TE Vwgh Erkenntnis 2021/6/8 Ra 2019/19/0190

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Veröffentlicht am 08.06.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des A S G in G, vertreten durch Mag. Christian Pichler, Rechtsanwalt in 4060 Leonding, Dr. Herbert-Sperl-Ring 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. April 2019, W134 2192785-1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 24. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, als Angehöriger der Hazara und schiitischer Moslem von den Taliban sowie dem IS verfolgt zu werden.

2        Mit Bescheid vom 11. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

Mit Schriftsatz vom 19. März 2019 legte der Revisionswerber einen (mit 12. März 2019 datierten) klinisch psychologischen Befund vor, wonach er unter massiven Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leide, davon auszugehen sei, dass sein kognitiver Leistungsstatus derzeit weit unterdurchschnittlich sei und er alleine nicht zurechtkommen würde, sowie dringend eine psychotherapeutische und insbesondere eine traumatherapeutische Behandlung empfohlen werde. Der Revisionswerber beantragte im selben Schriftsatz die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, das auch die Frage seiner Verhandlungsfähigkeit klären sollte.

4        In der am 26. März 2019 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wurde der Revisionswerber zu seinem Gesundheitszustand befragt und niederschriftlich festgehalten, dass es auf Grund des in der Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks keine Anhaltspunkte dafür gebe, seine Verhandlungsfähigkeit in Frage zu stellen. Der Rechtsvertreter des Revisionswerbers hielt den Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens hinsichtlich der kognitiven Beeinträchtigung des Revisionswerbers und seines Selbstfürsorgedefizits als Beweis dafür, dass es sich beim Revisionswerber nicht um einen gesunden, arbeitsfähigen Mann handle, aufrecht.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. April 2019 wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

6        Das BVwG führte begründend - soweit hier maßgeblich - aus, der Revisionswerber habe keine individuelle Bedrohungssituation bezüglich der Verfolgung seiner Person durch die Taliban bzw. den Islamischen Staat auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bzw. seines Religionsbekenntnisses als muslimischer Schiit geltend gemacht. Aus den Länderberichten sowie dem „notorischen Amtswissen“ sei überdies nicht ableitbar, dass allein eine westliche Geisteshaltung bei Männern mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde.

7        Zur Person des Revisionswerbers stellte das BVwG fest, dass dieser jung, anpassungs- sowie arbeitsfähig sei und sich derzeit nicht in medizinischer Behandlung befinde. Er nehme keine Medikamente. Der Revisionswerber weise Symptome einer PTBS auf, sei jedoch orientiert und gehe alleine zum Boxtraining und zum Deutschkurs. Er stamme aus der Provinz Ghazni, wo seine Familie weiterhin lebe, verfüge über eine dreijährige Schulausbildung sowie Arbeitserfahrung in der familieneigenen Landwirtschaft, beherrsche eine der Landessprachen Afghanistans und sei mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut.

8        Zur Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen auf der Grundlage des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 und der EASO Country Guidance Afghanistan.

9        Eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni sei dem Revisionswerber in Hinblick auf die dortige volatile Sicherheitslage nicht zumutbar. Es bestehe jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Der Revisionswerber könne sich in diesen Städten zumindest durch die Annahme von Hilfstätigkeiten eine Existenzgrundlage schaffen, zumal keine Anhaltspunkte hervorgekommen seien, dass dem Revisionswerber auf Grund seines Geisteszustandes eine Arbeitstätigkeit nicht möglich sei. Auch auf Grund der möglichen Unterstützung durch seine im Herkunftsgebiet lebende Familie sowie die mögliche Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe sei nicht davon auszugehen, dass er unmittelbar nach seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte.

10       In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, der Status des Asylberechtigten sei dem Revisionswerber nicht zuzuerkennen, weil nicht im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 glaubhaft sei, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung aus einem Konventionsgrund drohe. Da dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif offenstehe, sei auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen. Von der Einholung eines medizinischen Gutachtens zur Verhandlungsfähigkeit des Revisionswerbers in Bezug auf allfällige psychische oder physische Beeinträchtigungen habe auf Grund näherer Angaben desselben sowie des im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks abgesehen werden können.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis gerichtete außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zu Spruchpunkt I:

