TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/23 W178 2199868-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.02.2021
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Entscheidungsdatum

23.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W178 2199868-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Drin Maria PARZER als Einzelrichterin über die Beschwerde des Herrn XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Wien, vom 04.06.2018, Zl. 1125268403-161077923, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.06.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Herr XXXX (in der Folge: Beschwerdeführer oder Bf), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste unter Umgehung der Einreisevorschriften in Österreich ein und stellte am 04.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Die Erstbefragung fand am 04.08.2016 brachte er als Fluchtgrund im Wesentlichen vor, dass sein Vater Polizeibeamter und seine ebenso geflüchtete Mutter Schuldirektorin sowie Direktorin eines Fernsehsenders seien und sie dadurch Probleme mit den Taliban hätten. Er und seine Familie würden mit dem Tod bedroht, erhielten Drohbriefe und würden angerufen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er um sein Leben.

3.       Die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde oder BFA) fand am 05.02.2018 statt. In dieser bekräftigte und konkretisierte er seinen in der Erstbefragung angegebenen Fluchtgrund. So sei seine Familie einmal im Auto von den Taliban mit den Raketen beschossen worden und habe nur knapp überlebt. Er selbst sei in seiner Kindheit in Baghlan regelmäßig von den Taliban geschlagen worden. Sein Vater habe mit der NATO kooperiert und regelmäßig Drohanrufe der Taliban erhalten. Seine Mutter habe sich immer für eine Weiterentwicklung des Schulbildungssystems in Afghanistan eingesetzt und in der Schule Drohbriefe der Taliban erhalten. Er selbst sei einmal nur knapp einem Entführungsversuch entkommen und habe mit seiner Mutter gemeinsam einen Fernsehkanal betreiben wollen. Dies sei aber aufgrund ihrer Gegnerschaft zu den Taliban nicht möglich gewesen. Ausschlaggebend für die Flucht des Bf sei schließlich ein Anschlag in der Nähe des Kabuler Flughafens gewesen, dem er nur knapp nicht zum Opfer gefallen sei.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.06.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

5.       Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang. Der Bescheid sei infolge mangelhafter Beweiswürdigung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Ergebnis gekommen sei, mit Rechtswidrigkeit belastet. Insbesondere sei das Ermittlungsverfahren bezüglich des Vorliegens einer IFA mangelhaft und unvollständig durchgeführt worden und es seien mangelhafte Länderfeststellungen getroffen worden. Hinsichtlich der Beweiswürdigung sei eine Auseinandersetzung mit mehreren Beweismitteln gänzlich unterblieben und es seien aktuelle, fallbezogene Länderberichte nicht ausreichend berücksichtigt worden. Eine unrichtige rechtliche Beurteilung liege aufgrund der verkannten Zugehörigkeit des Bf zur sozialen Gruppe der Familie vor, durch die er einer Verfolgung durch private Akteure ausgesetzt sei, dabei keinen ausreichenden Schutz von den afghanischen Sicherheitsbehörden erhalte, und damit im Ergebnis einen Asylgrund aufweise. Diesbezüglich sei auch seine politische Gesinnung zu erwähnen, die eine Verfolgung bewirke. Darüber hinaus liege keine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat, Mazar-e-Sharif oder Kabul vor, weil diese unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des BF unzumutbar seien. Letztlich wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt sowie mitgeteilt, dass der Vater des BF zwischenzeitlich bei einem Angriff der Taliban im April 2018 getötet worden sei.

6.       Mit Bescheid vom 17.04.2019 änderte das BFA den Bescheid vom 04.06.2018 ab. Es hob im ersten Absatz die Spruchpunkte IV. bis VI. des Bescheids vom 04.06.2018 von Amts wegen auf. Sodann erließ es neuerlich eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I.) und stellte erneut fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt II.) Darüber hinaus verhängte das BFA ein auf die Dauer von 10 Jahres befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt III.), erkannte der Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.), gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt V.) und stellte fest, dass der Bf sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 02.10.2019 verloren habe.

