TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/17 W158 2144365-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.03.2021
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Entscheidungsdatum

17.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AVG §68
BFA-VG §17
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W158 2144365-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt und erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.02.2021, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

I. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird als unzulässig zurückgewiesen.

II. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen mit einer Bedrohung aufgrund einer verbotenen Beziehung. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei und ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Dagegen erhob der BF Beschwerde und brachte im Beschwerdeverfahren zusätzlich vor, er sei zum Katholizismus konvertiert. Die Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 16.07.2019, W124 2144365-1/32E abgewiesen. Dagegen erhobene Rechtsmittel an beide Höchstgerichte waren nicht erfolgreich.

I.2. Nachdem der BF von Deutschland, wo er ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, nach Österreich rücküberstellt wurde, wurde er am 12.01.2021 niederschriftlich erstbefragt. Befragt, warum er einen neuen Antrag gestellt habe, gab er an, er halte seine Fluchtgründe aufrecht. Nach der negativen Entscheidung im ersten Verfahren sei der BF nach Afghanistan zurückgekehrt, wo ihn seine Feinde umbringen wollten. Außerdem sei ein Foto der Taufe des BF in Afghanistan bekannt geworden. Würde jemand von der Rückkehr des BF erfahren, würde er alleine deswegen gesteinigt werden.

I.3. Am 18.02.2021 wurde der BF von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin des BFA in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Als Gründe für seinen neuerlichen Antrag nannte der BF wiederum die Probleme aufgrund der verbotenen Beziehung sowie das Bekanntwerden seiner Taufe. Sein Vater sei deswegen auch von den Taliban getötet worden.

I.4. Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 19.02.2021, dem BF am 23.02.2021 zugestellt, wurde der Antrag des BF hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Es bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

I.5. Mit Verfahrensanordnung vom 23.02.2021 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Gegen den unter I.4. genannten Bescheid richtet sich die am 05.03.2021 eingebrachte Beschwerde, in der beantragt wurde, dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung aufzuheben, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen und „den Spruchpunkt betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung jedenfalls [zu] beheben“.

Im Wesentlichen wird dem BFA vorgeworfen, es sei nicht auf das individuelle Vorbringen des BF eingegangen, habe nicht ausreichend ermittelt und eine der Judikatur entsprechende Gesamtbeurteilung verabsäumt. Außerdem habe das BFA zu Unrecht die aufschiebende Wirkung aberkannt.

I.7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 11.03.2021 vorgelegt, wobei das BFA beantragte, die Beschwerde abzuweisen. Das Einlangen der Beschwerde wurde dem BFA mit Schreiben vom selben Tag bestätigt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle und die vom BF vorgelegten Unterlagen;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung an. Seine Muttersprache ist Dari.

Der BF wurde in der afghanischen Provinz Herat geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015. Über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren besuchte der BF unregelmäßig die Schule, erlernte das Lesen und Schreiben jedoch nicht vollständig. Dennoch war er in der Lage, den Beruf des Automechanikers zu erlernen und war auch als Mechaniker beziehungsweise als Spengler in einer Autowerkstatt in seinem Herkunftsort tätig.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

II.2. Zum ersten Verfahren des BF und dem Vorbringen des BF:

Der BF stellte am 26.07.2015 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, den er zunächst im Wesentlichen mit einer Bedrohung aufgrund einer Beziehung mit einem Mädchen gegen den Willen von deren Familie begründete. Im Beschwerdeverfahren brachte der BF zusätzlich vor, er sei zum Katholizismus konvertiert.

Der erste Antrag des BF wurde letztlich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.07.2019, W124 2144365-1/32E vollinhaltlich abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Abschiebung als zulässig festgestellt und eine Frist zur freiwilligen Ausreise gewährt. Das Erkenntnis wurde seiner damaligen Vertreterin am 17.07.2019 zugestellt. Mit Beschluss vom 09.10.2019 zu E 2997/2019 lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde ab. Mit Beschluss vom 17.12.2019 zu Ra 2019/20/0396 wies der Verwaltungsgerichtshof die dagegen erhobene Revision zurück.

