TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/20 Ra 2017/22/0083

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Veröffentlicht am 20.05.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
60/02 Arbeitnehmerschutz
61/01 Familienlastenausgleich
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §293
ASVG §293 Abs1
ASVG §293 Abs1 lita sublitaa
ASVG §293 Abs1 lita sublitbb
AsylG 2005 §8 Abs4
AVG §37
AVG §56
AVG §58 Abs2
AVG §59 Abs1
AVG §60
EStG 1988 §33 Abs4 Z3 lita
FamLAG 1967 §2 Abs2
KBGG 2001
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs2 Z4
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §11 Abs5
NAG 2005 §11 Abs6
NAG 2005 §2 Abs4 Z3
NAG 2005 §20 Abs3
NAG 2005 §45
NAG 2005 §45 Abs12
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs1
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz, Mag. Berger und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 18. April 2017, LVwG-2016/17/0933-5, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister/in der Landeshauptstadt Innsbruck; mitbeteiligte Partei: E A in I, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1.1. Die Mitbeteiligte, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste im Oktober 2002 in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der im September 2010 abgewiesen wurde. Unter einem wurde ihr als subsidiär Schutzberechtigte eine befristete Aufenthaltsberechtigung zunächst gemäß § 8 Abs. 3 Asylgesetz 1997 erteilt und diese in der Folge wiederholt - zuletzt bis zum 29. Juni 2016 - gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) verlängert.

1.2. Unstrittig ist weiters, dass die nicht verheiratete Mitbeteiligte eine langjährige nichteheliche Lebensgemeinschaft mit einem Staatsangehörigen von Sierra Leone (im Folgenden: Lebensgefährte) unterhält und mit diesem auch drei gemeinsame Kinder (geboren 2008, 2009 und 2015) hat.

2.1. Am 19. November 2015 stellte die Mitbeteiligte den hier gegenständlichen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 12 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2.2. Die belangte Behörde wies den Antrag mit Bescheid vom 24. März 2016 mangels Erfüllung der Voraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG ab. Sie führte dazu aus, die Mitbeteiligte lebe mit ihrem Lebensgefährten und den Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Wegen einer Augenerkrankung sei sie gemäß § 14b Abs. 3 Z 2 NAG (in der Fassung vor BGBl. I Nr. 68/2017) von der Verpflichtung zur Erfüllung des Moduls 2 der Integrationsvereinbarung ausgenommen. Was die erforderlichen Unterhaltsmittel betreffe, so kämen die Richtsätze des § 293 ASVG für zwei Erwachsene (zweimal € 882,78) und drei Kinder (dreimal € 136,21), zusammen € 2.174,19, zur Anwendung. Dem stehe das Einkommen des Lebensgefährten (€ 1.505,--) zuzüglich Familienbeihilfe (€ 516,--) und Kinderbetreuungsgeld (€ 443,--), abzüglich Mietkosten (€ 880,--) verringert um den Wert der freien Station (€ 282,09), entgegen, was € 1.860,08 (gemeint wohl: € 1.866,08) ergebe. Die verfügbaren Mittel unterschritten daher den Unterhaltsbedarf um € 314,11 (gemeint wohl: € 308,11). Da an die Familie der Mitbeteiligten zudem von 2011 bis März 2016 eine Mindestsicherung von € 43.346,51 ausbezahlt worden sei, könne der Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestritten werden.

2.3. Die Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem Vorbringen, sie habe wegen ihrer Augenerkrankung nur erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt und könne auch wegen der Kinderbetreuung nicht zur Aufnahme einer Arbeit verhalten werden. Es sei ihr jedenfalls gemäß § 11 Abs. 3 NAG iVm. Art. 8 EMRK ein Aufenthaltstitel zu erteilen, weil sie bereits seit 2002 in Österreich aufhältig und sehr gut integriert sei, mit ihrem Lebensgefährten und den Kindern im gemeinsamen Haushalt lebe, an einer schweren Augenerkrankung leide und auf Unterstützung angewiesen sei, keine Bindungen mehr zum Heimatstaat habe, strafrechtlich unbescholten sei und auch keine Verwaltungsvorschriften verletzt habe. Im Übrigen habe die belangte Behörde ihren Lebensgefährten rechtswidrig nicht einem Ehemann gleichgestellt (und deshalb nicht den „Ehegattenrichtsatz“ herangezogen). Wäre dies geschehen, hätte sich der erforderliche Unterhalt auf € 1.732,21 verringert und wäre dieser durch die verfügbaren Mittel gedeckt gewesen.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 18. April 2017 gab das Landesverwaltungsgericht Tirol der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge, indem es (unter anderem) aussprach: „[...] und ist der Beschwerdeführerin [...] der Aufenthaltstitel ‘Daueraufenthalt - EU‘ mit einer Gültigkeit vom 30.03.2017 bis zum 30.03.2022 zu erteilen“.

