erkenntnis hob der Verwaltungsgerichtshof den Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark (LVwG) vom 19. Dezember 2019 auf, weil dieses die vom Revisionswerber mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2019 erhobene Beschwerde unter Verletzung des Parteiengehörs als verspätet zurückgewiesen hatte.

2        Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss wies das LVwG die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung neuerlich als verspätet zurück.

3        Das LVwG stellte in seiner Begründung u.a. fest, das bekämpfte Straferkenntnis der belangten Behörde vom 2. August 2019 sei nach einem ersten Zustellversuch bei der Postgeschäftsstelle 8042 hinterlegt und ab dem 8. August 2019 zur Abholung bereitgehalten worden. Eine Verständigung über die Hinterlegung sei an der Abgabestelle zurückgelassen worden. Der Revisionswerber sei von 6. bis 18. August 2019 in Kroatien auf Urlaub gewesen. In dieser Zeit seien mehrere Hinterlegungsanzeigen zurückgelassen worden. Am 27. August 2019 sei das Dokument an die belangte Behörde rückgemittelt worden.

4        Den Ausführungen des Revisionswerbers, er sei am 19. August 2019 in der Postgeschäftsstelle 8042 gewesen und der Postbedienstete H habe ihm dort die Auskunft erteilt, das Schriftstück sei bereits an den Absender zurückgegangen, werde kein Glauben geschenkt. Nach den Aussagen zweier in der mündlichen Verhandlung als Zeugen vernommener Mitarbeiter der Postgeschäftsstelle 8042 sowie der dabei vorgelegten Diensteinteilung sei H am 19. August 2019 und die restlichen Tage der Woche auf Urlaub gewesen. Es hätten nur die beiden Zeugen am 19. August 2019 in der Postgeschäftsstelle Dienst verrichtet. Da der Revisionswerber nach seinen eigenen Angaben in seiner urlaubsbedingten Abwesenheit zumindest eine weitere Hinterlegungsanzeige erhalten habe und er immer wieder RSa-Briefe wegen „BH-Strafen“ und Exekutionen bekommen habe, liege die Vermutung nahe, dass er die einzelnen Ereignisse nicht mehr richtig zuordnen könne.

5        In der rechtlichen Würdigung führte das LVwG aus, der Revisionswerber habe jedenfalls nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangt, weil ihm bei Annahme der Zustellung am 8. August 2019 für die Beschwerdeerhebung nur zwei Wochen und vier Tage verblieben wären. Gemäß § 17 Abs. 3 letzter Satz Zustellgesetz - ZustG werde die Zustellung jedoch an dem der Rückkehr folgenden Tag innerhalb der Abholfrist bewirkt. Dies sei Montag, 19. August 2019, gewesen; dieser Tag liege noch innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Zwei-Wochen-Frist für die Bereithaltung des hinterlegten Dokuments (22. August 2019). Es gelte daher das hinterlegte Dokument mit 19. August 2019 als zugestellt. Es habe die Beschwerdefrist am Montag, 16. September 2019, geendet. Die am 21. Oktober 2019 erhobene Beschwerde sei daher verspätet.

6        Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, das LVwG habe den Beweisanträgen des Revisionswerbers auf Einvernahme sowohl des Zustellorgans als auch des Schalterbeamten H nicht entsprochen. Der Mangel sei relevant, weil dem Revisionswerber vom Schalterbeamten H mitgeteilt worden sei, dass das Schriftstück wieder an die belangte Behörde zurückgegangen sei, weswegen keine wirksame Zustellung vorliege. Mit diesem Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch berechtigt:

8        Gemäß § 17 Abs. 3 ZustG ist ein hinterlegtes Dokument mindestens zwei Wochen zur Abholung bereitzuhalten. Der Lauf dieser Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Dokument erstmals zur Abholung bereitgehalten wird. Hinterlegte Dokumente gelten mit dem ersten Tag dieser Frist als zugestellt. Sie gelten nicht als zugestellt, wenn sich ergibt, dass der Empfänger oder dessen Vertreter im Sinne des § 13 Abs. 3 ZustG wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, doch wird die Zustellung an dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirksam, an dem das hinterlegte Dokument behoben werden könnte.

9        Im Revisionsfall hat der Revisionswerber die Einvernahme u.a. des Schalterbeamten H zum Beweis dafür beantragt, dass ihm dieser am 19. August 2019 mitgeteilt habe, das gegenständliche Straferkenntnis sei bereits an die belangte Behörde zurückgesendet gewesen. Das LVwG hat das Unterbleiben dieser Einvernahme nicht ausdrücklich begründet, aber umfangreiche Feststellungen getroffen, die den Schluss zulassen, dass das LVwG der Auffassung gewesen ist, diese seien bereits ausreichend zur Beurteilung des Beschwerdegegenstandes gewesen, sodass die Einvernahme des Schalterbeamten H habe unterbleiben können.

10       Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gelten im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gemäß Art. 130 Abs. 4 erster Satz B-VG (siehe auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst zu entscheiden hat, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem Verwaltungsgericht in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt (vgl. VwGH 31.3.2021, Ra 2020/17/0097, mwN).

11       Dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ist eine antizipierende Beweiswürdigung prinzipiell fremd. Eine unzulässige antizipierende Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorweggenommen wird. Beweisanträge bzw. eine Aufnahme von Beweisen von Amts wegen dürfen prinzipiell nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel - ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung - untauglich bzw. an sich nicht geeignet ist, über den beweiserheblichen Gegenstand einen Beweis zu liefern. Solange etwa einem Zeugenbeweis die grundsätzliche Eignung, zur Feststellung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen, nicht abgesprochen werden kann, wäre in einer (ausdrücklichen) Feststellung, der Zeuge hätte ohnehin nicht Wesentliches beitragen können, eine unzulässige vorwegnehmende Beweiswürdigung gelegen. Die gleiche Wertung liegt dem stillschweigenden Übergehen eines beantragten Beweises bzw. eines Beweises zugrunde, dessen Vornahme zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes von Amts wegen erforderlich ist (vgl. zu all dem etwa VwGH 30.1.2019, Ra 2018/03/0131, mwN).

12       Im Revisionsfall hat der Revisionswerber die Einvernahme zweier Zeugen beantragt. Während die Revision im Zusammenhang mit der unterbliebenen Einvernahme des Zustellorgans kein Relevanzvorbringen enthält und ein solches auch nicht ersichtlich ist, kann einer Einvernahme des Schalterbediensteten H die grundsätzliche Eignung, zur Feststellung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen, nicht von vornherein abgesprochen werden (vgl. zu den Voraussetzungen einer rechtswidrigen Zustellung durch Hinterlegung etwa VwGH 26.6.2007, 2004/13/0093). Das LVwG hätte somit den Zeugen H befragen oder nachvollziehbar begründen müssen, warum es auf dieses Beweismittel nicht ankomme oder dieses untauglich bzw. an sich nicht geeignet sei, über den beweiserheblichen Gegenstand einen Beweis zu liefern.

13       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. Juli 2021

Schlagworte

Ablehnung eines Beweismittels Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweislast

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020170130.L00

Im RIS seit

02.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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