7.       Der Beschwerdeführer erhob auch gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.

8.       Mit Teilerkenntnis vom 06.06.2019 erkannte das BVwG der Beschwerde gegen den Bescheid vom 17.04.2019 die aufschiebende Wirkung zu.

9.       Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.06.2019 zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seiner Rechtsberaterin sowie eines Vertreters der belangten Behörde neuerlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Er bekräftigte im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und legte ergänzen Videos und Bildmaterial vor, die die Angriffe auf seine Familie belegen.

10.      Über Aufforderung durch das BVwG hat die Bewährungshilfe Neustart des BF am 28.01.2020 eine Stellungnahme (Sozialbericht der Bewährungshilfe) eingebracht; der Bf hat mit 09.01.2010 und 11.12.2020 eine Stellungnahme eingebracht.

11.       Mit Erkenntnis vom 13.01.2021, Zl. 2199868-2/21E hat das BVwG den Bescheid des BFA vom 17.04.2019 teilweise behoben, der Abspruch nach § 13 Abs. 3 AsylG wurde bestätigt.

12.      Das BG Innere Stadt hat das Straferkenntnis vom zu 11 U 46/20i vom29.09.2020 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans, am XXXX , Provinz Badashan geboren; er hat mit seiner Familie in Pole Khomre, Provinz Baglan, ab 2013 in Kabul gelebt. Seine Muttersprache ist Dari. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und hat ein sunnitisches Religionsbekenntnis. Er ist gesund, kinderlos und ledig.

Sein Vater ist an den Folgen eines Anschlags im April 2018 gestorben, er war ein hoher Beamter des Militärs. Seine Mutter war Schuldirektorin und hat in den USA eine Fortbildung absolviert. Der Vater wurde wegen seiner Tätigkeit für die Polizei von 2005 bis 2018 bedroht.

Der Vater hat mit den ausländischen Truppen zusammengearbeitet.

Beide Elternteile waren mindestens zweimal auf Straßen von Angriffen der Aufständischen betroffen. Der Bf wollte mit seiner Mutter eine Fernsehstation gründen, dazu ist es nicht gekommen.

Die Mutter hat im Dezember 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, ebenso Geschwister. Sie ist nach der Verletzung des Vaters nach Kabul zurückgekehrt.

Eine Schwester lebte damals in Mazar-e Sharif, nunmehr lebt sie in der Türkei, eine jüngere Schwester blieb mit dem Vater in Kabul mit dem Vater in Kabul, als die Mutter mit Geschwistern ausreiste.

Seine Mutter, seine beiden Brüder und drei seiner vier Schwestern leben in der Stadt Odessa in der Ukraine (Stand lt. Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 24.06.2019) Seine ältere Schwester lebt mit ihrem Mann in der Türkei. Es besteht kein Kontakt zu den (teilweise verstorbenen) Großeltern.

Der Bf hat bis zur 12. Klasse die Schule in Afghanistan besucht, die Matura abgelegt, anschließend ein Jahr an der Universität in Baglan studiert und schließlich ein Diplom in Bauingenieurwesen an einer Universität in Tadschikistan erworben. Er war mit Unterbrechungen von 2010 bis 2015 in Tadschikistan. Nach seiner Rückkehr nach Afghanistan flüchtete er im Mai 2016 aus Afghanistan.

Der Bf hat in Österreich Kontakt zu einem entfernten Verwandten (dem Enkelsohn der Tante väterlicherseits seiner Mutter). Er hält Kontakt zu dem Verein „Start with a Friend Austria“ und hat über diesen österreichische Freunde und Freundinnen kennen gelernt. Darüber hinaus hat er Freunde aus anderen Ländern, z.B. Ungarn. Er hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht, zuletzt auf dem Niveau A2.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12.06.2018 wurde der BF wegen Raufhandels gemäß § 91 Abs 1 2. Fall StGB zunächst zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten und einer Probezeit von 3 Jahre verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25.06.2018 wurde der BF aufgrund versuchter, absichtlicher schwerer Körperverletzung zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe in der Dauer von 3 Jahren verurteilt. Mildernd wertete den bisherigen ordentlichen Lebenswandel und die Tatsache, dass es beim Versuch geblieben ist, erschwerdend die Begehung mehrerer strafbarer Handlungen – unter Berücksichtigung des Urteils des LG für Strafsachen Wien vom 12.06.2018, AZ 75 Hv 41/18z, sowie die Ausnutzung der Wehrlosigkeit des Opfers.