Das Verwaltungsgericht führte begründend aus, die Voraussetzungen für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 12 NAG seien erfüllt. Die Mitbeteiligte lebe seit dem Jahr 2002 im Bundesgebiet, wobei ihr seit September 2010 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zukomme. Sie sei daher in den letzten fünf Jahren ununterbrochen auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 rechtmäßig aufhältig gewesen. Was die Sprachkenntnisse betreffe, so sei sie auf Grund ihrer Augenerkrankung aus amtsärztlicher Sicht nicht in der Lage, das benötigte B1-Zertifikat zu erbringen, und daher vom Nachweis der Erfüllung des Moduls 2 der Integrationsvereinbarung ausgenommen. Was die erforderlichen Unterhaltsmittel anbelange, so müsse sie im Hinblick auf § 293 ASVG monatlich € 2.341,75 nachweisen, darin enthalten der „Ehegattenrichtsatz“ (€ 1.334,17) und die Richtsätze für drei Kinder (dreimal € 137,30), zuzüglich Wohnungsmiete (€ 880,--) verringert um den Wert der freien Station (€ 284,32). Dem stehe das Familieneinkommen von € 2.800,67 gegenüber, darin enthalten das Einkommen des Lebensgefährten (€ 1.841,51), das Kinderbetreuungsgeld (€ 443,16) und die Familienbeihilfe (€ 516,--), sodass sich ein „Überling“ von € 458,92 ergebe. Folglich könne der Unterhalt aus eigenen Mitteln bestritten werden und seien die Voraussetzungen des 1. Teils des NAG erfüllt. Der bekämpfte Bescheid sei daher aufzuheben und der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. das Fehlen einer solchen Rechtsprechung in den nachstehend näher erörterten Punkten behauptet wird.

Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung der Revision.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist - aus den vom Revisionswerber geltend gemachten (im Folgenden näher erörterten) Gründen - zulässig und auch berechtigt.

6.1. Der Revisionswerber führt aus, das Verwaltungsgericht müsse in einem Fall wie hier zum Ausdruck bringen, dass es selbst den Aufenthaltstitel konstitutiv erteile. Vorliegend lasse der Spruch (auch) die Auslegung zu, das Verwaltungsgericht habe lediglich angeordnet, dass der Aufenthaltstitel durch die belangte Behörde zu erteilen sei. Aber selbst wenn man den Spruch dahin deute, dass das Verwaltungsgericht den Titel konstitutiv erteilen wollte, sei dessen Gültigkeitsdauer zu Unrecht befristet worden, obwohl dem Inhaber eines Titels nach § 45 NAG ein unbefristetes Niederlassungsrecht zukomme.

6.2. Wie der Revisionswerber zutreffend hervorhebt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs das Verwaltungsgericht in einem Fall wie hier in der Sache selbst zu entscheiden und daher, wenn es dem Antrag stattgeben will, den beantragten Aufenthaltstitel selbst in konstitutiver Weise zu erteilen (vgl. VwGH 28.5.2015, Ra 2015/22/0001).

