TE Vwgh Erkenntnis 2021/7/8 Ra 2021/20/0111

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Veröffentlicht am 08.07.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58
AVG §60
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März 2021, W193 2208493-1/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: O S in T, vertreten durch Mag. Wissam Barbar, Rechtsanwalt in 1110 Wien, Simmeringer Hauptstraße 99/2/10), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan (aus dem Dorf L in der Provinz Lahgman/Distrikt Qarghai), stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 21. Dezember 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er gab zum Grund seiner Flucht aus dem Heimatland an, die Taliban seien in seine Schule gekommen und hätten gesagt, dass diese geschlossen werden müsse. Eines Tages seien die Taliban während des Unterrichts wieder in die Schule gekommen und hätten aus der Klasse des Mitbeteiligten einige Schüler mitgenommen. Der Mitbeteiligte, der nicht darunter gewesen sei, sei dann schnell nach Hause gelaufen. Die Taliban nähmen die Schüler mit, um aus ihnen Selbstmordattentäter zu machen.

2        Mit Bescheid vom 8. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 sowie § 9 BFA-Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung - zusammengefasst und soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - zugrunde, dass die Angaben des Mitbeteiligten zum Grund seiner Flucht unglaubwürdig seien und ihm zudem (in Kabul) eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe.

4        Das Bundesverwaltungsgericht sprach nach Durchführung einer Verhandlung mit dem Erkenntnis vom 1. März 2021 aus, dass der vom Mitbeteiligten gegen diesen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobenen Beschwerde stattgegeben, ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt werde, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem erklärte das Verwaltungsgericht die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5        Das Bundesverwaltungsgericht führte im Rahmen seiner Feststellungen - erkennbar auf den vom Mitbeteiligten geltend gemachten Fluchtgrund Bezug nehmend - aus, er sei in seiner Heimat in das Blickfeld der Taliban geraten. Er sei aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Daraufhin sei er nach Europa geflüchtet. Der Mitbeteiligte wäre im Fall der Rückkehr in sein Heimatland der Gefahr ausgesetzt, aufgrund „seiner (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt“ zu werden. Die Bedrohung beziehe sich auf das gesamte Staatsgebiet. Es stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

6        In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, der Mitbeteiligte sei in das Blickfeld der Taliban geraten, die versucht hätten, ihn für den Kampf im Dschihad zu rekrutieren. Da er sich der Rekrutierung durch Flucht entzogen habe, werde er als politischer und religiöser Gegner gesehen. Es sei nicht davon auszugehen, dass der afghanische Staat Schutz vor der Verfolgung bieten könne. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe „angesichts des landesweiten Netzes der Taliban“ nicht. Zuletzt hätten sich die Aktivitäten der Taliban auch in den „als sicher erkannten“ Provinzen gehäuft. Da sich der Mitbeteiligte der Kontrolle der Taliban durch Flucht entzogen habe, sei davon auszugehen, dass er auch in jenen Landesteilen, die nicht unter der Kontrolle der Taliban stünden, verfolgt werde. Daran ändere auch nichts, dass die Familienangehörigen des Mitbeteiligten weiterhin in Afghanistan lebten.

7        Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht mit einer klaren Rechtslage sowie dem Bestehen von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, auf die sich das Verwaltungsgericht habe stützen können.

8        Dagegen richtet sich die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet hat.

9        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verteidigt.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

11       Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zur Zulässigkeit der Revision geltend, die in den „Feststellungen“ enthaltenen Ausführungen würden durch die Beweiswürdigung nicht getragen. Aus der angefochtenen Entscheidung gehe nicht hervor, woraus sich für den Mitbeteiligten eine „individuelle und im Entscheidungszeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgungsgefahr in der Herkunftsprovinz“ ergebe. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe in seinem Bescheid darauf hingewiesen, dass selbst nach dem Vorbringen des Mitbeteiligten der behauptete Rekrutierungsversuch der Taliban „auf die gesamte Schülerschaft“ gerichtet gewesen sei und gegen den Mitbeteiligten keine konkreten Verfolgungshandlungen gesetzt worden seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich auch nicht mit dem bereits im Bescheid enthaltenen Argument, „low-profile-Personen“ hätten keine „generell gezielte“ Verfolgung durch die Taliban zu befürchten, auseinandergesetzt. Selbst wenn man von einer aktuellen Gefahr einer Verfolgung des Mitbeteiligten ausginge, ließe die aktuelle Berichtslage nicht den Schluss zu, dass der Mitbeteiligte, der kein erhöhtes Risikoprofil aufweise, über Jahre hinweg von den Taliban im gesamten Staatsgebiet Afghanistans gesucht werden würde.