Diese Freiheitsstrafe wurde mit Urteil des Oberlandesgericht Wien vom 13.02.2019 auf 2 Jahre und 4 Monate reduziert. Das OLG Wien hat mit Urteil vom 13.02.2019 die verhängte Strafe auf 2 Jahre und 4 Monate reduziert; das Gericht begründete diese Entscheidung damit, dass der Bf in einer zur Wahrheitsfindung beitragenden Weise (tatsachen)-geständig gezeigt habe. Auch seien die Strafzumessungsgründe nicht angemessen gewichtet worden. Der Umstand des bisherigen ordentlichen Lebenswandels und die Tatsache, dass es beim Versuch geblieben sei, sei eine höhere Bedeutung beizumessen.

Er wurde nach Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25.03.2019 am 21.04.2019 nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haft bedingt entlassen.

Mit 30. März 2020 wurde von der Staatsanwaltschaft Wien Anklage gegen ihn wegen vorsätzlicher Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB erhoben.

Mit Urteil des BG Innere Stadt 11 U 46/20 i, vom wurde er wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem JAHR verurteilt. Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Im genannten Urteil wir festgehalten, dass der Angeklagte mit Vorsatz nach § 5 Abs. 1 2. Fall StGB handelt, er wollte die Opfer C. und A. schlagen und treten und dabei war es ihm bewusst und er fand sich damit ab, dass diese dadurch am Körper verletzt werden konnten. Er hatte vollen Tatentschluss und wollte die Opfer verletzten. Das Gericht wertete erschwerend, dass der Angeklagte mehrfach einschlägig vorbestraft ist. Mildernd wirkt sich das nur teilweise reumütige Geständnis des Angeklagten aus.

Zu1.2.Länderinformation: Zur Situation im Herkunftsstaat

1.       LIB, Kapitel 5.4 Zur Sicherheitslage in der Provinz Baghlan

Letzte Änderung: 14.12.2020

Baghlan, das sich im Nordosten Afghanistans befindet, grenzt an die Provinzen Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan (UNOCHA Baghlan 4.2014), und in einem sehr kleinen Abschnitt an Balkh (AIMS o.D.). Baghlan ist in die folgenden 15 Distrikte unterteilt: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch bekannt als Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri und Tala Wa Barfak.

Die Hauptstadt der Provinz ist Pul-i-Khumri (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Baghlan 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Baghlan im Zeitraum 2020-21 auf 1,014.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan (NPS Baghlan o.D.).

Baghlan liegt an der nördlichen Strecke der Ring Road, auch als Highway 1 bekannt. Die Ring Road verbindet die Hauptstadt Kabul über den Salang-Pass mit der nordöstlichen Region Afghanistans und in weiterer Folge dem Norden des Landes mit seiner Hauptstadt Mazar-e Sharif. Bei Pul-i-Khumri zweigt jene Straße ab, welche Richtung Osten nach Kunduz, der regionalen Hauptstadt des Nordostens, und weiter über den Flusshafen von Sher Khan Bandar nach Tadschikistan führt (AAN 30.10.2019). Im September 2020 wurde berichtet, dass die Taliban an Kontrollpunkten in Baghlan Zölle auf den Warentransport zwischen Kabul und Kunduz einhoben (TN 19.9.2020) und im Juli 2020 unterbrachen Kämpfe am Stadtrand von Pul-i-Khumri den Verkehr von und nach Balkh (TN 6.7.2020). Die Sicherheit in Baghlan ist auch bedeutsam für die Energieversorgung Kabuls, da Stromleitungen aus Tadschikistan und Usbekistan durch die Provinz verlaufen. Kämpfe in Baghlan führten wiederholt zu Stromausfällen (KP 25.8.2020; KP 5.5.2020; KP 23.4.2020).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan, es finden immer wieder heftige Kämpfe statt, meist zwischen Taliban und Regierungstruppen (DFK 13.2.2020; vgl. KP 21.6.2020). Die Taliban ließen sich an verschiedenen Orten in der Nähe des Highway 1 und seiner nordöstlichen Abzweigung nach Kunduz nieder und schufen so die Möglichkeit, seine Nutzung bei größeren Angriffsoperationen zu unterbrechen. Dies geschah beispielsweise im September 2019 (AAN 30.10.2019), als die Taliban gleichzeitig Pul-i-Khumri und Kunduz-Stadt angriffen (AAN 11.9.2019; vgl. UNGASC 10.12.2019; AAN 30.10.2019). Weiters wird berichtet, dass der Islamische Staat (IS) in der Provinz eine kleinere Zelle unterhält (VOA 20.3.2020; vgl. TN 12.3.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps (USDOD 1.7.2020; BNA 31.8.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welches von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in der Provinz gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für den Zeitraum 1.1.2019-30.9.2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s.Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 349 zivile Opfer (123 Tote und 226 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Dies entspricht einer Steigerung von 34% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2020). Es kam in Baghlan zu direkten Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen (AT 26.8.2020; UNOCHA 18.8.2020; BAMF 17.8.2020; RFE/RL 6.8.2020; UNOCHA 15.7.2020; UNOCHA 28.6.2020; BAMF 6.4.2020; RFE/RL 30.3.2020; KP 23.1.2020), Talibankämpfer versuchten, Dörfer (AT 26.8.2020) und einen Distrikt zu überrennen (XI 12.9.2020) und griffen Sicherheitsposten der Regierungstruppen an (TN 30.9.2020; NYTM 24.9.2020; NYTM 30.7.2020; NYTM 30.4.2020; AAN 8.4.2020; TN 2.2.2020; AnA 28.1.2020), unter anderem auch in der Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri (NYTM 30.7.2020; TN 18.6.2020). Die Regierungstruppen führten Luftangriffe (AT 26.8.2020; NYTM 30.7.2020; PAJ 22.7.2020) und Räumungsoperationen durch (TN 16.7.2020; TN 1.2.2020) und eroberten im Februar 2020 den Distrikt Gozargah-e-Noor zurück, der sich in den vergangenen fünf Monaten unter Talibankontrolle befunden hatte (TN 1.2.2020). Es kam zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (TN 5.8.2020; NYTM 30.7.2020) auch in der Provinzhauptstadt (TN 19.8.2020b; NYTM 30.7.2020; MENAFN 28.7.2020) -, sowie versuchten Selbstmordanschlägen (UNAMA 7.2020; BNA 29.3.2020; PAJ 2.2.2020).

1.2.2 Aus: LIB, Stand 16.12.2020, S.321 ff., Kap. 24 Rückkehr

Letzte Änderung: 16.12.2020

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).
Von 1.1.2020 bis 12.9.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt - in der Woche vom 6.9.2020 bis 12.9.2020 waren es ca. 21.500 undokumentierte Rückkehrer (UNHCR 17.9.2020). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 (laut AA 775.000) aus Iran und 32.725 (laut AA 46.000) aus Pakistan (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020). Die Anzahl der seit 1.1.2020 bis 31.7.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer aus Iran (53.595) und Pakistan (1.731) beläuft sich auf 55.326 (IOM 29.8.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 24.9.2020) über den Luftweg möglich.

Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 23.9.2020;vgl. Flightradar 24.9.2020). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 23.9.2020).

Seit 12.8.2020 ist der Spin Boldak Grenzübergang an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist Montags und Dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020)

Familie

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder nach Iran, Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018).

Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020; IOM AUT 23.1.2020).

Leistungen

Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land

und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (IOM KBL 30.4.2020; vgl. MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren.

Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020) Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018).

UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt.

Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann

(STDOK 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2020, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 16.7.2020; vgl. IOM KBL 30.4.2020, STDOK 10.2020).

Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 11.3.2020). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.6.2019).

Viele afghanische Rückkehrer werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

Unterstützung

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (STDOK 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs).

Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (STDOK 4.2018; vgl. Asylos 8.2017) Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement.

Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (STDOK 4.2018). Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär

behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 3.2020). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzen. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018).

Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014; vgl. Kandiwal 9.2018).

Die afghanische Regierung hat 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Erste Landstücke wurden identifiziert, die Registrierung von Begünstigten hat begonnen (AA 16.7.2020).

Anmerkung: Ausführlichere Informationen können dem FFM-Bericht Afghanistan 4.2018 entnommen werden.

Unterstützung durch IOM

Die internationale Organisation für Migration (IOM - International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020; STDOK 13.6.2019; STDOK 4.2018).

Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020).

Anmerkungen: Informationen von IOM zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 22.9.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ, können aber aufgrund der COVID-19 Pandemie kurzfristigen Änderungen unterworfen sein (IOM 23.9.2020).

Mit 1.1.2020 startete das durch den AMIF der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierte Reintegrationsprojekt RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich Rückkehrern aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III, ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen.

Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information - in Österreich sowie in Afghanistan - sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessenten an einer unterstützen freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung.

Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des BMI, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die Antragssteller erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das BMI festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellten werden.

Des Weiteren sieht die BMI-Regelung vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020). Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den Interessenten beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojektebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des BMI wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

[Anm.: Es besteht auch die Möglichkeit jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Trennung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrern gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme. (IOM AUT 23.1.2020; vgl. STDOK 14.7.2020)]

Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anm.: Unter Umgehung von Kabul]. Die Reise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt (IOM KBL 26.11.2018). Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Sicherheitskontrolle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal (STDOK 14.7.2020). Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. An den Flughäfen anderer Städte wie Mazare-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Ausnahmeregelung (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM KBL 26.11.2018; IOM AUT 23.1.2020).

RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleichgeblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen.

Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 27.3.2020).

Im Zuge der COVID-19 Pandemie befinden sich IOM-Mitarb eiter in Afghanistan teilweise im Home-Office. Rückkehrer können jedoch weiterhin IOM-Büros kontaktieren, werden jedoch gebeten, persönliche Besuche in IOM-Räumlichkeiten auf ein Minimum zu reduzieren und stattdessen über Telefon oder andere online Tools zu kommunizieren. Virtuelle Beratung wird für Projektteilnehmer sowohl in Afghanistan wie auch in Österreich angeboten (IOM 23.9.2020).

Nach Angaben von IOM kann es bei der Entwicklung der einzelnen Projekte aktuell aufgrund der Pandemie zu Verzögerungen und langsamen Entwicklungen kommen (IOM 23.9.2020). Es wird zudem verstärkt auf Banküberweisungen gesetzt wobei die Projektteilnehmer entsprechend informiert werden. Zur raschen Eröffnung eines Bankkontos muss ein gültiges Identitätsdokument (z.B.: Tazkira) vorgelegt und verschiedene Formulare (je nach Bank oder Vertretern der jeweiligen Communities) ausgefüllt und unterzeichnet werden. Überweisungen innerhalb derselben Bank können in wenigen Minuten durchgeführt werden. Bei anderen Banken kann die Überweisung mehrere Tage in Anspruch nehmen. Ein Bankkonto kann von allen Personen, auch jenen, die keine persönlichen Kontakte in Afghanistan haben, eröffnet werden (IOM 10.2020)

Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen akzeptiert im Rahmen des Restart III Projektes und sind im Zuge des Projektes 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020). Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmern, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM-RADA

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM 5.11.2019).

Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA - Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020, IOM 23.9.2020).

Wohnungen

In Kabul und im Umland sowie in anderen Städten steht eine große Anzahl an Häusern und

Wohnungen zur Verfügung. Die Kosten in Kabul-City sind jedoch höher als in den Vororten

oder in den anderen Provinzen. Private Immobilienhändler in den Städten bieten Informationen zu Mietpreisen für Häuser und Wohnungen an. Die Miete für eine Wohnung liegt zwischen 300 USD und 500 USD. Die Lebenshaltungskosten pro Monat belaufen sich auf bis zu 400 USD (Stand 2019), für jemanden mit gehobenem Lebensstandard. Diese Preise gelten für den zentral gelegenen Teil der Stadt Kabul, wo Einrichtungen und Dienstleistungen wie Sicherheit, Wasserversorgung, Schulen, Kliniken und Elektrizität verfügbar sind. In ländlichen Gebieten können sowohl die Mietkosten, als auch die Lebenshaltungskosten um mehr als 50% sinken. Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher sein (IOM 2019).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2018).Anmerkung: Weitere Informationen zur Unterstützung von Rückkehrern durch IOM können der Analyse Herat 2019 und dem FFM Bericht Afghanistan 2018 sowie der Analyse zum IOM Reintegrationsprojekt Restart III vom 14.7.2020 entnommen werden.

