TE Vwgh Erkenntnis 1989/3/22 85/18/0084

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Veröffentlicht am 22.03.1989
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Index

StVO
40/01 Verwaltungsverfahren
90/01 Straßenverkehrsordnung

Norm

StVO 1960 §76 Abs1
VStG §31 Abs1
VStG §31 Abs2
VStG §32 Abs2
VStG §44a lita
VStG §44a Z1 implizit

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Präsident Dr. Petrik und die Hofräte Dr. Pichler und Dr. Domittner als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hollinger, über die Beschwerde des EB in W, seinerzeit vertreten durch DDr. Gottfried Groh, Rechtsanwalt in Wien VIII, Florianigasse 19, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 16. Dezember 1982, Zl. MA 70-IX/B 349/81/Str, betreffend Übertretung der StVO 1960, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.270,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 16. Dezember 1982 wurde der Beschwerdeführer - unter teilweiser Ergänzung des Spruches des erstinstanzlichen Straferkenntnisses der Bundespolizeidirektion Wien vom 9. April 1981 - schuldig erkannt, er habe am 3. September 1980 um 21.25 Uhr in Wien 19, Langackergasse 1, länger die Fahrbahn betreten und dabei Fahrzeuge zum Anhalten gezwungen und an der Weiterfahrt gehindert, obwohl ein Gehsteig vorhanden war. Er habe dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 76 Abs. 1 StVO 1960 iVm § 99 Abs. 3 lit. a leg. cit. begangen. Über ihn wurde gemäß § 99 Abs. 3 lit. a dieses Gesetzes eine Geldstrafe und im Uneinbringlichkeitsfall eine Ersatzarreststrafe verhängt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsstrafverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof gab mit Beschluß vom 21. Dezember 1988 den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens seine vorläufige Rechtsansicht im Sinne des § 41 Abs. 1 zweiter Satz VwGG wie folgt bekannt:

Gemäß § 31 Abs. 1 VStG 1950 ist die Verfolgung einer Person unzulässig, wenn gegen sie binnen der Verjährungsfrist von der Behörde keine Verfolgungshandlung (§ 32 Abs. 2) vorgenommen worden ist. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 31 Abs. 2 leg. cit. - abgesehen von in diesem Zusammenhang nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen - 6 Monate. Diese Frist ist von dem Zeitpunkt zu berechnen, an dem die strafbare Tätigkeit abgeschlossen worden ist oder das strafbare Verhalten aufgehört hat; ist der zum Tatbestand gehörende Erfolg später eingetreten, so läuft die Frist erst von diesem Zeitpunkt. Nach § 32 Abs. 2 VStG 1950 ist Verfolgungshandlung jede von einer Behörde gegen eine bestimmte Person als Beschuldigten gerichtete Amtshandlung (Ladung, Vorführungsbefehl, Vernehmung, Ersuchen um Vernehmung, Auftrag zur Ausforschung, Strafverfügung u. dgl.) und zwar auch dann, wenn die Behörde zu dieser Amtshandlung nicht zuständig war, die Amtshandlung ihr Ziel nicht erreicht oder der Beschuldigte davon keine Kenntnis erlangt hat.

Bei der Umschreibung der für eine Verfolgungshandlung wesentlichen Kriterien in der zuletzt zitierten Gesetzesstelle wird auf eine bestimmte Person als Beschuldigten abgestellt, dem eine konkrete strafbare Handlung oder Unterlassung angelastet wird, sodaß sich die Verfolgungshandlung auf eine bestimmte physische Person als Beschuldigten, ferner auf eine bestimmte Tatzeit, den ausreichend zu konkretisierenden Tatort und sämtliche Tatbestandselemente der durch die Tat verletzten Verwaltungsvorschrift im Sinne des § 44a lit. b VStG 1950 beziehen muß (siehe dazu die Erkenntnisse verstärkter Senate des Verwaltungsgerichtshofes vom 16. Jänner 1987, Zl. 86/18/0073, und vom selben Tag Zl. 86/18/0077).

