TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/16 W204 2205003-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.02.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


1.) W204 2205010-1/18E
2.) W204 2205006-1/17E
3.) W204 2205007-1/17E
4.) W204 2205008-1/17E
5.) W204 2205003-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX J XXXX , geb. XXXX 1976, StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018, Zl. 1099950307 - 152028044, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

XXXX J XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von B XXXX XXXX , geb. XXXX .1982, StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018, Zl. 1099950808 – 152028079, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

B XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von F XXXX XXXX , geb. XXXX 2002, StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018, Zl. 1099951206 - 152028109, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

F XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von M XXXX XXXX , geb. XXXX 2005 alias XXXX 2004, StA. Afghanistan, vertreten durch den Vater XXXX J XXXX , geb. XXXX 1976, dieser vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018, Zl. 1077154710 - 150821171, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

M XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

5.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX XXXX , geb. XXXX 2007, StA. Afghanistan, vertreten durch den Vater XXXX J XXXX , geb. XXXX 1976, dieser vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018, Zl. 1099951609 - 152028117, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

A XXXX XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf (12) Monaten ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III., V. und VI. wird stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer zu 4.) (im Folgenden: BF4), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 09.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Am darauffolgenden Tag wurde der BF4 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich niederschriftlich erstbefragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er habe im Iran gelebt und sei dort diskriminiert worden.

I.3. Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet stellten die Beschwerdeführer zu 1.) bis 3.) und 5.) (im Folgenden: BF1, BF2, BF3 und BF5), die Eltern und Geschwister des BF4, am 18.12.2015 ihrerseits Anträge auf internationalen Schutz.

I.4. Im Rahmen ihrer am darauffolgenden Tag stattfindenden niederschriftlichen Erstbefragung führten der BF1 und die BF2 zu ihren Fluchtgründen an, der BF1 habe mit den „Amerikanern“ zusammengearbeitet und sei deswegen von den Taliban bedroht worden.

I.5. Am 17.01.2018 wurden der BF1, die BF2 und der BF4 von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und einer Vertrauensperson – der BF4 zusätzlich in Anwesenheit des BF1 als gesetzlichem Vertreter – niederschriftlich einvernommen. Die BF wurden dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab der BF1 im Wesentlichen an, er habe mit den „Amerikanern“ gemeinsam Mädchenschulen gebaut und sei deswegen von den Taliban bedroht worden. Letztlich sei ein Attentat auf ihn verübt worden. Die BF2 gab ergänzend an, dass während des Krankenhausaufenthalts des BF1 die Taliban in ihrem Haus in Kabul nach dem BF1 gesucht hätten.

I.6. Am 07.02.2018 nahm der BF1 Stellung zu den in der Einvernahme übergebenen Länderinformationen und führte aus, es sei ihm aufgrund seines glaubhaften Vorbringens Asyl zu gewähren.

I.7. Am 04.07.2018 wurde die BF3 von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des BFA in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, einer Vertrauensperson und ihrer Mutter als gesetzlicher Vertreterin niederschriftlich einvernommen. Die BF wurde dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF3 bewogen, ihre Heimat zu verlassen, verwies sie im Wesentlichen auf den Fluchtgrund ihres Vaters und gab an, dass auch sie deswegen bedroht sei. Außerdem habe sie als Mädchen keine Rechte und könne keine Schule besuchen.

I.8. Am 16.07.2018 nahm die BF3 Stellung zu den ihr übergebenen Informationen zur Lage der Frauen in Afghanistan und bestritt diese.

I.9. Am 19.07.2018 nahmen die BF Stellung zu den ihnen zuvor übermittelten aktuellen Länderinformationen und führten mit Verweis auf ein Gutachten in einem deutschen Verfahren aus, dass ihnen aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei.

I.10. Mit den im jeweiligen Rubrum genannten Bescheiden, den BF am 08.08.2018 durch Hinterlegung zugestellt, wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).

Dazu führte das BFA mit näherer Begründung aus, die BF hätten ihr Vorbringen nicht glaubhaft machen können. Die weiblichen BF seien auch nicht „westlich“ orientiert, sodass ihnen der Status der Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Den BF sei eine Rückkehr in ihre Heimatprovinz möglich, weil sie von Verwandten unterstützt werden könnten. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen sei auch kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG zu erteilen. Nach Durchführung einer Interessensabwägung kam das BFA zum Schluss, dass die öffentlichen die privaten Interessen überwiegen, und erließ eine Rückkehrentscheidung.