1.2.3: aus LIB, Stand , S. 11 ff. Kap.3. COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: // www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität:

https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.h

tml#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan 11 MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.

Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren.

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen

physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden.

Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.

Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19

Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen.

Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen.

Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult

(IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten.

Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti- Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark

(AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020).

Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt.

Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 14 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020).

Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

1.2.4 Aus UNHCR-Richtlinien, zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender, Stand 30.08.2018

Kap.III/A/1/k, S.55 Risikoprofil k): Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den oben angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere wurden Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und

Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung.

1.2.5 (norweg.) LANDINFO Informationszentrum für Herkunftsländer -Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne, Arbeitsübersetzung BFA (Afghanistan: Taliban’s Intelligence and the intimidation campaign) Bericht von Dr. Antonio Giustozzi für Landinfo, 08/2017

Kap. 4 IDENTIFIZIERUNG VON ZIELPERSONEN ZUR EINSCHÜCHTERUNG UND TÖTUNG

Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Die Taliban-Interviewpartner beschrieben die Aufgaben der Nachrichtendienste wie folgt: Tätigkeit für alle Bereiche der Taliban-Bewegung, Grundlagen für künftige Operationen legen und Gefahren seitens des Feindes abwehren, u.a. durch die Entlarvung feindlicher Informanten. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich daneben benehmen, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach 'fehlverhalten':

a)       Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; dazu gehören beispielsweise

a.       Prof. Rabbani;

b.       der starke Mann von Uruzgan, Jan Mohammad:

c.       Gen. Daud.

b)       Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere

Einrichtungen arbeiten;

c)       Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;

d)       Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

e)       Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;

f)       Kollaborateure der afghanischen Regierung – praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;

g)       Kollaborateure des ausländischen Militärs – praktisch jeder, der den ausländischen

Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;

h)       Auftragnehmer der afghanischen Regierung;

i)       Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;

j)       Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;

k)       Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.

Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).

Anschläge gegen die genannten Personengruppen gibt es seit den Anfängen des Aufstandes (2002). In der Tat war die Ermordung einzelner 'Kollaborateure' 2002-2004, als ihr militärisches Potenzial noch schwach war, die wesentliche Aktivität der Taliban. 2005-2007 begannen die Taliban großangelegte militärische Operationen und die gezielten Morde verloren etwas an Bedeutung. Ab 2007 mussten die Taliban vermehrt Einschüchterungstaktiken anwenden, als sie dem vermehrten militärischen Druck durch die ausländischen Streitkräfte (ISAF) ausgesetzt waren. Eine asymmetrische Taktik sollte die Konsolidierung der Kabuler Regierung verzögern bzw. verhindern.

Mit dem Abzug eines Großteils der ausländischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2014 verschoben sich die Prioritäten für die Taliban wiederum. 2014, als die ausländischen Kräfte kaum noch an den Kampfhandlungen teilnahmen, zeigten die Unterlagen der UNAMA über die zivilen Opfer von gezielten Ermordungen durch die Taliban einen leichten Rückgang um 3,6%, dies war der erste Rückgang seit Beginn der Erhebungen durch die UNAMA 2008. 2015 schnellte die Zahl dann wieder um 10,4% nach oben, 2016 fiel sie stärker als jemals zuvor, um 27,3% (Tabelle 1 unten). Da die Taliban nach übereinstimmenden Berichten zu diesem

Zeitpunkt ihre Operationen ausweiteten und weite Gebiete unter ihre Kontrolle brachten, ist dieser Rückgang sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass sie dazu weniger in der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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