Im Erkenntnis wurde begründend insbesondere ausgeführt, der BF habe weder seine Fluchtgründe noch seine Konversion glaubhaft gemacht, vielmehr sei nach wie vor davon auszugehen, dass der BF Sunnit sei. Dem BF sei eine Rückkehr in seine Heimatstadt Herat möglich. Außerdem sei ihm eine Rückkehr nach Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. In den Städten werde er aufgrund seiner beruflichen Vorerfahrungen auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte in der Lage sein, sich notfalls auch mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Er werde nicht in eine hoffnungslose Lage geraten. In Herat könne der BF zusätzlich auf sein soziales Netzwerk zurückgreifen, zumal dort auch noch Teile seiner Familie lebten.

Außerdem wurden umfangreiche Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan allgemein und in Herat und Mazar-e Sharif im Besonderen getroffen. Aus diesen ergab sich im Wesentlichen, dass diese beiden Städte sicher genug sind und die Versorgung der Bevölkerung dort zumindest grundlegend gesichert ist. Die Städte seien beide über den Luftweg sicher erreichbar.

Zum Privatleben in Österreich traf das Bundesverwaltungsgericht folgende Feststellungen:

„Der BF ist ledig und hat keine Kinder. In Österreich hat sich der BF einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Er verfügt über ein ÖSD-Zertifikat Deutsch A1. Zudem hat er an einem Deutschkurs A2 sowie an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Er nimmt als Mitglied in einer Fußballmannschaft regelmäßig am Fußballtraining teil. Seit Dezember 2018 ist er als ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Sozialmarkt tätig. Ferner hat er im August und September 2018 geholfen, einen Flohmarkt zu organisieren. Zudem wurde ihm in Österreich ein Staplerführerschein ausgestellt.

Dem Beschwerdeführer wurde in Österreich ein Staplerführerschein ausgestellt. Er geht allerdings keiner rechtmäßigen Erwerbstätigkeit nach, sondern bestreitet seinen Lebensunterhalt aus den Mitteln der Grundversorgung und ist sohin nicht selbsterhaltungsfähig. Mit seiner Schwester und deren Familie hat er Kontakt, er lebt mit ihnen jedoch nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen besteht jedoch nicht. Der BF ist in Österreich unbescholten.

Am 30.07.2018 wurde der BF bei Zuschnittarbeiten von Dachstuhlholz mit einer Kappsäge betreten, während weitere Personen den Dachstuhl montierten. Der Beschwerdeführer verfügte zu diesem Zeitpunkt über keine Arbeitsbewilligung und war auch nicht zur Sozialversicherung angemeldet.“

Am 04.07.2020 stellte der BF in Deutschland einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Nach Überstellung des BF nach Österreich im Jänner 2021 begründete er diesen damit, dass er nach seiner Rückkehr nach Afghanistan bei einem Freund seiner Mutter gewohnt habe. Dieser habe ihm gesagt, dass ein Foto seiner Taufe in Afghanistan unter anderem auch bei seinen Feinden bekannt geworden sei. Er habe daher Afghanistan verlassen müssen. Nach seiner Rückkehr nach Europa sei deswegen sein Vater von den Taliban umgebracht worden. Diese Ausführungen weisen keinen „glaubhaften Kern“ auf.

Eine maßgebliche Änderung hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens über den letzten Antrag auf internationalen Schutz des BF kann ebenso wenig festgestellt werden wie zur Frage des Vorliegens einer maßgeblichen Bedrohung des BF in Afghanistan.

Zumindest ein verheirateter Bruder und eine verheiratete Schwester des BF leben in Afghanistan in der Stadt Herat. Der BF hat wöchentlichen telefonischen Kontakt zu diesen.

II.3. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich seit Abschluss des ersten Verfahrens:

Der BF reist nach der Zurückweisung der Revision im Dezember 2019 über die Türkei und den Iran nach Afghanistan aus. Dort lebte er etwa sechs bis sieben Monate in Herat. In weiterer Folge reiste der BF über den Iran, die Türkei, Griechenland und andere unbekannte Länder nach Deutschland, wo er von Juli 2020 bis 11.01.2021 lebte. Nach seiner Rücküberstellung nach Österreich im Jänner 2021 besuchte der BF keine weiteren Deutschkurse. Er hat sich im Bundesgebiet nicht ehrenamtlich betätigt und war auch nie erwerbstätig. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist strafrechtlich unbescholten.

In Österreich wohnt eine Schwester des BF mit deren Mann und ihren fünf Kindern als Asylberechtigte. Seit der Rückkehr des BF nach Österreich wurde der BF einmal von seiner Schwester und deren Familie besucht. Ansonsten besteht mehrmals wöchentlicher telefonischer Kontakt. Der BF würde finanziell von seiner Schwester unterstützt werden.

