TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/8 W152 2100662-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2021
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Entscheidungsdatum

08.02.2021

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs5
AsylG-DV 2005 §4 Abs1 Z2
AsylG-DV 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §10 Abs2
IntG §11 Abs2
IntG §9 Abs4
NAG §81 Abs36
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W152 2100662-2/17E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.06.2019, Zl. 1049832705-190095500, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.02.2021 zu Recht erkannt:

A)

I.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 58 Abs. 5, 54 Abs. 1 Z 1 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 81 Abs. 36 NAG idgF iVm § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

II.

Die Spruchpunkte II bis IV des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG idgF ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

Die Beschwerdeführerin reiste am 12.01.2015 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, wies dann mit Bescheid vom 23.01.2015, Zahl: 1049832705-150030522, den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Volksrepublik China abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde hiebei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Volksrepublik China zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III).

Das Bundesverwaltungsgericht wies die gegen den oben genannten Bescheid erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 04.04.2017, GZ: W197 2100662-1/7E, gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13, 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13, 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9 und § 46 FPG mit Maßgabe als unbegründet ab, dass der erste Satz des dritten Spruchpunktes zu lauten habe: „Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gem. § 57 AsylG 2005 nicht erteilt“. Dieses Erkenntnis wurde dem Bundesamt und dem Vertreter der Beschwerdeführerin jeweils am 05.04.2017 zugestellt.

Die Beschwerdeführerin stellte in weiterer Folge am 21.02.2019 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK („Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens“).

Weiters stellte die Beschwerdeführerin mit undatiertem Schriftsatz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 einen Antrag auf Heilung eines Mangels im Hinblick auf die Nichtvorlage eines Reisepasses und einer Geburtsurkunde.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, wies mit Bescheid vom 11.06.2019, Zahl: 1049832705-190095500, den Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I) und erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gemäß § 52 Abs. 1 FPG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II). Gleichzeitig wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung „nach China“ gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin fristgerecht Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Die strafgerichtlich unbescholtene Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Volksrepublik China, lebt nachweislich seit Jänner 2015 – somit seit mehr als 6 Jahren – ohne Unterbrechung im Bundesgebiet.

Die Beschwerdeführerin absolvierte mehrere Deutschkurse und konnte zunächst das ÖSD-Sprachzertifikat A1 am 21.02.2017 erwerben, wobei sie die diesbezügliche Prüfung mit dem Kalkül „sehr gut“ bestand. In weiterer Folge erwarb sie dann am 30.06.2017 das ÖSD-Sprachzertifikat A2, wobei sie die diesbezügliche Prüfung mit dem Kalkül „bestanden“ ablegte, jedoch mit 63 erreichten Punkten das Kalkül „gut“ nur um einen Punkt verfehlte. Derzeit strebt sie die Absolvierung der B1-Prüfung an. Während des Verhandlungsverlaufes war die Beschwerdeführerin auch bemüht, die Fragen in deutscher Sprache zu beantworten, und machte hiebei den Eindruck, den wesentlichen Kern der Fragen zu verstehen. Die Beschwerdeführerin verfügt – wie sich im Verhandlungsverlauf ergab – über ein ausgeprägtes passives Sprachverständnis der deutschen Sprache, wobei im aktiven Bereich die Kenntnisse jedenfalls zur Bewältigung des Alltagslebens ausreichen.

Die Beschwerdeführerin absolvierte in Österreich eine Vielzahl mannigfaltiger Lehrgänge im Bereich Massage und in hiezu verwandten Bereichen, wobei sie den Lehrgang für „Dorn & Breuss, Wirbelsäulen- und Gelenkstherapie“ am 27.09.2018 mit sehr gutem Erfolg, den Lehrgang für „Klassische Massage“ am 30.08.2018 mit gutem Erfolg, den Lehrgang für „Sportmassage“ am 13.09.2018 mit sehr gutem Erfolg, den Lehrgang für „Fußreflexzonenmassage“ am 10.10.2018 mit gutem Erfolg, den Lehrgang „Hot Stones“ am 03.01.2019 mit sehr gutem Erfolg und den Lehrgang für „Fußpflege“ am 11.04.2019 mit sehr gutem Erfolg jeweils beim XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , abschloss. Weiters absolvierte die Beschwerdeführerin am 07.01.2019 das theoretische und praktische Training „Permanent Contour Body & Slim-line“ und am 08.01.2019 das theoretische und praktische Training „Sassi dei Vulcano“/Behandlungstechnik mit kalten und warmen Steinen jeweils im Rahmen von XXXX , XXXX , XXXX . Weiters absolvierte die Beschwerdeführerin mit März 2019 den Grundkurs „Manipulativmassage nach Terrier“, Teil A-C, der XXXX erfolgreich.

Die Beschwerdeführerin verfügt auch über einen (aufschiebend bedingten) Arbeitsvertrag vom 01.07.2019 mit dem Massageinstitut XXXX , XXXX , XXXX , wobei Vollbeschäftigung und ein Bruttomonatslohn von Euro 2.100,-- (inkl. Überstundenpauschale) geboten wird, wodurch die Selbsterhaltungsfähigkeit der Beschwerdeführerin gewährleistet wird.

Weiters liegt ein mit Jänner 2020 datiertes Befürwortungsschreiben von XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , vor.

Die Beschwerdeführerin leistete auch ehrenamtliche Tätigkeit seit März 2018 als Tischbetreuerin für Chinesisch im Sprachencafé des Vereines XXXX , XXXX XXXX .

