TE OGH 2021/6/22 10ObS18/21a

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Veröffentlicht am 22.06.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Mag. Karlheinz Amann, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Dezember 2020, GZ 10 Rs 105/20i-44, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 2. September 2020, GZ 33 Cgs 217/19x-39, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]            Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld der Stufe 7 ab 1. 11. 2018.

[2]            Die ***** 1956 geborene Klägerin benötigt für sämtliche Verrichtungen des täglichen Lebens Betreuung und Hilfe, die zeitlich nicht koordinierbar ist. Zur (Rest-)Bewegungsfähigkeit der Klägerin steht fest, dass sie sich selbständig im Bett umdrehen und dazu die Hände verwenden kann. Dadurch „erspart“ sich eine Pflegeperson das Umwenden, um ein Wundliegen zu vermeiden. Für das Aufsetzen benötigt die Klägerin Hilfe. Sie ist manuell in der Lage, eine Rufglocke zu bedienen, ein Mobiltelefon oder eine Fernbedienung zu ergreifen oder eine Quietschpuppe oder eine an der Hand angebrachte Notrufeinrichtung zu drücken. Die Klägerin ist aber geistig nicht in der Lage zu verstehen, aus welchem Grund und wann sie eine Rufeinrichtung benutzen soll. Sie schreit, wenn sie meint, etwas zu benötigen. Sie reagiert beispielsweise auf die Aufforderung, die Hand zu geben oder die Beine hochzuheben, ist aber nicht in der Lage, die Anweisung gezielt zu befolgen, sondern zieht die Beine beispielsweise an anstatt sie hochzuheben.

[3]            Mit Bescheid vom 28. 1. 2019 bemaß die Beklagte das Pflegegeld neu und erkannte der Klägerin, die zuvor Pflegegeld der Stufe 5 bezogen hatte, ab 1. 11. 2018 Pflegegeld der Stufe 6 zu.

[4]            Das Erstgericht gab der auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 gerichteten Klage statt. Die Klägerin sei nicht in der Lage, Bewegungen gezielt zu einem beabsichtigten Zweck zu steuern, sodass Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 bestehe.

[5]            Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Urteil dahin ab, dass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 zuerkannt wurde. Die Revision ließ es nicht zu. Rechtlich erachtete es als ausschlaggebend, dass der Klägerin eine selbständige Kontaktaufnahme mit der in der Wohnung anwesenden Pflegeperson durch Schreien möglich sei, weil sich die Reduktion der geistigen Fähigkeiten nur auf die Verwendung einer Rufglocke oder anderer Notfalleinrichtungen beziehe, nicht aber auf das Schreien. In der Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen, liege eine Erleichterung der Pflege. Außerdem sei wegen der Fähigkeit der Klägerin zu Bewegungen im Bett das Umwenden zur Vorbeugung der Dekubitus-Gefahr nicht notwendig.

[6]            Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des klagestattgebenden Ersturteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7]            Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8]            Die Revision ist zur Präzisierung der – einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ausschließenden – Fähigkeit zur funktionellen Umsetzung zielgerichteter Bewegungen zulässig. Sie ist im Sinn einer Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen auch berechtigt.

[9]       Nach § 4 Abs 2 BPGG sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 7 gegeben, wenn keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind oder ein gleichzuachtender Zustand vorliegt.

[10]           Anspruchsvoraussetzung ist ein Zustand, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 5/07 SSV-NF 21/16). Entscheidend ist die Unfähigkeit zu zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung (10 ObS 82/01h SSV-NF 15/50; vgl RIS-Justiz RS0106363 [T10], ebenso bereits [T4]).

[11]           Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird für die Unmöglichkeit zielgerichteter Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung verlangt, dass ein Pflegebedürftiger zu keinen willentlich gesteuerten Bewegungen, die einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, in der Lage ist (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 5/07v SSV-NF 21/16 je mwN; RS0106363 [T5, T7]).

[12]           Ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 wird nicht erst dadurch ausgeschlossen, dass die zielgerichteten Bewegungen noch zur Vornahme der im Pflegegeldrecht maßgebenden Betreuungs- und Hilfsverrichtungen eingesetzt werden können (RS0106363 [T15]). Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand – wenn auch geringfügig – zu mindern bzw die Lebensführung des Betroffenen zu erleichtern (10 ObS 108/11x; RS0106363 [T22, T24]; vgl im Einzelnen die Darstellung bei Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.419 ff). Bereits ein einziger dem Pflegebedürftigen noch möglicher Bewegungsablauf dieser Qualität (zielgerichtete Bewegungen einer Extremität mit funktioneller Umsetzung) schließt daher die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 aus (10 ObS 108/11x; 10 ObS 157/03s; RS0106363 [T12]). Daher besteht etwa dann kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7, wenn der Pflegebedürftige Essen zielgerichtet zum Mund führen oder einen Schnabelbecher zum Mund heben und daraus trinken kann (vgl 10 ObS 108/11x). In diese Richtung geht auch die Fähigkeit zur selbständigen Veränderung der Lage im Bett (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 5/07v SSV-NF 21/16). Ist dem Pflegebedürftigen das aktive Umlagern im Bett und damit ein zielgerichteter Bewegungsablauf möglich, der zu einer – wenn auch geringfügigen – Erleichterung der Pflege führt, weil er dadurch eigenständig einer Dekubitusgefahr vorbeugen kann, sind die Voraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 7 nicht erfüllt (10 ObS 209/09x).