Diesen Anforderungen wird der vom Verwaltungsgericht getätigte Ausspruch „ist ... der Aufenthaltstitel ... zu erteilen“ hinreichend gerecht. Es besteht nämlich im Hinblick auf die gewählte Formulierung, vor allem die Verwendung der Gegenwartsform, aber auch die als Auslegungshilfe heranzuziehenden Entscheidungsgründe (vgl. VwGH 21.9.2017, Ra 2016/22/0068, 0069), wo es unter anderem heißt „war ... der begehrte Aufenthaltstitel ... zu erteilen“, kein begründeter Zweifel daran, dass das Verwaltungsgericht den Aufenthaltstitel selbst konstitutiv erteilt hat. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat bereits bei Verwendung einer Formulierung wie der hier im Blick stehenden die konstitutive Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels durch das Verwaltungsgericht ohne Weiteres bejaht (vgl. VwGH 22.2.2018, Ra 2017/22/0125).

6.3. Soweit der Revisionswerber die Befristung des Aufenthaltstitels rügt, ist die Revision hingegen begründet. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt hat, kommt dem Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 NAG nach der Bestimmung des § 20 Abs. 3 NAG ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu; dies unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des dem Aufenthaltstitel entsprechenden Dokuments (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024).

Vorliegend hätte daher das Verwaltungsgericht im Spruch des angefochtenen Erkenntnisses die Gültigkeitsdauer des erteilten Aufenthaltstitels nicht (auf fünf Jahre) befristen dürfen, sondern den Aufenthaltstitel ohne zeitliche Befristung erteilen müssen. Dies ungeachtet des Umstands, dass das entsprechende Dokument (Aufenthaltstitelkarte) mit einer auf fünf Jahre befristeten Gültigkeit auszustellen wäre.

7.1. Der Revisionswerber macht geltend, das Verwaltungsgericht lege der Berechnung der Unterhaltsmittel den „Ehegattenrichtsatz“ des § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG zugrunde, obwohl die Mitbeteiligte nicht verheiratet sei, sondern eine Lebensgemeinschaft führe. Ein nichtehelicher Lebensgefährte sei aber insofern nicht ohne Weiteres einem Ehegatten gleichzuhalten. Aus § 11 Abs. 5 NAG iVm. § 293 ASVG sei vielmehr abzuleiten, dass die Möglichkeit einer - mit dem Zusammenleben von Personen einhergehenden - Kostenersparnis nur bei der Familie „im engsten Sinn“ zu berücksichtigen sei. Der „Ehegattenrichtsatz“ sei folglich nur in Bezug auf im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten heranzuziehen.

7.2. Gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Dies ist gemäß § 11 Abs. 5 NAG dann der Fall, wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm unter Berücksichtigung seiner regelmäßigen Aufwendungen eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und die der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 ASVG entsprechen. Der Nachweis der notwendigen Mittel im Sinn des Vorgesagten kann ferner durch Unterhaltsansprüche erbracht werden.

Das NAG knüpft somit in § 11 Abs. 5 bei der Festlegung der Referenzwerte für die erforderlichen Unterhaltsmittel an das Ausgleichszulagenrecht des ASVG an. Maßgeblich sind jene Beträge, die im § 293 ASVG als zu garantierendes Mindesteinkommen angeführt werden. Heranzuziehen ist der jeweils nach der zugrundeliegenden familiären Situation in Betracht kommende Richtsatz (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/22/0177).

Soweit hier von Bedeutung (auf die sonstigen Richtsätze kommt es nicht an) ist in § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG der „Ehegattenrichtsatz“ für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten oder eingetragene Partner, in § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG hingegen der „Einzelpersonenrichtsatz“ geregelt. Gemäß § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG erhöht sich der jeweilige Richtsatz für jedes Kind, dessen Nettoeinkommen den Richtsatz für einfach verwaiste Kinder bis zur Vollendung des 24. Lebensjahrs nicht erreicht.

7.3. Was nun die Rechtsfrage betrifft, ob in Ansehung eines Antragstellers, der im gemeinsamen Haushalt mit einem nichtehelichen Lebensgefährten lebt, der „Ehegattenrichtsatz“ oder der „Einzelpersonenrichtsatz“ heranzuziehen ist, kann auf die bereits vorliegende höchstgerichtliche Rechtsprechung verwiesen werden:

Demnach vertritt der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass es im Ausgleichszulagenrecht (anders als etwa im Notstandshilferecht) an einer gesetzlichen Grundlage fehlt, dem Ausgleichszulagenwerber das Einkommen des im gemeinsamen Haushalt lebenden Lebensgefährten nach der Art einer zwischen im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten bestehenden „engen Wirtschaftsgemeinschaft“ zuzurechnen (vgl. OGH 22.2.2016, 10 ObS 147/15p; RIS-Justiz RS0120158 mwN). Mit dieser Rechtsprechung stellt der Oberste Gerichtshof auch klar, dass in Bezug auf einen mit einem nichtehelichen Lebensgefährten im gemeinsamen Haushalt lebenden Fremden der „Ehegattenrichtsatz“ nicht zur Anwendung kommt, korrespondiert doch dessen Heranziehung mit der Zurechnung auch des Einkommens des Partners (vgl. in dem Sinn OGH 6.9.2005, 10 ObS 271/03f; zum ‘Korrespondieren‘ auch Pfeil in SV-Komm (233. Lfg.), § 293 Rz 9).

Der Verwaltungsgerichtshof hat ebenso bereits festgehalten, dass § 293 ASVG den „Ehegattenrichtsatz“ nur für gemeinsam lebende Ehegatten vorsieht. Es ist nämlich - so die wesentliche Begründung - selbst wenn ein gemeinsamer Haushalt auch dann zu einer Kostenersparnis führt, wenn er nicht aus Ehepartnern, sondern aus anderen Angehörigen besteht, aus der Regelung des § 11 Abs. 5 NAG iVm. § 293 ASVG die Intention des Gesetzgebers abzuleiten, die Möglichkeit der Kostenersparnis nur bei der „Familie im engsten Sinn“ zu berücksichtigen (vgl. VwGH 18.3.2010, 2008/22/0632; u.a.). Diese (zu volljährigen Kindern, die zu einem zusammenführenden Elternteil nachziehen und mit diesem gemeinsam leben wollen, ergangene) Rechtsprechung ist auch auf nichteheliche Lebensgefährten zu übertragen. Demnach ist auf diese ebenso nicht der „Ehegattenrichtsatz“ anzuwenden, kann doch die zwischen Lebensgefährten bestehende Gemeinschaft - selbst wenn es sich dabei um ein der Ehe nachgebildetes familienrechtsähnliches Verhältnis handelt - schon im Hinblick auf ihre Beschaffenheit als jederzeit lösbare, eine geringere Festigkeit aufweisende und rechtlich nicht gesicherte Beziehung (vgl. etwa OGH 20.4.2020, 3 Ob 35/20y) jedenfalls nicht einer „Familie im engsten Sinn“ wie zwischen gemeinsam lebenden Ehegatten oder eingetragenen Partnern gleichgestellt werden.

7.4. Folglich ist jedoch der Berechnung der gemäß § 11 Abs. 5 NAG iVm. § 293 ASVG erforderlichen Unterhaltsmittel in Bezug auf einen Antragsteller, der - wie hier die Mitbeteiligte - im gemeinsamen Haushalt mit einem nichtehelichen Lebensgefährten lebt, nicht der „Ehegattenrichtsatz“ des § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG, sondern der „Einzelpersonenrichtsatz“ des § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG, zuzüglich Erhöhungssatz für Kinder gemäß § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG zugrunde zu legen.

8.1. Der Revisionswerber macht geltend, das Einkommen des Lebensgefährten sei in einer Konstellation wie hier für die Unterhaltsberechnung gänzlich ohne Bedeutung. Da der Gesetzgeber im Rahmen des § 45 NAG keine Möglichkeit vorgesehen habe, Unterhaltsmittel aus einem vertraglichen Unterhaltsanspruch abzuleiten, käme nur ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch gegen den Lebensgefährten in Betracht. Ein solcher sei aber vorliegend nicht festgestellt und auch nicht behauptet worden.

8.2. Einem Fremden ist - wie schon gesagt - das Einkommen des im gemeinsamen Haushalt lebenden nichtehelichen Lebensgefährten zum Nachweis der erforderlichen Unterhaltsmittel nicht (per se) zuzurechnen. Er hat daher die notwendigen Unterhaltsmittel nach der Regelung des § 11 Abs. 5 NAG durch eigene Einkünfte und/oder einen Unterhaltsanspruch nachzuweisen. Der Unterhaltsanspruch kann wiederum aus einem gesetzlichen (etwa ehe- oder familienrechtlichen) oder vertraglichen Titel herrühren (vgl. VwGH 18.10.2012, 2011/23/0129).

