TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/29 W251 2201047-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.03.2021
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Entscheidungsdatum

29.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W251 2201042-1/22E

W251 2201047-1/22E

W251 2201040-1/21E
W251 2200986-1/21E

Schriftliche Ausfertigung des am 21.10.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX auch XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX auch XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX auch XXXX und 4.) XXXX , geb. XXXX auch XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Helmut Blum, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.06.2018 zu 1.) Zl. 1101495701-160000442, 2.) Zl. 1101496404-160000455, 3.) Zl. 1101496600-160000469 und 4.) Zl. 1101497107-160000477, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG und XXXX sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG werden den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 21.10.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 01.01.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Diese haben eine leibliche Tochter, die Drittbeschwerdeführerin, und einen leiblichen Sohn, den Viertbeschwerdeführer.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 01.01.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass die Zweitbeschwerdeführerin als Angehörige der Volksgruppe der Hazara verfolgt werde. Zudem sei sie mit ihrem Cousin verlobt worden, habe jedoch den Erstbeschwerdeführer geheiratet, weshalb sie verfolgt werde. Außerdem sei die Sicherheitslage und die Arbeitssituation in Afghanistan schlecht.

3. Am 06.03.2018 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass seine Frau zuvor mit ihrem Cousin verlobt worden sei. Da sie trotzdem den Erstbeschwerdeführer geheiratet habe, habe sie Probleme mit dem Cousin seiner Frau bekommen. Außerdem habe die Gesellschaft in Afghanistan die Mischehe zwischen ihm und seiner Frau nicht akzeptieren wollen.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zusammengefasst ebenfalls an, dass sie mit ihrem Cousin habe verheiratet werden sollen. Da sie das nicht gewollt habe, habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Daher habe ihr Vater die Verlobung mit dem Cousin aufgelöst, was dieser nicht habe akzeptieren wollen. Zwei Jahre lang sei sie immer wieder von ihm belästigt und schließlich auch bedroht worden. Kurz vor ihrer Ausreise aus Afghanistan habe ihr Cousin sie schließlich aufgesucht und erneut bedroht.

Hinsichtlich der Dritt- und des Viertbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

4. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Der Erst- sowie die Zweitbeschwerdeführerin verfügen über Bildung und Berufserfahrung und seien wirtschaftlich genügend abgesichert, um für ihren Unterhalt zu sorgen. Ein schützenswertes Privat- und Familienleben liege nicht in einem Ausmaß vor, dass es einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

5. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei. Die Zweitbeschwerdeführerin trage kein Kopftuch, sei nicht streng religiös und wünsche sich für die Dritt- und den Viertbeschwerdeführer eine freie Lebensführung. Zudem seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan einer Verfolgung aufgrund ihrer „Zina“ und durch den Cousin der Zweitbeschwerdeführerin ausgesetzt. Die Beschwerdeführer geraten im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in eine aussichtslose Lage und es bestehe die reale Gefahr der Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK.

6. Mit Stellungnahme vom 14.10.2020 brachten die Beschwerdeführer vor, dass bei einer Rückkehr aufgrund der derzeit herrschenden COVID-19 Pandemie mit großen Schwierigkeiten zu rechnen sei und nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Erstbeschwerdeführer eine Arbeit bzw. Unterkunft finden würde. Auch die medizinische Versorgung sei äußerst prekär. Die Beschwerdeführer verfügen über keine verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte in Afghanistan und sei daher eine finanzielle Unterstützung nicht zu erwarten. Zusätzlich wurden Integrationsunterlagen des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin eingebracht.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Den Beschwerdeführern wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

16. Mit Vollmachtsbekanntgabe vom 02.11.2020 gaben die Beschwerdeführer bekannt, ihren nunmehr ausgewiesenen Rechtsvertreter mit der weiteren Vertretung im Verfahren bevollmächtigt zu haben und beantragten die schriftliche Ausfertigung des am 21.10.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben eine leibliche Tochter, die Drittbeschwerdeführerin, die in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt sowie einen leiblichen Sohn, den Viertbeschwerdeführer, der in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache. Der Erstbeschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Tadschiken, die Zweitbeschwerdeführerin der Volksgruppe der Hazara an (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 Erstbefragung = EB, S. 1, niederschriftliche Einvernahme = EV, S. 3; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2, EB S. 1, EV S. 3 f; Verhandlungsprotokoll vom 21.10.2020 = VP, S. 9, 18).