I.11. Mit Verfahrensanordnungen vom 31.07.2018 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.12. Gegen die unter I.10. genannten Bescheide richtet sich die Beschwerde vom 28.08.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Es wurde beantragt, den BF den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung plus vorlägen, oder den Bescheid zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

In der Beschwerde wurde die Beweiswürdigung des BFA bekämpft und bemängelt, dass das BFA unvollständige und teils veraltete Länderinformationen verwendet habe. Hätte es auch die in der Beschwerde auszugsweise zitierten Berichte beachtet, hätte es den BF zumindest subsidiären Schutz gewährt.

I.13. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 05.09.2018 vorgelegt.

I.14. Am 21.06.2019 wurde ein Abschlussbericht den BF5 betreffend vorgelegt, wonach dieser der Körperverletzung verdächtig sei.

I.15. Am 10.09.2019 legten die BF Integrationsunterlagen vor.

I.16. Am 28.11.2019 gaben der im Spruch genannte Vertreter seine Bevollmächtigung und am 07.02.2020 der bisherige Vertreter die Auflösung seines Vollmachtverhältnisses bekannt.

I.17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.07.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihr Vertreter teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an einer Verhandlung. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

I.18. Am 30.07.2020 erstatteten die BF eine Stellungnahme zum Verhandlungsprotokoll, zur gesundheitlichen Situation der BF2 und zur „westlichen“ Orientierung der weiblichen BF.

I.19. Am 22.10.2020 wurde ein Unterstützungsschreiben vorgelegt.

I.20. Am 18.12.2020 wurden den BF aktuelle Länderinformationen mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt, wovon die BF keinen Gebrauch machten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in die die BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakte des BFA, insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung der BF im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 16.07.2020;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den BF vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen;

-        Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

II. Feststellungen:

II.1. Zu den BF:

Die Identität der BF steht nicht fest, sie führen den im jeweiligen Rubrum angeführten Namen und das jeweilige Geburtsdatum. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitische Moslems. Ihre Muttersprache ist Dari, das sie in Wort und Schrift beherrschen. Außerdem beherrschen sie Farsi.

Der BF1 und die BF2 sind miteinander verheiratet. Die BF3 bis BF5 sind deren Kinder.

Der BF1 wurde in Kabul geboren und ist im Alter von fünf bis sechs Monaten in den Iran gezogen. Dort wuchs er bis zum Jahr 2002 bei seinen Eltern, seinen Brüdern und seinen Schwestern auf. Er besuchte dort zumindest neun Jahre lang die Schule. Der BF1 arbeitete im Iran mit seinem Vater auf Baustellen und wurde schließlich Polier. Von 2002 bis 2010 lebte der BF1 mit seiner Familie in Kabul im Stadtteil D XXXX in einem Eigentumshaus. Auch in Afghanistan arbeitete der BF1 als Polier einer Firma, die von einem US-Amerikaner geführt wurde und teils Aufträge der ISAF ausführte. Von 2010 bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2015 lebte der BF1 mit seiner Familie wieder im Iran, wo der BF1 erneut als Polier tätig war. Der BF1 wurde seit 2010 nicht nach Afghanistan abgeschoben und kam nicht in ein Gefängnis der Taliban. Der BF1 war durch seine Tätigkeit in der Lage, die Lebenserhaltungskosten der gesamten Familie zu begleichen.

Die BF2 wurde im Iran geboren und lebte dort bis zu ihrer Hochzeit im Jahr 2000 mit dem BF1 bei ihren Eltern, ihren vier Schwestern und ihrem Bruder. Die BF2 besuchte im Iran fünf Jahre lang die Schule. Seit ihrer Hochzeit lebte die BF2 bei ihrem Mann, dem BF1, und kehrte mit diesem auch nach Afghanistan zurück. Sie erledigte in Kabul Einkäufe selbstständig und empfing Besuche von Nachbarn. Nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan in den Iran arbeitete die BF2 drei Jahre lang als Friseurin. Ansonsten war die BF2 Hausfrau.

Die BF3 ist im Iran geboren und bei ihrer Familie aufgewachsen. Sie hat in Kabul und im Iran jeweils drei Jahre lang eine Schule besucht. Sie hat bisher nicht gearbeitet.