8.3. Vorliegend kann die Mitbeteiligte die erforderlichen Unterhaltsmittel freilich weder durch ein hinreichendes eigenes Einkommen noch durch einen gesetzlichen oder vertraglichen Unterhaltsanspruch nachweisen.

Was das allfällige Bestehen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs betrifft, so weist der Revisionswerber zutreffend darauf hin, dass ein derartiger Anspruch vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt und von der Mitbeteiligten nicht einmal behauptet wurde. Im Übrigen ist ein solcher Anspruch - zumindest nach österreichischem Recht, wobei dessen Anwendbarkeit gemäß § 9 Abs. 3 IPRG zu beurteilen wäre - auch nicht zu sehen (vgl. etwa OGH 6.9.2005, 10 ObS 271/03f, wonach die Lebensgemeinschaft anders als die Ehe keinen Unterhaltsanspruch gegen den nichtehelichen Partner begründet und dieser anders als der Ehepartner nicht gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist; vgl. auch VwGH 28.5.2019, Ra 2019/22/0036).

Was das allfällige Bestehen eines vertraglichen Unterhaltsanspruchs, der durch Beibringung einer Haftungserklärung nachzuweisen ist (vgl. VwGH 17.12.2009, 2009/22/0241), anbelangt, so hat der Verwaltungsgerichtshof mit Blick auf § 11 Abs. 6 NAG bereits festgehalten, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit eines Fremden, seine Unterhaltsmittel aus einem solchen Anspruch abzuleiten, auf Fälle beschränkt hat, in denen dies im Gesetz ausdrücklich für zulässig erklärt bzw. allenfalls sogar verpflichtend angeordnet wurde (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/22/0186). Dies ist im Rahmen des § 45 NAG allerdings nicht erfolgt.

9.1. Zu den vom Verwaltungsgericht in Ansatz gebrachten eigenen Einkünften der Mitbeteiligten (Familienbeihilfe, Kinderbetreuungsgeld) macht der Revisionswerber geltend, das Verwaltungsgericht rechne zu Unrecht die für die Kinder bezogene Familienbeihilfe als verfügbare Unterhaltsmittel zu. Richtiger Weise dürfe eine solche Zurechnung nicht (in voller Höhe) vorgenommen werden.

9.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Einbeziehung der Familienbeihilfe in die Unterhaltsberechnung gemäß § 11 Abs. 5 NAG bereits ausgesprochen, dass der Grundbetrag der Familienbeihilfe zu dem Zweck gewährt wird, einen Beitrag zu den Aufwendungen zu leisten, die mit dem Kindesunterhalt im Allgemeinen verbunden sind, und dass die Familienbeihilfe ausschließlich der Versorgung, Erziehung und Berufsausbildung der Kinder dient (VwGH 25.5.2020, Ra 2019/22/0151). Demnach ist die Familienbeihilfe ausschließlich für jene Person zu verwenden, für die sie bezahlt wird. Es ist daher nicht erlaubt, bei der Prüfung des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel für einen Fremden die für ein Kind gewährte Familienbeihilfe zu berücksichtigen (vgl. eingehend VwGH 29.3.2019, Ra 2018/22/0080; mwN). Diese Überlegungen sollen indes nicht für den im Wege der gemeinsamen Auszahlung mit der Familienbeihilfe zustehenden Kinderabsetzbetrag gelten (vgl. VwGH 22.3.2011, 2007/18/0689).

Weiters ist das Kinderbetreuungsgeld als ein bei der Berechnung der notwendigen Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 5 NAG zu berücksichtigender Einkommensbestandteil zu qualifizieren. Das ist darin begründet, dass die Leistung den Eltern selbst zustehen soll, die bereit sind, ihre Berufstätigkeit im Hinblick auf die Kinderbetreuung einzuschränken oder ganz aufzugeben (vgl. VwGH 18.2.2010, 2009/22/0026).