Besonders wesentlich erweist sich auch die bereits sechs Jahre andauernde Betreuung und Unterstützung des eine Behinderung aufweisenden Herrn XXXX , geb. XXXX , durch die Beschwerdeführerin. So erledigt sie z.B. Einkäufe, begleitet ihn bei Arzt- und Apothekenbesuchen und rettete ihm durch das Bemerken von ausströmenden Gas sogar sein Leben.

Schließlich konnte die verwitwete Beschwerdeführerin in Österreich auch bereits einen Freundes- und Bekanntenkreis gewinnen, wobei insbesondere die in Wien lebende Künstlerin (Sängerin) und Integrationsbotschafterin XXXX auch XXXX (Künstlername), mit der die Beschwerdeführerin befreundet ist, hervorzuheben ist.

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 01.02.2021.

Die Feststellungen (zur Person der Beschwerdeführerin) ergeben sich insbesondere aus dem im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen der Beschwerdeführerin, aus den auch im Original vorgelegten ÖSD-Sprachzertifikaten A1 und A2, aus den Zeugnissen über die absolvierten Lehrgänge im Bereich Massage und in hiezu verwandten Bereichen, aus einer diesbezüglichen Befürwortung, aus einem Arbeitsvertrag, aus einer Bestätigung des Sprachencafés des Vereines XXXX vom 09.05.2018, aus den in der Verhandlung erfolgten zeugenschaftlichen Einvernahmen ihrer Freundin XXXX auch XXXX , geb. XXXX , und des von der Beschwerdeführerin betreuten Herrn XXXX , geb. XXXX , aus einer Vielzahl an Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben und aus den Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister (ZMR) und Strafregister (SA).

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt
(§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu Spruchpunkt A):

I.)

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Gemäß § 58 Abs. 5 AsylG 2005 sind Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.

§ 9 Abs. 2 BFA-VG idgF lautet:
„(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch
Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch
EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern
(EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer,
ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied
(EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014,, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Gemäß § 8 Abs. 1 der AsylG-DV 2005 sind folgende Urkunden und Nachweise – unbeschadet weiterer Urkunden und Nachweise nach den Abs. 2 und 3 leg.cit. – im amtswegigen Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 3) beizubringen oder dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) anzuschließen: 1. gültiges Reisedokument ( § 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG); 2. Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument; 3. Lichtbild des Antragstellers gemäß § 5; 4. erforderlichenfalls Heiratsurkunde, Urkunde über die Ehescheidung, Partnerschaftsurkunde, Urkunde über die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, Urkunde über die die Annahme an Kindesstatt, Nachweis oder Urkunde über das Verwandschaftsverhältnis, Sterbeurkunde.

§ 2 Abs. 1 Z 2 NAG definiert als ein Reisedokument einen Reisepass, Passersatz oder ein sonstiges durch Bundesgesetz, Verordnung oder auf Grund zwischenstaatlicher Vereinbarungen für Reisen anerkanntes Dokument.

Gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 kann die Behörde auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs. 5, 6 und 12 AsylG 2005 zulassen: 1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls, 2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK oder 3. im Fall der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise, wenn deren Beschaffung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

Beabsichtigt die Behörde den Antrag nach Abs. 1 zurück- oder abzuweisen, so hat die Behörde darüber gemäß Abs. 2 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

Da die strafgerichtlich unbescholtene Beschwerdeführerin jedenfalls nachweislich bereits seit Jänner 2015 – somit seit mehr als 6 Jahren – ohne Unterbrechung in Österreich lebt, die Beschwerdeführerin das Sprachzertifikat A1 und auch bereits das Sprachzertifikat A2 erwarb und über einen (aufschiebend bedingten) Arbeitsvertrag verfügt, ehrenamtliche Tätigkeiten leistete, seit sechs Jahren einen Behinderten betreut und unterstützt und auch einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich gewonnen hat, wobei die Interessen der Beschwerdeführerin insbesondere angesichts der bereits langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet somit die öffentlichen Interessen überwiegen, wird der Beschwerdeführerin der (beantragte) Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK erteilt.

Im Hinblick auf die obigen Ausführungen war die Heilung des Mangels der Nichtvorlage von Urkunden gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK zuzulassen.

Die Beschwerdeführerin erfüllt somit jedenfalls die Voraussetzung des
§ 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

Gemäß § 81 Abs. 36 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Die §§ 7 bis 16 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, mit Ausnahme vom § 13 Abs. 2 traten mit 01.10.2017 in Kraft.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung war gemäß § 14a Abs. 4 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte” gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß
§ 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;

2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Da die Beschwerdeführerin das Sprachzertifikat A2 bereits am 30.06.2017, somit vor dem maßgeblichen 01.10.2017 erwarb, erfüllt diese (auch) die Voraussetzung gemäß
§ 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb ihr somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat der Beschwerdeführerin den Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

II.)

Im Hinblick auf hg. Spruchpunkt A) I. waren die Spruchpunkte II bis IV des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG idgF ersatzlos zu beheben.

Zu Spruchpunkt B):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.

Aufgrund der Deutschkenntnisse der Beschwerdeführerin war die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung dauernder Aufenthalt Deutschkenntnisse ersatzlose Teilbehebung Inlandsaufenthalt Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Kassation Mängelbehebung Mitwirkungspflicht mündliche Verhandlung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Reisedokument Rückkehrentscheidung behoben Spruchpunktbehebung Verhältnismäßigkeit Vorlagepflicht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W152.2100662.2.00

Im RIS seit

30.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

30.06.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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