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt Teheran im Iran geboren und ist dort aufgewachsen. Er hat zwölf Jahre lang eine Schule im Iran besucht. Mit 19 Jahren übersiedelte er mit der Familie in die Stadt Kabul in Afghanistan, wo er im Haus seiner Eltern lebte. Die letzten sechs Monate vor seiner Ausreise wohnte er mit seiner Ehefrau in einer eigenen Wohnung. Er hat keinen Beruf erlernt, hat aber im Iran zunächst als Verkäufer in einem Bekleidungsgeschäft und in Afghanistan bei zwei Fernsehsendern und als Profifußballer gearbeitet (BF 1 EV S. 7, VP S. 9 f).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Provinz Maidan Wardak geboren und hat die ersten sechs Monate gemeinsam mit ihren Eltern im Dorf XXXX gewohnt. Danach übersiedelte die Familie nach Isfahan im Iran, wo sie bis zu ihrem 19. Lebensjahr gelebt hat. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zwölf Jahre die Schule besucht und mit ihrer Mutter Teppiche geknüpft und Handarbeiten angefertigt. Anschließend erlernte sie den Beruf der Friseurin und erhielt ihr Diplom. Mit etwa 20 Jahren übersiedelte die Zweitbeschwerdeführerin nach Afghanistan, wo sie zunächst ein Jahr als Friseurin und anschließend als Synchronsprecherin eines Nachrichtensenders arbeitete, bei dem sie auch den Erstbeschwerdeführer kennenlernte (BF 2 EV S. 7, 9, VP S. 18).

1.1.4. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet (BF 2 EV S. 5, VP S. 10). Es hat sich dabei nicht um eine heimliche, gegen den Willen der Familien erfolgte Eheschließung gehandelt. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin war mit der Heirat einverstanden (BF 1 EV S. 9, BF 2 EV S. 5). Die Zweitbeschwerdeführerin ist nach der Heirat zum Erstbeschwerdeführer in das Haus seiner Familie gezogen, wo sie drei Jahre lang gewohnt haben. Sechs Monate vor ihrer Ausreise sind die Beschwerdeführer in eine eigene Wohnung in Kabul gezogen (BF 2 EV S. 9 f, VP S. 10). Die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin – die Drittbeschwerdeführerin - wurde im Jahr 2012 in Afghanistan geboren. Im Jahr 2015 kam der Viertbeschwerdeführer in Afghanistan zur Welt (VP S. 18).

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 01.01.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.5. Der Erstbeschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seiner in der Türkei lebenden Familie. Die Onkel mütter- und väterlicherseits leben in Europa (BF 1 EV S. 8, VP S. 11).

1.1.6. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin, drei Schwestern und ein Bruder leben nach wie vor in der Stadt Kabul im Stadtteil XXXX . Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin versorgt die Familie. Die Zweitbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihrer Mutter in Kabul (VP S. 19).

1.1.7. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Die Zweitbeschwerdeführerin war an Tuberkulose erkrankt und hat Medikamente eingenommen, die Behandlung ist zwischenzeitlich abgeschlossen (BF 2, EV S. 3, Akt BF 2, Stellungnahme vom 01.05.2018). Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig (VP S. 13, 22).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Zweitbeschwerdeführerin war ihrem Cousin mütterlicherseits nicht versprochen und wurde nicht zwangsverheiratet.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Heirat nicht vom Cousin der Zweitbeschwerdeführerin verfolgt.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch den Cousin der Zweitbeschwerdeführerin, staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.2. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Interclan-Ehe nicht verfolgt. Interethnische Ehen mit Partnern unterschiedlicher Herkunftsethnien sind in Afghanistan relativ umfassend und betragen etwa 8,9 Prozent.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer sind eheliche Kinder. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden in Afghanistan nicht verdächtigt oder beschuldigt gegen die Scharia verstoßen zu haben oder sich unmoralisch verhalten zu haben.