9.3. Vorliegend kommt daher die Einbeziehung der Familienbeihilfe für die drei minderjährigen Kinder der Mitbeteiligten in die Berechnung der notwendigen Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 5 NAG nicht in Betracht. Indessen begegnet die Zurechnung des Kinderbetreuungsgelds keinen Bedenken, wobei dem auch § 11 Abs. 5 letzter Satz NAG nicht entgegensteht. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits klargestellt (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0106 [dort betreffend Familienbeihilfe]), dass kein Grund für eine Auslegung der genannten Bestimmung dahingehend besteht, in Verfahren über Erstanträge solche sozialen Leistungen (vgl. näher VwGH 29.9.2011, 2011/16/0065) - auf die ein Rechtsanspruch bereits vor der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels bestand - nicht zu berücksichtigen.

10.1. Der Revisionswerber moniert ferner, das Verwaltungsgericht sei nicht darauf eingegangen, dass die Mitbeteiligte zumindest bis zur Bescheiderlassung € 43.346,51 an Mindestsicherung bezogen habe. Es habe sich nicht damit auseinandergesetzt, ob die Mitbeteiligte den Bezug auch nach der Erteilung des Aufenthaltstitels fortzusetzen gedenke. § 11 Abs. 5 NAG stelle darauf ab, dass keine Sozialhilfeleistungen notwendig seien. Das Verwaltungsgericht habe eine diesbezügliche Prognose unterlassen.

10.2. Wie bereits festgehalten wurde, dürfen gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte, was gemäß § 11 Abs. 5 NAG dann der Fall ist, wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ermöglichen und die der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 ASVG entsprechen.

Im Hinblick darauf, dass die Mitbeteiligte in der Vergangenheit Sozialhilfeleistungen im großen Umfang bezogen hat, hätte das Verwaltungsgericht insbesondere auch diesen Umstand in seine Beurteilung einbeziehen müssen. Es hätte im Rahmen seiner vorausschauenden Prognose prüfen müssen, ob während der unbefristeten Geltungsdauer des beantragten Aufenthaltstitels (vgl. § 20 Abs. 3 NAG; VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024) ausreichende Unterhaltsmittel zur Verfügung stehen werden, die eine dauerhafte Lebensführung insbesondere auch ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ermöglichen.

11. Mit Blick auf das fortgesetzte Verfahren ist ferner Folgendes anzumerken:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs darf die Unterschreitung der gemäß § 11 Abs. 5 NAG iVm. § 293 ASVG erforderlichen Unterhaltsmittel nicht ohne Weiteres die Ablehnung des Antrags zur Folge haben. Es ist vielmehr eine konkrete Prüfung der Situation des Antragstellers im jeweiligen Fall dahingehend vorzunehmen, ob der Lebensunterhalt trotz Unterschreitung der vorgesehenen Richtsätze nicht doch gesichert ist (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0024).

Gemäß § 11 Abs. 3 NAG ist der Aufenthaltstitel trotz Nichterfüllung der Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit aber auch dann zu erteilen, wenn dies auf Grund des Art. 8 EMRK geboten ist. Dabei kann (insbesondere) auch eine - wie hier bei der Mitbeteiligten zufolge ihrer schweren Augenerkrankung vorliegende - Behinderung einen im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigenden gewichtigen Umstand darstellen (vgl. VwGH 13.12.2018, Ro 2017/22/0002, mit Bezugnahme auf VfSlg. 20.282/2018). Dass die Mitbeteiligte (bisher) über eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verfügt(e), entbindet das Verwaltungsgericht nicht von der Vornahme einer Prüfung gemäß § 11 Abs. 3 NAG iVm. Art. 8 EMRK (vgl. neuerlich VwGH Ro 2017/22/0002).

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht vor der (allfälligen) Erteilung eines Aufenthaltstitels das Vorliegen sämtlicher Erteilungsvoraussetzungen zu prüfen hat, nicht nur jener, die im behördlichen Verfahren als nicht vorliegend erachtet wurden (vgl. VwGH 28.5.2019, Ra 2018/22/0024).

12. Insgesamt ist daher das angefochtene Erkenntnis in den oben näher erörterten Punkten mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts behaftet. Die Entscheidung war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 20. Mai 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Mitwirkungspflicht Spruch und Begründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2017220083.L00

Im RIS seit

21.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

27.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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