Der BF4 ist in Ghazni auf die Welt gekommen, wo die Familie einen Freund hatte. Der BF4 hat zwei Jahre in Kabul und drei Jahre im Iran eine Schule besucht.

Der BF5 ist in Kabul geboren und bei seiner Familie aufgewachsen.

Die Familien des BF1 und der BF2 stammen ursprünglich aus Daikundi und waren dort Eigentümer mehrerer Grundstücke.

Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF1 und die BF3 bis BF5 sind gesund, wobei der BF4 eine leichte Beinlängendifferenz hat, die ihm allerdings keine Probleme bereitet.

Die BF2 gehört einer Covid-19-Risikogruppe an. Sie leidet an einer seltenen, schweren und bisher therapieresistenten Form der Polyarthritis und erhält bereits derzeit eine immunsuppressive Therapie. Eine weitere Therapie mit Rituximab ist geplant. Dabei handelt es sich um eine Biologikatherapie. Die BF2 kann auch im Heimatland oder in den Nachbarländern Iran und Pakistan, in denen teils enge Familienangehörige leben, behandelt werden und die notwendigen Medikamente in Afghanistan erhalten oder aber aus den Nachbarländern beziehen.

Alle BF sind ihrem Alter entsprechend arbeitsfähig.

II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Die BF sind in Afghanistan wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und ihrer Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der BF1 wurde nicht aufgrund der Tätigkeit des Baus einer Mädchenschule gemeinsam mit den „Amerikanern“ von den Taliban bedroht oder angeschossen. Das Haus der Familie in Kabul wurde nicht nach dem BF1 durchsucht.

Die BF2 besuchte im Bundesgebiet mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Sie hat eine Integrationsprüfung auf B1-Niveau nicht bestanden, allerdings durchwegs A2-Leistungen erbracht. Sie hat das „ÖSD Zertifikat A2“ im Juli 2017 bestanden. Die BF2 trägt zumeist kein Kopftuch. Sie besuchte einen Schwimmkurs sowie einen Werte- und Orientierungskurs. In einem interkulturellen Begegnungszentrum hat sie mehrmals bei Veranstaltungen gemeinsam mit ihrem Mann ehrenamtlich mitgeholfen. Im Begegnungszentrum besuchte sie außerdem einen Frauentreff, ein Sprachcafé und einen Yogakurs. Sie verbringt ihre Freizeit teils mit Freundinnen aus den besuchten Kursen, im Wesentlichen aber mit ihrer Familie. Die BF2 hat einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag über 20 Stunden pro Woche.

Die volljährige BF3 hat mehrere Deutschkurse besucht. Sie bestand im Juni 2019 die Integrationsprüfung des ÖIF auf B1-Niveau. Sie besuchte eine Neue Mittelschule. Derzeit besucht sie eine HBLW, in deren Rahmen sie ein Pflichtpraktikum absolvierte. Die BF3 trägt zumeist kein Kopftuch. Sie geht schwimmen und verbringt ihre Freizeit mit ihren Freundinnen aus der Schule und ihrer Familie. Sie geht abends nicht fort. Sie hatte bislang keine Beziehung und lebt nach wie vor mit ihrer Familie im Haushalt. Sie hat in Österreich Gitarrenunterricht besucht und betätigte sich in einem Chor und bei Tanzveranstaltungen.

Die weiblichen BF haben während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wären, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebten.

II.3. Zum (Privat-)Leben der BF in Österreich:

Die BF reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein. Der BF4 hält sich seit zumindest dem 09.07.2015, die übrigen BF seit dem 18.12.2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom jeweils selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend aufhältig.

Der BF1 besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Er hat das „ÖSD Zertifikat A2“ im Juli 2017 bestanden. Der BF1 hat sich im selben Verein wie seine Frau und in seiner früheren Wohngemeinde ehrenamtlich beschäftigt. Er hat einen Werte- und Orientierungskurs erfolgreich absolviert. Der BF1 hat in Österreich den Führerschein erhalten. Er hat einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag als Hilfsarbeiter abgeschlossen.