12       Die Revision erweist sich als zulässig und begründet.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG festgehalten, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/19/0449, mwN).

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 12.3.2021, Ra 2020/19/0315, mwN).

15       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 12.6.2020, Ra 2019/18/0440, mwN).

16       Schon das Vorbringen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl trifft zu, wonach das Bundesverwaltungsgericht keine Feststellungen getroffen habe, die dessen rechtliche Beurteilung, im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts müsse der Mitbeteiligte bei Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus in der GFK genannten Gründen mit Verfolgungshandlungen rechnen, tragen könnten. Die zum Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten unter der Überschrift „Feststellungen“ getätigten Ausführungen stellen sich in erster Linie als rechtliche Beurteilung dar. Feststellungen zu den konkreten Geschehnissen sind diesen Ausführungen nur am Rande zu entnehmen. Zwar enthält die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts (disloziert) im Rahmen der beweiswürdigenden Erwägungen Ausführungen, die als Feststellungen angesehen werden können. Jedoch bleibt es auch unter Einbeziehung derselben völlig im Dunkeln, worauf das Bundesverwaltungsgericht seine Annahme gründet, der Mitbeteiligte werde - allenfalls: weiterhin - aus asylrelevanten Motiven einer Verfolgung (durch nichtstaatliche Akteure) unterliegen.

17       Im Übrigen verweist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auch zu Recht auf jene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach das Verwaltungsgericht, wenn es von einer Entscheidung der Behörde abweichen will, gehalten ist, auf deren beweiswürdigenden Argumente einzugehen, und nachvollziehbar zu begründen hat, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 16.2.2021, Ra 2020/19/0195, mwN).

18       Im vorliegenden Fall ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass der Mitbeteiligte konkrete, individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgungshandlungen nicht einmal vorgebracht habe. Warum diese Einschätzung unzutreffend sei oder der Mitbeteiligte ungeachtet des Fehlens solchen Vorbringens asylrelevanter Verfolgung unterliegen könnte, legt das Bundesverwaltungsgericht nicht näher dar. Die nicht weiter begründete Annahme, der Mitbeteiligte sei „in das Blickfeld der Taliban geraten“, genügt vor dem Hintergrund der dem angefochtenen Erkenntnis selbst bei einer Gesamtschau entnehmbaren bloß kursorischen Feststellungen den Anforderungen an eine nachvollziehbare Begründung nicht.

19       Der vom Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung vertretenen gegenteiligen Auffassung vermag sich der Verwaltungsgerichtshof nicht anzuschließen. Weshalb allein der Schulbesuch des Mitbeteiligten dazu führen hätte sollen, er unterliege als Angehöriger einer sozialen Gruppe Verfolgung, ist anhand der Ausführungen in der Revisionsbeantwortung nicht nachvollziehbar. Die Frage, ob dem Mitbeteiligten (allenfalls) subsidiärer Schutz zu gewähren wäre, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Revisionsverfahrens.

20       Da sohin das Bundesverwaltungsgericht infolge Verkennung der Rechtslage keine ausreichenden Feststellungen getroffen und sein Erkenntnis schon deshalb mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet hat, kommt es hier nicht weiter auf die Frage, ob dem Mitbeteiligten im Fall einer asylrechtlich relevanten Verfolgung eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, an. Insoweit kann es hier sein Bewenden haben, auf das - zu einer vergleichbaren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergangene - Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. April 2021, Ra 2020/19/0449, hinzuweisen.

21       Das angefochtene Erkenntnis war nach dem Gesagten wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - aufzuheben.

22       Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.

Wien, am 8. Juli 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200111.L00

Im RIS seit

10.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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