TE OGH 2021/8/19 33R69/21s

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Veröffentlicht am 19.08.2021
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie die Richter Dr. Schober und Dr. Stiefsohn in der Rechtssache der klagenden Partei *****, vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei *****, wegen Unterlassung (EUR 30.000) und Urteilsveröffentlichung (EUR 5.000) über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 4.5.2021, 58 Cg 56/20y-42, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird geändert und lautet:

«Der beklagten Partei wird die Verfahrenshilfe nach § 64 Abs 1 Z 3 ZPO durch Beigebung eines Rechtsanwalts im vollen Ausmaß bewilligt.»

Die Benachrichtigung des Ausschusses der zuständigen Rechtsanwaltskammer (§ 67 ZPO) bleibt dem Erstgericht vorbehalten.

Der Revisionsrekurs ist jedenfalls unzulässig.

Begründung

Text

Der Kläger trägt in der Klage vor, der Beklagte sei ein Rechtsanwalt gewesen, der auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet habe. Im Geschäftsverkehr trete er als „*****, Rechtsanwalt em“ auf, und er verwende die E-Mail-Adresse „l*****.at“. Der Kläger, zu dessen satzungsgemäßen Aufgaben die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der österreichischen Rechtsanwaltschaft gehöre, beantragt, dem Beklagten zu verbieten, sich als „Rechtsanwalt em“ zu bezeichnen und eine E-Mail-Adresse zu verwenden, die auf eine rechtsanwaltliche Tätigkeit hinweise, wie insbesondere „l*****.at“. Der Kläger begehrt weiter, den Spruch des stattgebenden Urteils innerhalb von drei Monaten in einer Ausgabe des österreichischen Anwaltsblatts mit einer bestimmten Gestaltung zu veröffentlichen.

Innerhalb der Frist stellte der Beklagte den Antrag, ihm die Verfahrenshilfe zu gewähren und ihm einen Verfahrenshelfer beizugeben. Einen Beschluss, mit dem das Erstgericht diesen Antrag abwies, hob das Rekursgericht am 16.2.2021 auf (33 R 9/21t, 33 R 10/21i).

Gegen den Unterlassungsanspruch trug der Beklagte im Schreiben vom 29.9.2020, ON 9, vor, die Klage sei unschlüssig, weil die Rechtsanwaltskammer selbst ihn und auch andere emeritierte Rechtsanwälte mit „em Rechtsanwalt“ tituliert habe und niemand auf die Idee käme, hinter dieser Abkürzung etwas anderes als das Wort „emeritiert“ zu vermuten. Die Domain „l*****“ besitze er seit über 30 Jahren, und sie weise nicht zwingend auf eine unzulässige Berufsausübung als Rechtsanwalt hin. Die Klage sei ein mutwilliger Versuch der willkürlichen Repression, Schädigung und Gängelung.

Mit dem nun angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ab. Es ging dabei vom folgenden bescheinigten Sachverhalt aus:

Der Beklagte war bis [...] als Rechtsanwalt eingetragen, legte die Berechtigung zur Berufsausübung zurück und bezieht aus einer Berufsunfähigkeitspension seit Februar 2019 EUR ***** (14-mal im Jahr, ergibt EUR ***** pro Monat).

Er ist Mieter einer ca ***** m² großen Wohnung, wofür er EUR ***** an Miete und EUR ***** an Kosten für Gas und Strom aufzubringen hat.

Er verfügt über ein Bankkonto mit einem Guthaben von rund EUR ***** und Bargeld unter EUR *****.

Er hat Schulden aus verlustig gegangenen Prozessen in der Höhe von ca EUR *****. Aus diesen Titeln wird gegen ihn Exekution geführt.

Seine Frau ist derzeit ohne Beschäftigung und bezieht EUR ***** täglich an Arbeitslosenunterstützung und EUR ***** monatlich an Familienbeihilfe.

Der Beklagte ist unterhalts- und sorgepflichtig für eine Tochter, geboren *****, und einen Sohn, geboren *****. Die Tochter lebt im gemeinsamen Haushalt mit dem Beklagten und seiner Frau. Für den Sohn leistet der Beklagte monatlich EUR ***** Unterhalt.

Der Beklagte ist Eigentümer einer Liegenschaft in *****, mit einem geschätzten Wert von EUR *****, ob der ein Veräußerungs- und Belastungsverbot zu Gunsten seiner Frau besteht. Zwischen ihm und seiner Frau besteht ein Schenkungsvertrag [...] zu dieser Liegenschaft. [...]

Rechtlich erwog das Erstgericht, dass der Beklagte als ehemaliger Rechtsanwalt nicht verpflichtet sei, sich im Verfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, sondern dass er im eigenen Namen auftreten dürfe. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt sei daher im Sinne des § 64 Abs 1 Z 3 ZPO nicht gesetzlich geboten, sodass ein Verfahrenshelfer nur beigegeben werden dürfe, wenn dies (trotz des Fehlens der Anwaltspflicht) nach der Lage des Falles erforderlich sei. Diese zweite Voraussetzung sei im konkreten Fall nicht erfüllt.

Dagegen richtet sich der Rekurs des Beklagten, der unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht. Er trägt vor, das Erstgericht habe richtig festgestellt, dass er finanziell nicht in der Lage sei, einen Rechtsanwalt zu finanzieren.

Der Kläger hat den Rekurs nicht beantwortet; die Revisorin hat auf die Beantwortung des Rekurses verzichtet.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt.

Zumindest erkennbar steht der Beklagte auf dem Standpunkt, im vorliegenden Fall bestehe für ihn Anwaltspflicht. Dies trifft zwar auf Grund der gängigen Auslegung von § 28 Abs 1 ZPO nicht zu (1 Ob 237/04s; RS0035758), die auch Anwälte von der Anwaltspflicht ausnimmt, die auf die Ausübung des Berufs verzichtet haben, doch beantwortet dies nach der Einschätzung des Rekursgerichts noch nicht abschließend die Frage, ob in der vorliegenden Causa nach dem Regelungszweck des § 64 Abs 1 Z 3 ZPO „die Vertretung durch einen Rechtsanwalt gesetzlich geboten“ ist. Grundsätzlich und nur mit Blick auf das Verfahren ist dies der Fall, weil das Verfahren vor dem Gerichtshof erster Instanz geführt wird.

Das Fehlen der Anwaltspflicht beruht auf Überlegungen zur persönlichen Eigenschaft des Beklagten. Bei einer rein auf den Text und nicht auf den Zweck der Regelung blickenden Auslegung könnte dem Beklagten auch beim Vorliegen der finanziellen Voraussetzungen somit ein Verfahrenshelfer nur beigegeben werden, wenn dies „nach der Lage des Falls erforderlich“ erscheint. In diese Richtung hat das Erstgericht auch argumentiert.

Damit wäre aber verbunden, dass die Befreiung von der Anwaltspflicht, die sich aus der gängigen Auslegung des § 28 Abs 1 ZPO ergibt, dem Beklagten im konkreten Zusammenhang zum Nachteil gereichen würde. Der Zweck, eine Person von der Anwaltspflicht zu befreien, kann aber nicht darin liegen, diese Partei zu benachteiligen. Dies berücksichtigt die Rechtsprechung auch dadurch, dass auch aktiven Rechtsanwälten zugebilligt wird, sich trotz der Befreiung von der Anwaltspflicht im Verfahren durch einen Anwalt vertreten zu lassen, und dass die Vertretungskosten bei der Kostenentscheidung grundsätzlich als zweckentsprechend erachtet werden (die von der Rechtsprechung darüberhinaus geübte Praxis, auch in eigener Sache auftretende unvertretene Rechtsanwälte einen Kostenersatz nach dem RATG zuzusprechen, ändert daran nichts). Auch im Kostenrecht wird somit berücksichtigt, dass die Befreiung von der Anwaltspflicht zumindest nicht zum Nachteil einer in § 28 Abs 1 ZPO genannten Person ausschlägt.

Der Wertungswiderspruch, der sich aus der Verschärfung der Voraussetzung für die Beigebung eines Verfahrenshelfers ergeben würde, wird auch deutlich, wenn man bedenkt, dass nur der Verzicht auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft nach § 34 Abs 1 Z 3 RAO zur Auslegung des § 28 Abs 1 ZPO dahingehend führt, dass der Rechtsanwalt weiterhin in eigener Sache vertretungsbefugt bleibt, während die auf den weiteren relevanten Beendigungsgründen (wie Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft, Bestellung eines Erwachsenenvertreters für den Rechtsanwalt, Insolvenz und Streichung aus der Liste als Ergebnis eines Disziplinarverfahrens) aufbauenden Sachverhalte die Anwaltspflicht unbeschränkt entstehen oder aufleben lassen. Hätte der Beklagte somit nicht auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, sondern wäre er von der Liste gestrichen worden, wären die Hürden zur Beigebung eines Verfahrenshelfers niedriger.

Rechtsprechung zur hier vorliegenden Konstellation fehlt. M. Bydlinski führt in Fasching/Konecny3 § 64 ZPO Rz 15 nur allgemein aus, dass ein Verfahrenshelfer „an sich – mangels Notwendigkeit – nicht zu bestellen“ sei, wenn die Partei persönlich von der Anwaltspflicht befreit sei. Hingegen gibt es Entscheidungen darüber, dass Rechtsanwälte, die sogar kraft ihrer beruflichen Eigenschaft zu Sachwaltern bestellt worden sind, im Verfahren überdies durch einen anderen Rechtsanwalt als Verfahrenshelfer vertreten sein dürfen (vgl dazu OLG Wien 11.7.2002, 16 R 148/02f = WR 932; 27.2.2014, 16 R 263/13h = WR 1167).

Insgesamt kommt das Rekursgericht zum Ergebnis, dass das Tatbestandselement „sofern die Vertretung durch einen Rechtsanwalt gesetzlich geboten ist“ in § 64 Abs 1 Z 3 ZPO nur auf die Voraussetzungen des § 27 ZPO abstellt, und dass somit die Freiheit, sich selbst zu vertreten, die § 28 ZPO bietet, bei der Beigebung eines Verfahrenshelfers nicht in eine Verpflichtung umgedeutet werden darf, unverteten zu prozessieren, und somit außer Betracht bleibt.

Da sich aus dem bescheinigten Sachverhalt ergibt, dass der Beklagte die Kosten eines Prozessbevollmächtigten nicht tragen könnte, ohne den notwendigen Unterhalt zu beeinträchtigen, käme die Beigebung eines Rechtsanwalts nur dann nicht in Betracht, wenn die Rechtsverteidigung offenbar mutwillig oder offenbar aussichtslos wäre. Trotz der teilweise emotionalen schriftlichen Äußerungen des Beklagten sieht das Rekursgericht diese Negativvoraussetzungen angesichts der zu lösenden Rechtsfragen nicht als gegeben an.

Dem Beklagten war somit die Verfahrenshilfe im Umfang des §§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO zu bewilligen.

§ 528 Abs 2 Z 4 schließt den weiteren Rechtszug aus.

Schlagworte

Zivilprozess; Prozessrecht; Verfahrenshilfe; Befreiung von der Anwaltspflicht,

Textnummer

EW0001114

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2021:03300R00069.21S.0819.000

Im RIS seit

30.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

30.08.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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