TE Vfgh Erkenntnis 1995/6/12 G29/95, G35/95

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Veröffentlicht am 12.06.1995
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
AlVG §25 Abs1

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung des AlVG über die Verpflichtung zur Rückzahlung von Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe zur Gänze infolge Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze des Einkommens eines selbständig Erwerbstätigen ohne Vorhersehbarkeit der Ungebührlichkeit der Leistung wegen Verstoß gegen den Gleichheitssatz

Spruch

Der dritte Satz des §25 Abs1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609, in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 416/1992 war verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Der Verwaltungsgerichtshof stellt aus Anlaß zweier bei ihm anhängiger Beschwerden den Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle den dritten Satz des §25 Abs1 AlVG in der Fassung BGBl. 416/1992 als verfassungswidrig aufheben.

1. a) §25 Abs1 AlVG idF des ArtI Z13 des BG BGBl. Nr. 416/1992 - der angefochtene Satz ist hervorgehoben - lautet:

"§25. (1) Bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung ist der Empfänger des Arbeitslosengeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen mußte, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Die Verpflichtung zum Ersatz des empfangenen Arbeitslosengeldes besteht auch dann, wenn im Falle des §12 Abs8 das Weiterbestehen des Beschäftigungsverhältnisses festgestellt wurde, sowie in allen Fällen, in denen rückwirkend das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses festgestellt oder vereinbart wird. Der Empfänger einer Leistung nach diesem Bundesgesetz ist auch zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich auf Grund seines bzw. seines Angehörigen nachträglich vorgelegten Einkommensteuerbescheides ergibt, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte."

Gemäß §38 AlVG ist unter anderem diese Bestimmung auch auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

b) Mit ArtI Z12a des BG BGBl. 817/1993 wurde dem §25 Abs1 AlVG ein weiterer (vierter) Satz angefügt.

Durch ArtXXII Z18 des Strukturanpassungsgesetzes, BGBl. 297/1995 erhielt der dritte Satz des §25 Abs1 AlVG eine neue Fassung, die am 1. Mai 1995 in Kraft getreten ist (§79 Abs18 AlVG idF BGBl. 297/1995).

3. a) Die dem Antrag G29/95 zugrundeliegende (beim Verwaltungsgerichtshof zu Z94/08/0164 anhängige) Beschwerde wendet sich gegen einen Bescheid des Landesarbeitsamtes Oberösterreich, mit dem die Zuerkennung der Notstandshilfe an die Beschwerdeführerin unter anderem für den Zeitraum 1. Juli 1992 bis 26. Oktober 1992 widerrufen (§38 iVm §24 Abs2 AlVG) und ihr der Rückersatz der für diesen Zeitraum zu Unrecht bezogenen Notstandshilfe vorgeschrieben wird (§38 iVm §25 Abs1 AlVG), weil aufgrund des gemäß §§2 und 6 NotstandshilfeV anzurechnenden Einkommens ihres Lebensgefährten aus selbständiger Erwerbstätigkeit laut (nachträglich vorgelegtem) Einkommensteuerbescheid 1992 keine Notlage bestanden habe.

b) Die dem Antrag G35/95 zugrundeliegende (beim Verwaltungsgerichtshof zu Z94/08/0190 anhängige) Beschwerde wendet sich gegen einen Bescheid des Landesarbeitsamtes Oberösterreich, mit dem - gestützt auf §38 iVm §§24 Abs2 und 25 Abs1 AlVG - die Bemessung der dem Beschwerdeführer gewährten Notstandshilfe für die Zeit vom 1. Februar bis 30. Juli 1992, vom 13. August bis 31. Dezember 1992 und vom 1. bis 31. Jänner 1993 unter Anrechnung des Einkommens seiner Ehefrau aus selbständiger Erwerbstätigkeit laut nachträglich vorgelegtem Einkommensteuerbescheid berichtigt und ihm der sich aus dieser Berichtigung ergebende Übergenuß zum Rückersatz vorgeschrieben wird.

c) In seinen Anträgen führt der Verwaltungsgerichtshof aus, daß die Rechtmäßigkeit der bekämpften Bescheide entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung zur grundsätzlichen Zeitraumbezogenheit von Ansprüchen über Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung (vgl. z.B. den Beschluß vom 30. September 1994, Zl. 93/08/0254) mangels diesbezüglich anderes anordnender gesetzlicher Bestimmungen nach der im Widerrufs- und Rückforderungszeitraum geltenden Rechtslage zu prüfen sei, die Berechtigung der Rückforderung für die in Rede stehenden Zeiträume demgemäß nach dem dritten Satz des §25 Abs1 AlVG in der Fassung der (mit 1. Juli 1992 in Kraft getretenen) Novelle BGBl. Nr. 416/1992. Bei der im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte vom Verwaltungsgerichtshof vorzunehmenden Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide sei der dritte Satz des §25 Abs1 AlVG in der genannten Fassung demnach präjudiziell.

Der Verwaltungsgerichtshof hegt gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung dieselben Bedenken, die zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §25 Abs1 dritter Satz AlVG idF BGBl. 615/1987 mit Erkenntnis vom 16. März 1995, G271/94 ua., führten.

3. Die Bundesregierung nahm im Hinblick auf das soeben zitierte Erkenntnis G271/94 ua. von einer meritorischen Äußerung abstand, beantragte aber für den Fall der Aufhebung der angefochtenen Regelung die Setzung einer einjährigen Frist für deren Außerkrafttreten.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Anträge sind zulässig. Das Verfahren hat nichts ergeben, was an der Zulässigkeit des Antrages oder der Präjudizialität der angefochtenen Norm zweifeln ließe. Auch sonst sind die Prozeßvoraussetzungen gegeben.

2. Die Anträge sind auch begründet.

Der Verfassungsgerichtshof verweist auf die Entscheidungsgründe seines Erkenntnisses vom 16. März 1995, G271/94 ua., mit dem (unter anderem) ausgesprochen wurde, daß der dritte Satz des §25 Abs1 AlVG idF BGBl. 615/1987 verfassungswidrig war. Die in diesem Erkenntnis in bezug auf die Verfassungswidrigkeit des dritten Satzes des §25 Abs1 AlVG idF BGBl. 615/1987 angestellten Erwägungen treffen auch für den dritten Satz des §25 Abs1 AlVG idF BGBl. 416/1992 zu, welcher sich von seiner Vorgängerbestimmung nur dadurch unterscheidet, daß nunmehr - anstelle der Aufzählung der einzelnen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung - nur mehr allgemein von "einer Leistung nach diesem Bundesgesetz" die Rede ist.

Die in Prüfung gezogene Gesetzesvorschrift verstößt sohin gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot.

3. Da seit 1. Mai 1995 der dritte Satz des §25 Abs1 AlVG in der Fassung des ArtXXII Strukturanpassungsgesetz, BGBl. 297/1995, in Kraft steht und die in Prüfung stehende Bestimmung daher - ungeachtet ihrer Anwendbarkeit auf vergangene Sachverhalte - nicht mehr geltendes Recht ist, hat sich der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs4 erster Satz B-VG auf die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit zu beschränken (vgl. auch hiezu das schon zitierte Erkenntnis G271/94 ua.).

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung erfließt aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz und Z2 VerfGG abgesehen werden, weil die Rechtsfrage durch die bisherige Rechtsprechung bereits genügend klargestellt ist.

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, VfGH / Anlaßfall, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Notstandshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G29.1995

Dokumentnummer

JFT_10049388_95G00029_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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