Die Verfolgungshandlung gegen einen Beschuldigten muß daher das ihm zur Last gelegte Handeln - im Falle des Unterlassens durch Beschreibung jener Handlung, die er hätte setzen müssen und nach Auffassung der Behörde rechtswidrigerweise nicht gesetzt hat - unter Berücksichtigung sämtlicher gemäß § 44a lit. a VStG 1950 im Spruch des Straferkenntnisses aufzunehmenden Tatbestandselemente der verletzten Verwaltungsvorschrift gemäß § 44a lit. b leg. cit. näher konkretisieren und individualisieren. (Zur Erläuterung: Die Verfolgungshandlung muß daher im Sinne des zitierten Erkenntnisses auch - soweit dies tatbildlich ist - z.B. den Vorwurf umfassen, in welcher Eigenschaft (z.B. als Zulassungsbesitzer oder als Lenker eines Kraftfahrzeuges) der Beschuldigte gehandelt habe. Hiebei muß allerdings - in Abweichung von der früheren Rechtsprechung - das ebenfalls nach § 44a lit. a VStG 1950 im Spruch des Bescheides aufzunehmende Merkmal der verwaltungsstrafrechtlichen Verantwortlichkeit im Sinne des § 9 leg. cit. noch nicht von der Verfolgungshandlung erfaßt sein, weil es sich hiebei nicht um ein Tatbestandselement der verletzten Verwaltungsvorschrift handelt.)

Gemäß § 76 Abs. 1 in der auf den vorliegenden Beschwerdefall anzuwendenden Fassung vor der 11. StVO-Novelle, BGBl. Nr. 253/1984, haben Fußgänger, auch wenn sie Kinderwagen oder Rollstühle schieben oder ziehen, auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen; sie dürfen nicht überraschend die Fahrbahn betreten. Sind Gehsteige oder Gehwege nicht vorhanden, so haben Fußgänger das Straßenbankett und, wenn auch dieses fehlt, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen; hiebei haben sie auf Freilandstraßen, außer im Falle der Unzumutbarkeit, auf dem linken Straßenbankett (auf dem linken Fahrbahnrand) zu gehen.

Diese Bestimmung enthält für Fußgänger - abgesehen von dem im vorliegenden Beschwerdefall nicht relevanten Verbot, nicht überraschend die Fahrbahn zu betreten - verschiedene Gebote, die sich grundsätzlich nach den gegebenen örtlichen Verhältnissen richten, und zwar je nachdem, ob Gehsteige, Gehwege oder Straßenbankette vorhanden sind oder nicht, ob es sich um eine Freilandstraße handelt usw. (In diesem Zusammenhang fällt auf, daß es der Gesetzgeber offensichtlich übersehen hat, auch die Geh- und Radwege zu erwähnen.)

Das an Fußgänger gerichtete Verbot, im Ortsgebiet die Fahrbahn zu benützen, gilt - von den in der vorliegenden Beschwerdesache ebenfalls nicht in Betracht zu ziehenden Fällen des Überquerens der Fahrbahn im Sinne der Bestimmungen des § 76 Abs. 3 bis 9 StVO 1960 abgesehen - nur dann, wenn ein Gehsteig oder ein Gehweg oder ein Straßenbankett vorhanden ist. Die belangte Behörde hat dies auch erkannt und den Schuldspruch des erstinstanzlichen Straferkenntnisses durch die Anfügung der Worte „obwohl ein Gehsteig vorhanden war“ ergänzt.

Auf dem Boden der oben dargelegten Rechtslage zum Eintritt der Verfolgungsverjährung hätte eine die Verjährung unterbrechende Verfolgungshandlung das gemäß § 44a lit. a VStG 1950 im Spruch des Straferkenntnisses aufzunehmende Tatbestandsmerkmal „Nichtvorhandensein eines Gehsteiges“ der verletzten Verwaltungsvorschrift enthalten müssen. Die einzige innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 31 Abs. 2 VStG 1950 gegen den Beschwerdeführer in der vorliegenden Beschwerdesache als Beschuldigten gerichtete Verfolgungshandlung bildet die Strafverfügung der Bundespolizeidirektion Wien vom 11. Februar 1981. Mit dieser Strafverfügung wurde dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe zur Tatzeit am Tatort länger die Fahrbahn betreten und dabei Fahrzeuge zum Anhalten gezwungen und an der Weiterfahrt gehindert. Aus dieser Tatumschreibung ist nicht ersichtlich, daß am Tatort ein Gehsteig vorhanden war, wodurch der Beschwerdeführer verpflichtet gewesen wäre, nicht auf der Fahrbahn zu gehen.