1.2.3. Die Zweitbeschwerdeführerin hatte in Afghanistan keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.

1.2.4. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

1.2.5. Die Zweitbeschwerdeführerin verletzt mit ihrer aktuellen Lebensweise die herrschenden sozialen Normen in urbanen Zentren Afghanistans, jedenfalls in Kabul, nicht in einem Ausmaß, dass ihr bei einer Rückkehr Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde.

Frauen können in Kabul alleine das Haus verlassen, auch ohne männliche Begleitung. Sie können auch einkaufen gehen. Frauen können in Kabul eine Berufsausbildung machen oder ein Studium absolvieren. Frauen sind in Kabul in einem breiten Spektrum berufstätig. Es gibt ein breites Freizeit- und Sportangebot für Frauen. Die Ausübung von Freizeit- oder Sportangeboten führt nicht zu einem wesentlichen Bruch mit den in Kabul gelebten Werten. Auch das Kleidungsspektrum in Kabul umfasst westlichere Kleidung. Da die Zweitbeschwerdeführerin bereits zuvor in einem Friseurgeschäft und einem Nachrichtensender gearbeitet, Freundschaften geschlossen und ihr Geld selbst verwaltet hat, ist kein Bruch ihrer jetzigen Lebensführung mit den vorherrschenden Normen in urbanen Zentren ersichtlich, der eine Verfolgung auslösen würde.

1.2.6. Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es möglich, sich (wieder) in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Kabul faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn der Dritt- bzw. dem Viertbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden die Dritt- und den Viertbeschwerdeführer in Kabul in die Schule schicken und diesen eine Schulbildung ermöglichen. Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer droht in Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können in der Stadt Kabul ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es möglich, in der Stadt Kabul eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Schule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen.

Der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer droht in der Stadt Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht diesen dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe Entführungen oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände.

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer sind noch unmündige Minderjährige. Diese können ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Kabul angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage (trotz familiärer Unterstützung in Kabul) derzeit nicht möglich, den notwendigen Lebensunterhalt für die Dritt- und den Viertbeschwerdeführer in der Stadt Kabul ausreichend sicher zu stellen.

Es ist der Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer somit nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 01.01.2016 durchgehend in Österreich auf.

In Österreich lebt die Cousine des Erstbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer erhalten keine finanzielle Unterstützung, es besteht keine Abhängigkeit zu dieser (BF 1 EB S. 2, EV S. 11, VP S. 13 f).

Die Beschwerdeführer haben in Österreich freundschaftliche Kontakte knüpfen können und werden von den Einwohnern der Wohngemeinde und den Mitgliedern des Fußballvereins sehr geschätzt (Akt BF 1, OZ 14). Es bestehen jedoch keine Abhängigkeiten zu diesen.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

1.4.1. Der Erstbeschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht und die Deutschprüfung des ÖIF für die Stufe A1 am 13.01.2017, für die Stufe A2 am 19.05.2017 und die Integrationsprüfung für die Stufe B1 am 16.11.2017 bestanden (Akt BF 1). Er verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse um auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren (VP S. 12).

Der Erstbeschwerdeführer ist Mitglied im örtlichen Fußballverein der Wohngemeinde und Spieler in der Kampfmannschaft (Akt BF 1).

Der Erstbeschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP S. 12).

Er erbrachte in den Jahren 2016 und 2017 regelmäßig ehrenamtlich gemeinnützige Hilfstätigkeiten unter anderem im Bauhof der Gemeinde sowie für einzelne Gemeindebewohner (Akt BF 1, VP S. 12).