12       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

13       Soweit sich die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet und diesbezüglich rügt, das BVwG habe verkannt, dass der Revisionswerber gemäß den aktuellen Länderberichten, ungeachtet seines insoweit allgemein gehaltenen Vorbringens, bereits auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre, spricht die Revision erkennbar die Rechtsfrage einer „Gruppenverfolgung“ an.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung rechtliche Leitlinien aufgestellt, nach denen die Asylrelevanz dieser Art der Verfolgung zu prüfen ist. Danach kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende Gruppenverfolgung, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelnen Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. zuletzt etwa VwGH 12.3.2021, Ra 2020/19/0315, mwN)

14       Im vorliegenden Fall hat sich das BVwG mit der Situation der schiitischen Minderheit der Hazara in Afghanistan und der Frage einer drohenden Verfolgung des Revisionswerbers auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit auseinandergesetzt und ist - unter Bezugnahme auf aktuelle Länderberichte - zu dem Schluss gekommen, dass das Vorliegen einer Gruppenverfolgung in Hinblick auf die Volksgruppe der Hazara in Afghanistan zu verneinen sei. Mit ihren allgemeinen Ausführungen zur Situation von Angehörigen der schiitischen Minderheit der Hazara zeigt die Revision vor diesem Hintergrund nicht auf, dass das BVwG von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Leitlinien abgewichen wäre (vgl. zum Vorbringen einer Gruppenverfolgung in Hinblick auf die Volksgruppe der Hazara oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288, mwN).

15       Wenn die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung ergänzend eine gesondert zu betrachtende Gruppenverfolgung psychisch erkrankter Personen, die zudem der Volksgruppe der Hazara angehörten und diese folglich ein spezifisches, erhöhtes Schutzbedürfnis treffe, geltend macht, ist dem entgegenzuhalten, dass ein solches Vorbringen bereits deshalb unzulässig ist, weil sich die Revision insofern auf ein neues Vorbringen (wohlbegründete Furcht vor asylrelevanter Verfolgung maßgeblich auch auf Grund des psychischen Gesundheitszustandes des Revisionswerbers) beruft, das im bisherigen Verfahren nicht erstattet worden ist. Damit verstößt dieses Revisionsvorbringen gegen das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof geltende Neuerungsverbot (§ 41 VwGG). Das Vorliegen einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG kann aber nicht mit einem Vorbringen begründet werden, das unter das Neuerungsverbot fällt (vgl. etwa VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0500, mwN).

16       Insofern sich die Revision zur Begründung ihrer Zulässigkeit überdies gegen die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative bereits in Bezug auf die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, wird übersehen, dass das BVwG die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausschließlich in Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geprüft hat. Die entsprechenden Ausführungen in der Revision vermögen folglich, ungeachtet der Erwägungen zu Spruchpunkt II. (Rn. 18 ff), keine Entscheidungsrelevanz aufzuzeigen.

17       In der Revision werden daher in Bezug auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher insoweit zurückzuweisen.

Zu Spruchpunkt II:

18       Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wendet sich die Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zusammengefasst gegen die Annahme, dass dem Revisionswerber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Das BVwG habe insbesondere eine ausreichende Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung und damit mit der Vulnerabilität des Revisionswerbers unterlassen.

19       Die Revision ist in Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.

20       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192). Demzufolge hat die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0134, mwN).

21       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch den von EASO herausgegebenen Informationen ist bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, Beachtung zu schenken (vgl. VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0133, mwN).

22       Eine aus den persönlichen Umständen eines Asylwerbers folgende spezifische Vulnerabilität, die bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative - insbesondere vor dem Hintergrund einer prekären Versorgungslage - Bedeutung erlangen kann, kann sich nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa aus einer schweren Erkrankung des Asylwerbers und einer damit einhergehenden Einschränkung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit ergeben (vgl. VwGH 2.2.2021, Ra 2020/19/0198, mwN).

23       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0092, mwN).

24       Das BVwG hat das Absehen von der Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens ausschließlich damit begründet, dass der Revisionswerber gemäß seinen eigenen Angaben keine Medikamente nehme, nicht in medizinischer Behandlung stehe, seinen Alltag alleine bewältige sowie keine Unterstützung brauche, um sich zurecht zu finden. Überdies habe er der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG problemlos folgen können und dabei den Eindruck eines aufgeweckten, jungen Mannes mit normalen Reaktionsfähigkeiten hinterlassen. Der Revisionswerber sei somit offenkundig verhandlungsfähig gewesen.