Da nach der Aktenlage innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 31 Abs. 2 VStG 1950 keine auch das Tatbestandsmerkmal des Nichtvorhandenseins eines Gehsteiges umfassende Verfolgungshandlung vorgelegen ist, hätte die belangte Behörde den Schuldspruch nicht in Ansehung dieses Tatbestandsmerkmales ergänzen dürfen, sondern vielmehr die eingetretene Verfolgungsverjährung wahrnehmen und das Verwaltungsstrafverfahren einstellen müssen.

Schon aus diesen Gründen dürfte der angefochtene Bescheid mit einer vom Beschwerdeführer nicht geltend gemachten, jedoch vom Verwaltungsgerichtshof entsprechend dem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 19. September 1984, Slg. N.F. Nr. 11525/A, aufzugreifenden Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG belastet sein.

Darüber hinaus besteht das Bedenken, daß der im Instanzenzug bestätigte Tatort „Wien 19., Langackergasse 1“ mit folgender zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften führender Aktenwidrigkeit belastet sein dürfte:

Auf der ersten Seite seiner Anzeige vom 6. September 1980 gab der Meldungsleger nach Aufzählung von fünf Verwaltungsübertretungen und einer gerichtlich strafbaren Handlung als Tatort „Wien 19., Langackergasse 1“ an. Auf der Rückseite der Anzeige führte der Meldungsleger zu der in Rede stehenden Verwaltungsübertretung nach § 76 Abs. 1 StVO 1960 aus, während der Aufnahme „des Nationale des Aufforderers“ auf dem Standort „Gehsteig 19., Sandgasse 2,“ sei der Beschwerdeführer mit einem Fotoapparat mit Blitzlicht gekommen und habe mehrere Aufnahmen von ihm - dem Meldungsleger - und dem Aufforderer gemacht. Während dieser Tätigkeit habe der Beschwerdeführer längere Zeit auf der Fahrbahn verweilt. Bei seiner Zeugeneinvernahme vom 24. November 1981 verwies der Meldungsleger auf die „beiliegende Skizze“. Aus dieser Skizze ist ersichtlich, daß der Beschwerdeführer beim Fotographieren auf der Fahrbahn vor dem Hause „Sandgasse 4“ gestanden ist. Der Verlauf der Langackergasse und die Lage des Hauses Nr. 1 dieser Gasse sind in dieser Skizze nicht eingetragen. Die Annahme des Tatortes ‚Wien 19., Langackergasse 1,‘ dürfte aktenwidrig sein.“

Weder die belangte Behörde noch der Beschwerdeführer erstatteten eine Stellungnahme.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Der Verwaltungsgerichtshof erhebt seine vorläufige, im Beschluß vom 21. Dezember 1988 ausgedrückte Rechtsansicht nunmehr zu seiner endgültigen.

Wesentliches Tatbestandsmerkmal der dem Beschwerdeführer angelasteten Verwaltungsübertretung nach § 76 Abs. 1 StVO 1960 ist, daß der Beschwerdeführer die Fahrbahn im konkreten Fall als Fußgänger benützt hat, „obwohl ein Gehsteig vorhanden war“. Da dieses erst von der Berufungsbehörde in den Spruch aufgenommene Tatbestandsmerkmal von keiner Verfolgungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 VStG 1950 innerhalb der Verjährungsfrist des § 31 Abs. 2 leg. cit. erfaßt war, war der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grunde, ohne daß noch auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen gewesen wäre, gemäß § 42 Abs. 1 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 22. März 1989

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1989:1985180084.X00

Im RIS seit

28.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

28.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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