Der BF4 und der BF5 besuchen öffentliche Schulen und sind in ihrer Klassengemeinschaft gut integriert und haben etwa auch im Chor und der BF4 auch in der Jazztanzgruppe der Schule mitgewirkt. Der BF4 und der BF5 waren ehrenamtlich in ihrer früheren Wohngemeinde tätig. BF4 und BF5 besuchten außerdem die Musikschule und lernten Tenorhorn beziehungsweise Trompete. Sie waren in einem Jugendorchester. Sie sind Mitglied im Fußballverein. Der BF4 besuchte im Schuljahr 2019/20 eine Höhere Technische Bundeslehranstalt und wurde in Deutsch positiv beurteilt. Der BF5 besucht eine Neue Mittelschule und wurde im Schuljahr 2019/2020 in Deutsch positiv beurteilt.

Die BF sind gut in ihrer Wohngemeinde integriert und unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu dort wohnhaften Familien. Der BF4 und der BF5 sind auch in ihren Klassengemeinschaften gut integriert und haben Freundschaften zu den Klassenkameraden geschlossen.

Vier Brüder des BF1 leben mit ihren Familien im Bundesgebiet. Diese befinden sich teils in einem Verfahren auf internationalen Schutz. Es besteht zu ihnen ein loser Besuchskontakt, jedoch kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis.

Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Sie sind strafrechtlich unbescholten. Gegen den BF5 bestand der Verdacht der Körperverletzung, es wurde jedoch aufgrund seines Alters von einer Verfolgung abgesehen.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Das Eigentumshaus der BF in Kabul wurde anlässlich ihrer Ausreise vom Bruder des BF1 unter dem Marktpreis verkauft. Den Erlös des Hausverkaufs verwendeten die BF zur Bestreitung des Lebensunterhalts im Iran und zur Begleichung der Fluchtkosten.

Der Vater des BF1 ist verstorben. Die Mutter des BF1 lebt in Kabul in ihrem Eigentumshaus. Sie wird vom Bruder des BF1 unterstützt. Dieser Bruder des BF1 lebt in der Provinz Mazar-e Sharif. Er hat drei Töchter und einen Sohn, die allesamt noch nicht verheiratet sind und für deren Lebensunterhalt er aufkommen muss. Der Bruder arbeitet – wie früher auch der BF1 –als Polier. Er hat ein etwa 90 m² großes Haus mit einem 200m² großen Garten. Er besitzt keine landwirtschaftlichen Grundstücke. Eine Schwester des BF1 lebt mit ihrer Familie im Iran. Deren Mann arbeitet im Büro einer Firma im Bereich der Verwaltung. Eine (Halb-)Schwester des BF1 lebt in Kabul. Deren Mann arbeitet, sie selbst ist Hausfrau und kümmert sich um ihre zwei oder drei Kinder. Vier Brüder des BF1 leben mit ihren Familien in Österreich. Diese befinden sich teils in einem Verfahren auf internationalen Schutz. Der BF1 hat Kontakt zu seiner Mutter. Zu seinem Bruder in Mazar-e Sharif besteht derzeit kein Kontakt. Der BF1 hat aber die Möglichkeit, Kontakt zu ihm herzustellen. Die Cousins des BF1 leben bis auf einen, der in Österreich lebt, im Iran.

Die Eltern, die vier Schwestern und ein Bruder der BF2 leben im Iran. Die Geschwister der BF2 sind allesamt verheiratet und haben Kinder. Den Angehörigen im Iran geht es gut. Die Eltern arbeiten als Hausmeister, die anderen Angehörigen sind Arbeiter. Die Eltern lebten zuvor in der Provinz Mazar-e Sharif im C XXXX . Sie haben ihr dortiges Haus zurückgelassen, ohne es zu verkaufen. Die BF2 hat Kontakt zu ihren Angehörigen.