Der Erstbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.2. Die Zweitbeschwerdeführerin:

Die Zweitbeschwerdeführerin hat Deutschkurse bis zur Stufe B1 besucht, die Deutschprüfung des ÖIF für die Stufe A1 am 27.05.2017 und die Integrationsprüfung für die Stufe A2 am 29.03.2018 bestanden (Akt BF 2, OZ 14). Sie nimmt am Basis- und Hauptkurs des Pflichtschulabschlusses des WIFI teil (OZ 6, Beilage ./A) und absolvierte den Lehrgang „Basisbildung Oberösterreich“ (OZ 6). Sie verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse um auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren (VP S. 21).

Die Zweitbeschwerdeführerin geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I). Sie verfügt über eine Einstellungszusage für ein Lehrverhältnis als Friseur- und Perückenmacherin bzw. als Hilfskraft (OZ 6).

Sie ist ehrenamtlich bei einer Initiative von und für Migrantinnen tätig (OZ 14), ist Mitglied in einem Verein zur Entwicklung von Lebens-Chancen (Akt BF 2) und arbeitete ehrenamtlich in einer Nähwerkstatt der Volkshilfe (VP S. 22, Akt BF 2). Mit ihrem Sohn besuchte sie eine Eltern-Kind Gruppe in ihrer Wohngemeinde (Akt BF 2). Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte im Jahr 2018 einen Gitarrenkurs (Akt BF 2, VP S. 22).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.3. Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer:

Die Drittbeschwerdeführerin besucht die Schule und nimmt an wöchentlichen Kindergarten-Turnstunden der Sportunion der Wohngemeinde teil (Akt der Drittbeschwerdeführerin BF 3, VP S. 13).

Der Viertbeschwerdeführer besucht den Kindergarten (VP S. 13).

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer sind in Österreich aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019 mit Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (EASO),

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018,

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Frauen in urbanen Zentren)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Anzahl der Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Kinderarbeit und Ausbeutung)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Kinderehen und Zwangsehen)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Sicherheitslage für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Zugang zu Lebensmitteln)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Sexueller Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Erpresserische Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Erpresserische Entführungen von Kindern)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Kinderschutzprogramme)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Christen, Konversion, Abtrünnige vom 12.07.2017

-         ACCORD-Anfragebeantwortung, Christen, Atheisten, vom Glauben Abgefallene vom 01.06.2017

-        Analyse der Staatendokumentation, Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan vom 25.06.2020

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Interethnische Beziehungen, Mischehen vom 25.09.2017 (Mischehen)

1.5.1. Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 - LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen (LIB, Kapitel 2).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlingsund Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

1.5.4.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen ist. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 16.3).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre turko-mongolide Physiognomie, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB, Kapitel 16.3).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 16.3).

1.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten und c.a 10 – 19% Shiiten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15, 15.1).

Die Schiiten Afghanistans sind mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren lokale Diskriminierungsfälle (LIB Kapitel 15.1).

In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (LIB Kapitel 15.1).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschaftsbzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.8. Korruption, Dokumente

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2018 von Transparency International belegt Afghanistan, von 180 untersuchten Ländern den 172. Platz, was eine Verbesserung um fünf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (LIB, Kapitel 6).

Korruption findet in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens statt. Beamte gehen oft ungestraft korrupten Praktiken nach. Es kam jedoch in den vergangenen Jahren zu leichten Verbesserungen bei der Wahrnehmung der Rechenschaftspflicht in der öffentlichen Verwaltung (LIB, Kapitel 6).

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor. Sämtliche Urkunden in Afghanistan können problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden (LIB, Kapitel 23).

1.5.9. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 2.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

1.5.10. Situation für Rückkehrer

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück. Vom 01.01.2020 bis 18.05.2020 kehrten 279.738 Afghanen aus dem Iran nach Afghanistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 22).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 22).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 22).