II.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

II.4.1. COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020pdf, Zugriff 20.9.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pan demic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020

•        F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14,61.2/4 , Zugriff 31.10.2020

•        Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-c ovid-19 , Zugriff 28.9.2020

•        IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020

•        IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020

•        IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm _campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff

•        17.11.2020

•        Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020

•        NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020

•        NYT - New York Times, The (31.7.2020): Border Clashes With Pakistan Leave 15 Afghan Civilians Dead, Officials Say, https://www.nytimes.com/2020/07/31/world/asia/afghanistan-pakistan-border. html , Zugriff 17.11.2020

•        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.8.2020): Pakistan Reopens Key Border Crossing With Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/pakistan-reopens-key-border-crossing-with-afghani stan/30796100.html , Zugriff 17.11.2020

•        RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&countryOperator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=d esc&content=Covid-19&page=5, Zugriff 17.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff

•        17.9.2020

•        UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTECTION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (30.6.2020): Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018-2021, https://www.who.int/health-cluster/countries/a fghanistan/Afghanistan-Humanitarian-Response-Plan-COVID-19-June-2020.pdf?ua=1 , Zugriff

•        17.11.2020

•        WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against- covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020

•        WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020

•        WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoj nt/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1,20.10.2020

•        WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020

II.4.2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Elec- tion Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Quellen:

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•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020.pdf, Zugriff 22.10.2020

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•        AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document), https://www.afghanistan-anal ysts.org/the-presidents-ceo-decree-managing-rather-then-executive-powers/, Zugriff 22.10.2020

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•        BBC (22.9.2020): Afghan-Taliban peace talks: What's next?, https://www.bbc.com/news/world-asi a-54255862 , Zugriff 22.9.2020

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•        NZZ - Neue Züricher Zeitung (20.4.2020): Taliban töten erneut fast 20 Soldaten aus regierungstreuen Kreisen - die neusten Entwicklungen nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Afghanistan, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-neuesten-entwicklungen-im-frieden sprozess-ld.1541939#subtitle-2-was-steht-in-dem-abkommen-second , Zugriff 22.10.2020

•        RA KBL - Lokaler Rechtsanwalt in Kabul (12.10.2020): Auskunft per E-Mail

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•        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.12.2018): Afghan Commission Invalidates All Kabul Votes In October Parliamentary Election, https://www.rferl.org/a/afghan-commission-invalidates-al l-kabul-votes-in-october-parliamentary-election/29640679.html , Zugriff 22.10.2020

•        REU - Reuters (6.10.2020): Exclusive: Taliban, Afghan negotiators set ground rules to safeguard peace talks - sources, https://www.reuters.com/article/afghanistan-taliban-talks-exclusive-int-id USKBN26R1DJ , Zugriff 22.10.2020

•        REU - Reuters (25.2.2020): Afghan government agrees to postpone Ghani inauguration: U.S., https://www.reuters.com/article/us-usa-afghanistan-idUSKBN20J1ZH , Zugriff 6.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstru ktur-onlineversion-2016-07.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        TN -Tolonews (11.5.2020): Differences Remain in Proposed Ghani, Abdullah Plan: Sources, https: //tolonews.com/afghanistan/differences-remain-proposed-ghani-abdullah-plan-sources , Zugriff 22.10.2020

•        TN - Tolo News (16.4.2020): Abdullah Has Yet to Submit Plan to Presidential Palace, https://tolone ws.com/afghanistan/abdullah-has-yet-submit-plan-presidential-palace , Zugriff 6.11.2020

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•        USDOS - United States Department of State (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom: Afghanistan, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/06/AFGHANISTAN-2019- INTERNATIONAL-RELIGIOUS-FREEDOM-REPORT.pdf, Zugriff 12.10.2020

•        USDOS - United States Department of State (29.2.2020): Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/Agreement-For-Bringing-Peace-to-Afghanistan-02.29.20.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        USDOS - United States Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2026337.html, Zugriff 22.10.2020

•        USIP - United States Institute of Peace (11.2013): Special Report 338: 2014 Presidential and Provincial Council Elections in Afghanistan, https://www.usip.org/sites/default/files/SR338-2014% 20Presidential%20and%20Provincial%20Council%20Elections%20in%20Afghanistan.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        WoM - Worldometers (6.10.2020): Afghanistan Population, https://www.worldometers.info/world- population/afghanistan-population/, Zugriff 22.10.2020

II.4.3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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