25       Wie die Revision zutreffend aufzeigt, hat das BVwG ungeachtet der Feststellung, dass der Revisionswerber Symptome einer PTBS aufweise, das im Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens geltend gemachte (über die Klärung der Frage der Verhandlungsfähigkeit des Revisionswerbers hinausgehende) Beweisthema, wonach gemäß dem im Zuge dieses Antrages vorgelegten Befund vom 12. März 2019 der kognitive Leistungsstatus des Revisionswerbers weit unterdurchschnittlich sei und zudem ein Selbstfürsorgedefizit vorliege, es sich beim Revisionswerber, wie in der mündlichen Verhandlung von dessen Rechtsvertreter ergänzend ausgeführt, sohin nicht um einen gesunden, arbeitsfähigen Mann handle, sondern um eine Person, die ein erhöhtes Maß an Schutz bedürfe, in seiner Beweiswürdigung zur Gänze übergangen.

26       Das BVwG ging folglich zu Unrecht davon aus, dass Anhaltspunkte, wonach dem Revisionswerber auf Grund seines Gesundheitszustandes eine Arbeitstätigkeit nicht möglich wäre, nicht hervorgekommen seien, und vermeinte ohne nähere, auf entsprechende Fachkenntnisse gestützte Begründung, aber offenbar in vorgreifender Beweiswürdigung, dass weitere Ermittlungen nicht erforderlich seien.

27       Soweit das BVwG annimmt, der Revisionswerber habe seine Arbeitsfähigkeit bestätigt, weil er alleine zum Boxtraining und zum Deutschkurs gehe, einen „orientierten“ Eindruck im Zuge der mündlichen Verhandlung hinterlassen habe, und es ihm möglich gewesen sei, in Afghanistan am Feld zu arbeiten, ist darauf zu verweisen, dass sich alleine daraus noch nicht ergibt, dass sich der Revisionswerber nach den derzeitigen Verhältnissen in den als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Städten Afghanistans seine Existenz sichern könne (vgl. zu einem diesbezüglich ähnlich gelagerten Fall erneut VwGH Ra 2020/19/0133).

28       Die Beurteilung des BVwG, wonach es sich beim Revisionswerber „um einen arbeitsfähigen [...] Mann“ handle, „bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden“ könne und kein Grund ersichtlich sei, weshalb es ihm „nach etwaigen anfänglichen Schwierigkeiten bzw. einer Eingewöhnungsphase nicht möglich sein sollte, bei seiner Rückkehr nach Afghanistan, ein im Vergleich zu seinen Landsleuten ‚relativ normales‘ Leben zu führen“ sowie dieser keinem Personenkreis angehöre, von dem anzunehmen sei, „dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung“, kann ohne Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Revisionswerbers vom Verwaltungsgerichtshof nicht auf seine Schlüssigkeit überprüft werden.

29       Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BVwG bei ausreichender Auseinandersetzung mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich des Bestehens einer zumutbaren Fluchtalternative hätte gelangen können, zumal nach den vom BVwG getroffenen Feststellungen die Versorgungslage in den als innerstaatliche Fluchtalternative konkret in Betracht kommenden Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif angespannt sowie der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich ist. Hinzu kommt, dass der Revisionswerber nach den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen lediglich in seinem Herkunftsgebiet Ghazni, nicht jedoch in den vom BVwG für die innerstaatliche Fluchtalternative konkret in Betracht gezogenen Städten, über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt, von denen eine die finanzielle Unterstützung übersteigende Hilfeleistung bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten und Verpflichtungen zu erwarten wäre.

30       Die potentielle Bedeutung des Gesundheitszustandes des Revisionswerbers wird überdies, wie von der Revision zutreffend ausgeführt, in den vom BVwG zwar grundsätzlich, nicht jedoch in Hinblick auf diesen spezifischen Aspekt berücksichtigten Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 dargelegt, wonach „Personen mit Behinderung, insbesondere Personen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, [...] mit Diskriminierung und mit eingeschränktem Zugang zu Erwerbstätigkeit, Bildung und angemessener medizinischer Betreuung konfrontiert“ seien.

31       Das Parteivorbringen hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Revisionswerbers ist somit im Zuge der Einzelfallprüfung, die hinsichtlich des Vorliegens einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative vorgenommen werden muss, in Hinblick auf eine allfällige aus den persönlichen Umständen des Revisionswerbers folgende spezifische Vulnerabilität, insbesondere in Form einer aus einer psychischen Erkrankung resultierenden bzw. damit einhergehenden Einschränkung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, zu berücksichtigen (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0198, mwN).

32       Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

33       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1, 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

34       Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 8. Juni 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190190.L00

Im RIS seit

28.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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