[13]           Es reicht aber nicht aus, wenn dem Betroffenen nur reflexhafte Bewegungen möglich sind, die nicht zielgerichtet sind und nur zufällig ihr Ziel erreichen („Massebewegungen“; 10 ObS 82/01h SSV-NF 15/50). Auch die Fähigkeit, Arme und Beine anzuheben und auszustrecken, führt daher für sich allein noch nicht notwendig zum Ausschluss von Pflegegeld der Stufe 7 (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47), weil es darauf ankommt, ob dem Pflegebedürftigen der zielgerichtete Einsatz dieser Bewegungen möglich ist.

[14]           Kann der Pflegebedürftige zwar noch Bewegungen mit einer der vier Extremitäten durchführen, diese Fähigkeit aber aufgrund seiner geistigen Situation nicht mehr zielgerichtet zur funktionellen Umsetzung bestimmter Zwecke einsetzen, so ist die Pflegesituation vielmehr vergleichbar mit der einer völlig bewegungsunfähigen Person (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 5.425).

[15]           Sofern der Pflegebedürftige mit der Hand eine Notfalleinrichtung (Rufeinrichtung) betätigen kann, um Hilfe herbeizurufen, führt diese Fähigkeit insgesamt zu einer gewissen Vereinfachung und Erleichterung der Pflege, weil die Pflegeperson nicht ständig in der Nähe des Pflegebedürftigen anwesend sein muss. In einem solchen Fall besteht kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 (10 ObS 87/10g mwN).

[16]           Der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ist in einem derartigen Fall aber nicht deshalb zu verneinen, weil dem Pflegebedürftigen schlechthin eine Kontaktaufnahme zu einer anderen Person möglich ist, sondern deshalb, weil er den Kontakt zur Pflegeperson mit Hilfe einer zielgerichteten Bewegung einer Extremität herstellen kann. Dass für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 auf den Einsatz der Extremitäten und nicht auf die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme mit anderen abzustellen ist, ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG.

[17]           Im vorliegenden Fall kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG vorliegen.

[18]           1. Im Hinblick auf das Herbeiholen von Hilfe ist die rein physische Fähigkeit der Klägerin zum Bedienen einer Notfalleinrichtung – wie auch das Berufungsgericht erkannte – nicht geeignet, den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 auszuschließen, weil die Klägerin geistig nicht zur zielgerichteten Bedienung in der Lage ist.

[19]           Die der Klägerin mögliche Kontaktaufnahme durch „Schreien“ hindert den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 nicht, weil darin keine Pflegeerleichterung durch den Einsatz einer Extremität liegt.

[20]           2. Im vorliegenden Fall ist daher die Fähigkeit der Klägerin, sich unter Zuhilfenahme der Hände im Bett umzudrehen und dadurch selbständig der Dekubitus-Gefahr vorzubeugen, entscheidend für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7:

[21]     2.1 Nach den Feststellungen der Vorinstanzen kann nicht abschließend beurteilt werden, ob es sich bei der körperlich vorhandenen Fähigkeit der Klägerin, sich im Bett unter Verwendung der Hände umzudrehen, unter Bedachtnahme auf ihren kognitiven Zustand tatsächlich um eine zielgerichtete Bewegung mit funktioneller Umsetzung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (insb 10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 209/09x) handelt. Dies würde erfordern, dass die Klägerin ihre Hände zum beabsichtigten Zweck einsetzen kann, ihre Lage im Bett willkürlich so regelmäßig zu verändern, dass ein Wundliegen vermieden wird und die Notwendigkeit einer regelmäßigen Umlagerung durch eine Pflegeperson entfällt.

[22]     In diesem Sinn bedarf es ergänzender Feststellungen, ob die Klägerin im Bett mit Hilfe ihrer Hände ihre Lage so regelmäßig und ausreichend selbst verändert, dass eine geplante regelmäßige Umlagerung durch eine Pflegeperson zur Vermeidung einer Dekubitus-Gefahr unterbleiben kann, oder ob ihr dies – etwa aufgrund ihres kognitiven Abbaus – nicht mehr regelmäßig möglich ist.

[23]     Nur im ersten Fall könnte von einer aktiven zweckgerichteten – den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ausschließenden – Beweglichkeit gesprochen werden, mit der noch eine relevante Vereinfachung der Pflege verbunden ist. Sollte hingegen, wie von der Klägerin vorgebracht, dies von der jeweiligen Tagesverfassung abhängig sein (Schriftsatz vom 26. 8. 2020, ON 34), läge darin keine ausreichende Vereinfachung der Pflege bzw Verringerung des Pflegeaufwands, müsste doch in diesem Fall dennoch eine ausreichende Umlagerung geplant, regelmäßig kontrolliert und bedarfsweise durchgeführt werden. In diese Richtung könnte auch die im Sachverständigengutachten wiedergegebene Äußerung einer Betreuungsperson deuten, die Klägerin wälze sich lediglich im Bett hin und her und bekomme dann blaue Flecken (Sachverständigengutachten ON 33, Seite 3).

[24]       2.2 Sollte die Klägerin nicht mehr in der Lage sein, ihre Fähigkeit, sich „selbständig im Bett umzudrehen und dazu die Hände zu verwenden“, zielgerichtet zu einer – die Pflege relevant erleichternden – Bewegung ihres Körpers einzusetzen, wäre ihr Anspruch auf Pflegegeld der Stufe7 zu bejahen.

[25]       3. Da eine endgültige Beurteilung auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht möglich ist, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung aufzuheben.

[26]     Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E132339

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00018.21A.0622.000

Im RIS seit

09.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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