1.5.10. COVID-Situation:

Es haben sich mehr als 35.000 Menschen in Afghanistan mit dem COVID-Virus angesteckt, davon sind 1.280 am COVID-Virus gestorben. Kabul ist am stärksten von COVID-Erkrankungen betroffen. Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen. Mit dem Dastarkhan-e-Milli-Programm möchte die afghanische Regierung Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken. Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten.

Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen.

Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht.

Der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs wird in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung. Am meisten betroffen sind Menschen mit Behinderungen oder Familien, die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen. Der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli ist um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind. 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden (LIB, Seite 8ff).

1.5.11. Frauen

Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017).

Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung – diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten „Manteau shalwar“ tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten (Frauen in urbanen Zentren, S. 2).

In Kabul- Stadt gibt es ein Familienkino für Frauen und den „Frauen-Garten“ (Bagh-e zanan) — ein öffentlicher Park für Frauen mit verschiedenen Unterhaltungs-, Bildungs- und Sportmöglichkeiten. Der Garten, der sich über 13 Hektar Land streckt und vom Frauenministerium verwaltet wird, erlebt täglich einen großen Ansturm, vor allem am Wochenende (Frauen in urbanen Zentren, S. 29 f).

Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten (Frauen in urbanen Zentren S. 22). In urbanen Zentren werden zudem vermehrt Freizeitangebote speziell für Frauen angeboten (Frauen in urbanen Zentren S. 29 ff).

Traditionen, Rollenbilder, die Sicherheitslage, ländliche Umgebungen und die Armut bzw. beschränkte finanzielle Ressourcen sind Faktoren dafür, dass Mädchen seltener die Schule besuchen als Buben. Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich seit 2015 erhöht. Es gibt Bildungsprogramme für Mädchen und junge Frauen, die sich auch mit sicheren Transportmöglichkeiten für diese befassen. Es gibt auch Stipendien für Frauen (LIB Kapitel 17.1).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert. Der Anteil der Erwerbsbeteiligung bei Frauen hat sich auf 27% erhöht. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB Kapitel 17.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB Kapitel 17.1).

Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen, doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann eine alleinstehende Frau selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In den Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif können sich Frauen auch ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen (LIB Kapitel 17.1).

Trotz eines Gesetzes, das das minimale Heiratsalter auf 18 Jahre für Männer und 16 Jahre bei Mädchen (bzw. 15 Jahren bei Einverständnis der Eltern oder eines Richters) festlegt, ist die Praxis von erzwungenen Heiraten und Kinderehen in Afghanistan verbreitet. Armut, Analphabetismus, Genderdiskriminierung und fehlender Zugang zu Gesundheit und Bildung sind die wichtigsten treibenden Faktoren für Kinderheirat. Für eine Kinderehe bedarf es der Zustimmung der Eltern (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Kinderehen, Zwangsehen vom 03.05.2019; LIB, Kapitel 17.1)

1.5.12. Kinder

Die Stadt Kabul hat über vier Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl für die Stadt Herat beträgt 507.000 Einwohner, für die Stadt Mazar-e Sharif 428.000 Einwohner. In der Provinz Kabul sind ca. 41% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 24% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 18% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Herat sind ca. 49% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 20% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 15% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 13% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Balkh (Hauptstadt Mazar-e Sharif) sind ca. 44% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 22% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 17% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.05.2019 betreffend die Anzahl der Kinder).

Sicherheitslage für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif

Im Jahr 2018 waren 28% aller zivilen Opfer Kinder (3.062 Opfer – 927 Tote und 2.135 Verletzte), davon waren 71% Buben und 27% Mädchen. 39% der Opfer unter Kinder gehen auf Bodeneinsätze zurück, 17% auf improvisierte Bomben (Nicht-Selbstmord), 16% auf Luftangriffe, 14% auf explosive Kampfmittelrückstände, 9% auf Selbstmord- und komplexe Angriffe und 3% auf die Taliban

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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