Die BF können bei einer Ansiedlung in Afghanistan, insbesondere bei einer Rückkehr in ihre Heimatstadt Kabul oder nach Mazar-e Sharif, von ihren Angehörigen finanziell zumindest grundlegend wie auch organisatorisch unterstützt werden. Sie können auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Die BF können bei einer Rückkehr und Ansiedlung in Kabul bei der Mutter des BF1 zumindest vorübergehend wohnen. In Mazar-e Sharif können sie beim Bruder des BF1 zumindest vorübergehend wohnen beziehungsweise kann ihnen dieser eine Unterkunft noch vor ihrer Rückkehr organisieren. Dadurch stehen den BF mit der Ankunft eine sofortige Unterkunft, grundlegende Versorgung (Trinkwasser, sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung) und Lebensgrundlagen zur Verfügung. Dem BF1 ist es durch seine Kontakte am Arbeitsmarkt in Kabul bzw. durch die Kontakte seines Bruders in Mazar-e Sharif möglich, sich am jeweiligen Arbeitsmarkt (wieder) einzugliedern und einen Beruf auszuüben. Ebenso können die BF3 und eingeschränkt die BF2 sowie der BF4 durch eine eigene Arbeitstätigkeit zum Einkommen der Familie beitragen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF in Kabul oder Mazar-e Sharif einer realen Gefahr des Todes oder der Folter beziehungsweise der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt wären oder die bloße Anwesenheit in Kabul oder Mazar-e Sharif sie wegen der dortigen Lage einer integritäts- oder lebensbedrohlichen Situation aussetzen würde. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Kabul oder Mazar-e Sharif nicht im Stande wären, für ein ausreichendes Auskommen zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse zu sorgen. Sie laufen nicht Gefahr, in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Den minderjährigen Kindern ist es in Kabul und Mazar-e Sharif möglich, die Schule zu besuchen. Es wäre den BF möglich, ein Leben wie ihre Landsleute zu führen.

Die BF sind mit der Situation in Kabul und Mazar-e Sharif vertraut. Sie können mit der dortigen Situation auch durch die dort lebenden Angehörigen des BF1 vertraut gemacht werden. Den minderjährigen BF droht dort keine reale Gefahr einer Gewalt durch die Familie oder in der Schule.

II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB);

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und

-        Ecoi.net-Themedossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).

II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012 (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).

II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel 3).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).

II.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).

Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos (LIB, Kapitel 23).

Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patienten in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren (LIB, Kapitel 23).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23). Die Einwohner Kabuls, auch die Frauen, profitieren von einem einfacheren Zugang zu medizinischen Einrichtungen als in anderen Städten (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.).

Gemäß afghanischer Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultieren in den Dörfern oder Distrikten allerdings unter Umständen auch Ärzte. Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit wirken sich auch auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus: In Gebieten unter Talibankontrolle ist es für Frauen unter Umständen nicht möglich, zum Arzt zu gelangen (LIB, Kapitel 23).

In einem Fact-Finding-Mission-Report legte FIS dar, dass Gesundheitseinrichtungen häufig Probleme mit der Beschaffung von Medikamenten haben. Ebenso war die Qualität der Medizin ein Thema. Es waren jedoch Medikamente sowohl von guter als auch von schlechter Qualität vorhanden. Die, die es sich leisten können, können Medikamente guter Qualität kaufen, während die, die dazu nicht in der Lage sind, auf Medikamente von schlechter Qualität beschränkt sind. Der Zugang zu qualitativ hochwertigen Medikamenten kann nicht immer garantiert werden. Laut einem Fact-Sheet des BAMF, IOM und ZIRF-Counselling aus dem Jahr 2017 ist jede Art von Medikamenten auf dem afghanischen Markt erhältlich. Die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Herstellern. Die Verfügbarkeit von Medikamenten und medizinischen Geräten ist aufgrund von Unsicherheit, Unzulänglichkeit von Straßen und Unterbrechung von Elektrizität oder temperaturabhängigen Lieferketten begrenzt. Oft gibt es keine lebensrettenden Arzneimittel, auch in überweisenden Krankenhäusern. Erforderliche Medikamente werden manchmal nicht rechtzeitig an Krankenhäuser geliefert, was eine vorübergehende Medikamentenknappheit schafft. In solchen Fällen werden Medikamente nur in Notfällen eingesetzt. Die übrigen Patienten müssen sie in privaten Apotheken kaufen (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.):

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel 23.1).

II.5.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).

II.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).

Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul getrieben. Wichtige Merkmale der Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, sie sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten. Die Lage der Hazara, die während der Taliban –Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt und teils sozial diskriminiert. Sie neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansicht dazu, liberal zu sein. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 18.3.).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 18.3.).

Hazara waren im Jahr 2019 Angriffsziel des ISKP. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 18.3.).

II.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen, dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungfällen (LIB, Kapitel 17.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1).

II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).

II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschott

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten